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Donnerstag, den 16. August 1928
97. Jahrgang
Tagesspiegel
Die französische Antwort soll Ende dieser oder anfang« vachster Woche an England abgehen.
Erstminister Baldwin ist aus der Erholung nach London
ziiruckgekehrk und hatte eine Xstündige Besprechung mit den König über die Krisis des Verbands.
Aach dem Evening Standard" wird die britische Re zienma eine Untersuchung der deutschen Zahlungsfäh: ockeil tvrch Sachnerständiae veranlassen, sobald die Antwort aue Paris ejngelaufen ist.-
Der „Rervyork Herold" meldet, daß die Vereinigten Skalen, wenn eine Einladung von London oder Paris an sic ergehe, möglicherweise doch wieder an der Lösung de, LnIMdlgungsfrage sich beteiligen werden. Präsiden! Losiidge sei mit der Entwicklung der englisch-französischer Streitfrage vertraut und lasse sich durch die Botschafter ir Loa-on und Paris aufs genaueste unterrichten.
Baldwins Aufrollung der Rechtsfrage
Me englische Antwortnote und die leider erst recht liüA- merlichen Auszüge aus dem englischen Blaubuch (die Sammlung der mündlichen und schriftlichen diplomatischen Verhandlungen mit anderen Staaten, in England nach der Farbe des Umschlags Blaubuch', in Deutschland Weißbuch, m Frankreich Eelbbuch genannt usw-) haben die Stimmung in Paris weidlich verdorben.
Man kann sich der Einsicht nicht wohl mehr verschließen, daß die Zetten vorbei sind, wo Lloyd George sich mit besonderem Vergnügen von Clemenceou einen Ring durch d>e Nase ziehen ließ, an dem die französische Politik ihn dann simftiglich zur Besetzung von Düsseldorf, Duisburg, Ruhrort und zur Drohung mit dem Einmarsch ins Ruhrgebiet leitete. Es ist der gewaltige Vorzug der englischen Politik, daß sie niemals auf bloßen „rühmlichen Erfolg", sondern immer nur auf den greifbaren Nutzen hinaus wirtschaftet. Daher kann Baldwin sich leisten, was Poincare sich nicht leisten kann: er kann einen begangenen Fehler eingestehen, preisgeben und wieder gutzumachen versuchen. Ganz England hat sich nach und nach davon überzeugt, daß Lloyd George, der ausgezeichnete Kriegs-Diktator, die britische Reichspolitil mich Kriegsschluß elend geleitet hat, im Abendland wie im Morgenland. Lloyd George ist in England zurzeit „unten durch". Dennoch bilden die Dummheiten, die er als Erstminister gemacht hat, für die, englische Politik eine lästige Fessel. Im Orient ist es gelungen, dank der Blindheit, womit dis Franzosen sich in das Ruhrabenteuer stürzten, diese Fessel im Frieden von Lausanne wieder abzustrsisen. Im Abendland wird das so leicht nicht gehen, die Franzosen werden alles daransetzen, England in den Fesseln der Lloyd- George-Poliiik festzuhalten. Da ist es schon eine achtbare Leistung, wenn die neueste englische Note an Frankreich 8<mz offen erklärt: wir sind der Ansicht, daß es für die Besetzung des Ruhrgebiets keinen Rschtstitel im Versailler Vertrag gibt, sind aber bereit, die Streitfrage dem Haager Schiedsgericht zu unterbreiten. Selbstverständlich können wir Deutschen nichts Besseres tun, als uns damit einverstanden erklären. Wir wollen aber auch nicht vergessen was diese englische Schwenkung allererst möglich gcm.aL
hat: sie ist di e erste greifbare Frucht des passiven Widerstands. Wäre es Poincare gelungen, wa- er so heiß erstrebte, hätte Deutschland kapituliert, dann Haiti Edwin das Gutachten der englischen Kronjuristen in de> Tasche behalten und sich mit der Tatsache des französischer Siegs abgefunden. Der Entwurf der englischen Antwortnote, der uns die Einstellung des passiven Wid. 'tandr empfahl, sollte schon der erste Schritt dazu werden. Poin cares Verbohrtheit und die Ausdauer der Ruhrbevölkcrune haben es verhindert, daß der Schritt getan wurde. Stab auf die von Poincare verkündete Tatsache der deutschen Kapitulation stellt sich die englische Politik auf die beiden Tatsachen ein: daß mit Poincare ein Einverständnis nicht zu ^zielen und daß der passive Widerstand nicht zu brechen ist Und sie vollzieht die Neueinstellung, indem sie sich offen zu , Anschauung bekennt: daß die Besetzung des Nuhrgebsttr km^Rechts- und Vertragsbruch ist.
