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Rr° 221

Äugend und soziale Aufgabe.

Von Johannes Fischer-Stuttgart.

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehtrt die merkwür­dig fremde Empfindung, die in den ganzen Verhältnissen meiner halbländltchen Heimat durch das Schlagwort von der sozialen Aufgabe" ausgelöst wurde. Das klang so wie etwas >anz fremdes, aus weiter Ferne kommendes, wie einDing an sich", das uns gar nicht berührte und nicht angehe. Ts war immerhin schon in den Jahren 88 94 des letzten Jahr- Hunderts, aber dieser Gegend und diesen Menschen war die Welt, aus der diesoziale Aufgabe" erwuchs, bis dahin fremd geblieben.

Inzwischen hat man ganze Büchereien über die Lösung der sozialen Frage geschrieben, überall hallt eS wider von sozialen Beteuerungen aller Art. Aber find wir darum tat- , sächlich eigentlich viel wettergekommen?

Wir denken, wenn wir von sozialen Aufgaben der Jugend reden, nicht an die oder jene einzelne Maßnahme, die sie be­sonders zu betreiben hätte, s»ndern an den tieferen und wei­ten Inhalt dessen, was untersozial" eigentlich zu verstehen ist, nämlich an die Heraufführung einer, dar ganze Volk ! umspannenden, es durchglühenden, starken GemeinschaftSbe- wußtseinS. Ein Grundübel unserer Zeit besteht in der Zer- j rissenheit unseres Volkes, in der Unfähigkeit weiter Kreise, l unser Volk als lebensvolle, organische Einheit zu erfassen u.

! von hier aus Wert und Bedeutung der einzelnen Berufe,

Stände, Tätigkeiten und Geschlechter für da§ Volksganze zu begreifen. Aus diesem Uebel erwachsen sehr viele andere, schlimme Wirkungen für den einzelnen Menschen, den ein­zelnen Stand und das ganze Volk. Wo wir Hinsehen, überall begegnen wir Schlagbäumen von Vorurteilen, Sonderinteres- ! sen, Einseitigkeiten, über die man nicht hinwegkommt, die einen hindern, den andern Ttänden gerecht zu werden und die einem noch im Wege sind, um für sich selbst und sein Schaffen das rechte Verhältnis zu seiner Zeit und zu seinem Volk, zum Schaffen und der Leistung der Mitmenschen zu finden. Das gilt für die Städter gegenüber den Bauern, ! die Arbeiter gegenüber den Unternehmern, die Handarbeiter gegenüber den geistig tätigen Menschen und umgekehrt. Man ^ überschätzt sich und sein Werk und unterschätzt die andern; überall sind tiefe Aräben und Klüfte aufgerissen.

Hier muß die Jugend beginnen. Sie ist noch nicht so in feste Gedankenrichtungen, Vorteilsübcrlegungen und Vor- > urteile eingespannt, noch nicht so mit Verantwortungen und I Sorgen für einzelne Zweige des Geschäfts belastet und darum noch frei in der Beobachtung all dessen, was ein Volk in seiner Gesamtheit auSmacht.

Wie anders soll denn die heutige Zeriffenhelt unseres ! Volkes überwunden werden, als dadurch, daß von oieltausend ! einzelnen Menschen Bande persönlichen Vertrauens, persön­licher Achtung die verschiedenen Grenz- und Trennungsstriche in unserem Volke durchbrechen und überbrücken. Wie soll beispielsweise das Mißverhältnis der handarbeitenden Berufe gegenüber den Geistesarbeitern verschwinden, wenn nicht durch persönlichen Umgang, lebendigen Eindruck so und so viele Arbeiter, Handwerker, Bauern ihre eigene Anschau­ung und Ueberzeugung, nicht nur vom Schaffen des andern überhaupt, sondern auch vom Wert der geistigen Arbeit für die Fruchtbarmachung ihrer eigenen Leistung bek»mmen. Und umgekehrt, wie soll bei den Geistesarbeitern Verständnis für deren besondere Bedürfnisse kommen, wenn nicht durch eben­solche Beziehungen sich Einblicke in diese Welt eröffnen. Je- ! der Mensch, der nicht bloß ein zweibeiniger Baumwollspin­ner oder ein bauender Biber ist, wie Tarlyle es auSdrückt, braucht ba» Bewußtsein, daß er ein für die Gesamtheit wich­tiges'Glied ist. Dieses Bewußtsein für seine Arbeit verloren zu haben, bedeutet ein gut Teil der inneren Not des Arbei- terstandeS im weitesten Umfang, es von der Arbeit anderer Stände nicht, oder nicht mehr zu haben, erschwert ein frucht­bares und gedeihliches Zusammenarbeiten im deutschen VolkS- . staat. Hier neuen Grund zu legen, ist die soziale Aufgabe der Jugend.