.. ün Frankreich möchte man Cunos Rücktritt natürlich .Einleitung zur Kapitulation deuten, während ei >n Wahrheit die Einleitung zur Festigung des Widerstands stn soll. Je rascher die Welt darüber aufgeklärt wird, um a racher wird auch die englische Note ihre Wirkung tun E'" Festigung des deutschen Widerstands ist die Voraus ech>ng dieser Wirkung. Zusammenbruch des deutscher Eiderstands würde Baldwin ins Unrecht setzen und Poin größten Triumph seines Lebens verhelfen. Ei "ann nicht nötig, auf den englischen Va»schlag weger sch-^ager Schiedsgerichts zu antworten. Und es wird dock -na) für Poincare nicht ganz leicht sein, darauf zu antwor . >>, wie er bisst.- muiwortet hat: ich pfeift aus die Rechts nute, ,ch ^ ^ englischen Regierung
ich 'habe die Gewalt, und gedenke sie gegen jeden zu gebrauchen, der mir in den Weg tritt. Es ist doch nichts ganz Alltägliches mehr, wenn von zwei Verbündeten der einc öffentlich feststellt, die Behandlung durch den anderen Hab« ihm „einen peinlichen Eindruck" gemacht. Viel peinlich! Eindrücke dieser Art wird Lord Curzon nicht mehr feststeller können, ohne daß die Entente darüber endgültig zerbricht. Eine schwer« Belastung für die französische Eitelkeit ist es ohnehin schon, wenn England erklärt, es wünsche „von Deutschland und .Frankreich" bezahlt zu werden. Di« liebenswürdige Aufforderung Poincares, sich an der deutschen Handelsflotte schadlos zu halten, wie Frankreich sich am Ruhrgebiet schadlos halte, wird wohl nicht verfangen bei einer Regierung, die soeben den Anruf des Haager Schiedsgerichts zur Klärung der Rechtslage ausgesprochen hat.
Ein Fortschritt, wie die Preisgabe der ganzen Lloyd- George-Politik, ist auch die besondere Preisgabe des Londoner Entschädigungsxlans von 1621. In Uebereinstimmuug mit allen denen, dis eine ernsthafte Lösung der Frage erstreben, wird eine feste Begrenzung der deutschen Schuldsumme gefordert. Sachverständige mögen die deutsche Zahlungsfähigkeit schätzen- Für sich beansprucht England von Deutschland „und den Verbündeten" 14 Milliarden Told- mark. Frankreich wird gebeten, mit der Verzinsung auzu- sangen, wenn das Verhältnis zwischen Frank und Pfund Sterling sich gefestigt habe. Das ist ein'etwas schmerzlicher Wink. Aber Frankreich hai's ja dazu! Eben erst ist eine halbe Milliarde Gold dazu verwandt worden, den belgischen Frank zu stützen, der infolge des Ruhrabenteuers die Kränke gekriegt hat. Wie den beiden Raubstaaten die gegenseitige Stützung bekommen wird, bleibt abzuwarten. Einstweilen hat England durch seinen volkswirtschaftlichen Sachverständigen bei der Pariser Botschaft feststellen lassen, daß di« Mär vom immer noch notleidenden Frankreich ein grober Schwindel sei. Die Veröffentlichung dieser Cahill-Be- richte, einstweilen bis zum 1. März 1923, gehört auch mit zum neuen System, das England der Politik Poincares gegenüber anwendet. Das Ergebnis der Berichte, auf eine kurz« Formel gebracht, lautet: Frankreich hat M an g sl an Ar
b e i't s k r ä f t e n, während England bekanntlich Ueberfluß an Arbeitslosen hat. Böse leuchtet der Sachverständige auch in die Mißwirtschaft bei den französischen Steuern hinein. Und was den Wiederaufbau angeht, so geht der mit cüstigen Schritten der Vollendung entgegen, und man begreift plötzlich, weshalb alle deutschen Anerbietungen schnöde mrückgewiefen wurden: Frankreich hat das Geschäft „in sich" machen wollen. Nur beim Wiederaufbau der Häuser ist noch eine starke Lücke, und hier geruhte man bis zum Ruhreinbruch ja auch, deutsche Lieferungen anzunehmen.
Täuscht nicht alles, so stehen wir wieder einmal an einer Wegwende. Wollen wir dabei nicht ins Hintertreffen geraten, so haben wir mit verstärkter Tatkraft für Ordnung im eigenen Hause zu sorgen. Damit wieder deutsche Außenpolitik gemacht werden könne, muß es endlich Ruhe in der deutschen Innenpolitik geben. Sonst geht die Entwicklung doch noch über uns hinweg und der ganze, sieben- monatige Heldenkamps an Rhein und Ruhr ist „für die Katz" gewesen.
Deutscher Reichstag
Dcrckaucnsabstimmung für das neue Kabinett
Berlin. 14. August.
Nachdem die Vertreter der vier Koalitionsparteien dem neuen Kabinett das Vertrauen ausgesprochen hatten, wurde von diesen Parteien ein Antrag eingebracht: Der Reichstag billigt die Erklärung der Reichsregterung und spricht ihr das Vertrauen aus. Aüg. Hergt (Deutschn.) erklärt, die Deutschn-ation-ale Volkspartei erblicke in dem Vorgehen der Regierungsparteien ein gefährliches Spiel mit den höchsten Interessen von Volk und Vaterland- Die Rückkehr zur Parieiregierung könne nicht zur Zusammenfassung aller Kräfte führen;'auch im Reich werde der sozialdemokratische Einfluß die Große Koalition beherrschen, nieder gegen die Vergewaltigung der rechtsgerichteten Kreise, noch gegen die rote Gewaltherrschaft auf der Straße, noch gegen die wirtschaftliche Not, werden die nötigen Maßnahmen zu erwarten ft n. — Abg. Gräfe (Deutschvölk. Freiheits-Partei): Es sei sond'n.ar, daß man ausgerechnet einen österreichischen Juden «Sollmann, Rsichsminister des Innern) zum Verwalter der deutschen Konkursmasse gemacht habe. Das Kabinett Strese- ruann sei nur die Uebergangsstuse zur neuen Revolution.
Für d i e V e r t r o u e n s e r k l ä r u n g stimmen darauf 246'Abgeordnete, dagegen 76 (Demschnacionale, Deutsch- völkische, Kommunisten, Abg. Dr. Geister und Ledebour). Die Bayer. Volkspartei und der Bayer. Bauernbund (25) enthielten sich der Stimme- Abwesend waren 118 Abgeordnete.
Es folgt die zweite Beratung der Goldanleihe. Abg Dr. Helfferich (DNat.) beantragt, die zur Befreiung von der Erbschaftssteuer erforderliche Zcichnungsfrist auf 1 Jahr auszudehnen. (Nach dem Ausschußbeschluß soll nur die bis 15. Mai 1924 gezeichnete Goldanleihe von der Erbschafts
steuer frei sein.) Unter Ablehnung des Antrags Helsferichs wird die Vorlage in der Fassung des Ausschusses in 2. unk 3. Lesung angenommen. In dritter Lesung wird di« Nachtragsforderung zum Reichshaushalt für 1923 bewilligt mit einer Entschließung des Abg. Schreiber (Ztr.), die Reichsregierung solle bei den Einzelstaaten auf eine schnellere Auszahlung kultureller Notstandsgelder hinwirken. Angenommen wird ferner das Gesetz über die Gebühren der Rechtsanwälte und die Gerichtskosten, die der Geldentwertung angepaßt werden- Verschiedene Anträge werden an die Ausschüsse überwiesen.
Vom Nuhrkrleg
Der Raub geht weiker
Düsseldorf, 15. August. Die Franzosen haben die Reichsbank in Düsseldorf besetzt, weil sie sich weigerte, einen von den Franzosen vorgelegten Scheck einzulösen. — In Witten wurden 50 Milliarden Mark beschlagnahmt.
Die Verschleuderung des Raubs
Lcudon, 15. August. Während der letzten Woche m:hr- ten sich in London die Klagen über maßlose Ramschverkäuss deutscher Waren, die zu Preisen von kaum'einem Sechstel der englischen verkauft wurden. Es hat sich nun heraus- gcstellt, daß dieses „Dumping" von den Franzosen ausgeht und Waren betrifft, die sie im Ruhr gebiet gestohlen haben. Eine Pariser „Times"-Meld-ung stellt fest daß die französische Regierung nicht weiß, wie sie di> 200 000 Tonnen geraubter Schienen, Balken und anderer Stahlwaren loswerden soll, und die „Westminstrr Gazette' bestätigt, daß englischen Häusern von Paris aus zu billiget Preisen große Posten Seide, Wolle, Baumwollwaren, Motorräder, Zement, Ziegelsteine, Schokolade, Seife und elektrische Lampen, alles Raub vom Rhein und der Ruhr, an- geboten werden.
Nach dem Pariser Fachblatt „Iournee Industrielle" bringt die französische Regierung von den 7 Tonnen ir Deutschland geraubter Farbstoffe, die in Kehl aufge- ,speichert liegen, zum Teil zum öffentlichen Verkauf. Der andere besteht aus solchen Farbstoffen, Li« in Frankreich Vicht hergestellt werden können: diese sollen an französisch, Firmen verteilt werden.
Schreckliches deutsches Verbrechen
Düsseldorf, 18. August. Die französische Nachrichtenagentur Havas meldet, in einem Kaffeehaus in Lr^nen sei ein französischer Eisenbahner von deutschen Schutzpolizisten M Zivil verhauen, nach einer deutschen Polizeiwache ver- bracht und erst am andern Tag wieder frei gelassen worden. Untersuchung sei eingeleitet und das Kaffeehaus geschloffen. --- Was der WN,LWSHh<«MM hat, veMweigt Havas,
Neue Nachrichten
Vom neuen Reichskabinelk
Berlin. 15. August. Wie die Blätter berichten, hat dt« Sozialdemokratie ursprünglich fünf volle Ministerien beansprucht. Angesichts des Widerstands der übrigen Koalitionsparteien soll Reichspräsident Ebert den Vermittlungsvorschlag gemacht haben, daß zunächst nur vier Ministerien von der Sozialdemokratie übernommen werden, daß dagegen tür einen fünften ein freies Ministerium ohne Amt geschaffen werde bloß mit Sitz und Stimme im Kabinettsrat. Für dieses Ministerium soll der derzeitige preußische Ministerpräsident Braun vorgesehen sein. (Hiernach berichtigt sich die, wie es scheint auf einem Telephonhörfehlsr beruhende Terliner Meldung, daß Braun das Reichsarbeitsministerium übernommen, dieses hat vielmehr der seitherige Inhaber Dr. Brauns (Ztr.), ein Geistlicher, beibehalten, nachdem er sich anfänglich gegen die Wiederübernahme des Anits gesträubt hatte. Das Zentrum wird demnach, einschließlich des neu zu schaffenden „Ministeriums für die besetzten Gebiete". im neuen Kabinett durch zwei Parteimitglieder vertreten sein.)
In letzter Zeit hat nach der B. M. das Kabinett Enno eine Verfügung erlassen, nach der der damalige Reichs- Minister des Innern Oes er (im neuen Kabinett Berkehrsminister) nach allen durch den Aufruhr bedrohten Plätzen des Reichs Polizeiabteilungen, die durch Reichswehr verstärkt waren, schicken sollte. Der sozialistische Minister des Innern Severing (Vreußen) soll die Verfügung zerrten haben, da sie als eine Heraustorderuna der Arbeiterschaft zu betrachten sei. Als dies Reichskanzler Cuno gemeldet wurde, soll er erklärt haben, unter diesen Umständen könne er sein Amt nicht mehr weitcrsühren.
Von der Forderung der Sozialdemokratie auf Ueber- nahme des Reichswehr-Ministeriums soll auf den entschiedenen Widerspruch Eberts hin Abstand genommen worden sein.
Die „Nationalzeitung" in Basel erfährt aus Berlin. Dr. L' u n c werde zum deutschen Botschafter in Washinatan ernannt werden. Der gegeirwärtiqe Botschafter Dr. Wieiftldi