Me Teuerung Im Norden «od I« Süden der Reichs.

> Schon in Nr. 7 derMitteilungen" des Statistischen

> Landesamts wurde für Württemberg dar raschere Ansteigen der Teuerung de« Norden gegenüber erwiesen. Die Zahlen in Nr. 8 der ZeitschriftWirtschaft und Statistik" des Stati­stischen Reichsamts geben Anlaß, auf diesen Sachverhalt wie­derholt htnzuweisen, da er in Berlin anscheinend keine Beach-

> tung gefunden zu haben scheint. Nimmt man aus den 47 Eildtenstgemeinden die 12 süddeutschen heraus, indem man

' Iran kfurt a. M. bei dem Norden läßt, so ergibt sich Folgendes:

TruerungSzahl 1913/14

36 Gemeinden im Norden

13 Gemeinden im Süden

91,24

93,93

1920 Februar. . .

. 614

556

1921 Januar . . .

. 937

867

März . . .

. 92»

84»

Mai . . . .

. 870

S64

Juni . . .

. 890

894

Juli . . . .

. 945

960

August . . .

1025

1048

Donnerstag den 22. September 1S21

Vor dem Krieg war der Süden im Durchschnitt etwas, wenn auch nicht viel teurer als der Norden. Als die Teue­rungsstatistik begonnen wurde, im Februar 1920, lag der Norden um volle 58 Punkte höher, dem Süden gegenüber; dieser Unterschied »erschürfte sich im Januar 1921 auf 70, im März 1921 gar auf 80 Punkte; im Mat ist der Unter­schied schon auf 6 Punkte herabgegangen; vom Juni bis Aug. 1921 aber wirtk der Süden nacheinander um 4, 15, 23 Punkte teurer als der Norden, also zunehmend. Auch dann, wenn man den verschiedene« kritischen Vorbehalten diesen Teue­rungszahlen gegenüber Rechnung trägt, muß in diesem Tat­bestand ein vollständiger Umschwung der gegenseitigen durch­schnittlichen Teuerungslage erblickt werden.

Wenn in Nr. 9 der vom Statistischen ReichSamt herauS- gegebenen ZeitschriftWirtschafts-Statistik" gesagt ist, auch im Monat August war die Entwicklung der Lebenshaltungs­kosten innerhalb dcS Reichs ziemlich einheitlich, so ist dies höchstens hinsichtlich der allgemeinen Bewegunghinauf" zu­treffend, nicht aber hinsichtlich der Art und des Tempos die­ser Bewegung. _

Der NeckarLanal

In der Presse machte Oberbaurat Conz von der Neckar­baudirektion kürzlich Mitteilungen über den Stomd der Bau­arbeiten am Neckarkanai. Er führte etwa aus: Finanzielle Rücksichten verbieten, die ganze Kanalstrecke von Mannheim bis Plochingen in Bau zu nehmen. Als im vorigen Jahr die Arbeitslosigkeit zunahm, wurde an den wichtigsten Stellen mit den Kanalarbetten begonnen, zunächst im Handbetrieb. Innerhalb der württ. Strecken ist dieser seit zwei Monaten ausgeschaltet und hat dem Großbetrieb mit Baggern usw. Platz gemacht, während zwischen Heidelberg und Mannheim noch im Handbetrieb gearbeitet wird. Bei Ober- und Üntertürk- heim sind 300400 Arbeiter zum Teil doppelschichtig beschäf­tigt. Bei Obereßlingen soll eine weitere Stufe mit einem Kraftwerk in Angriff genommen werden. Die Bauzeit ist auf 2 Jahre berechnet, man erwartet einen Gewinn von 2000 ?8. Bei Ober- und Untertürkheim sollen innerhalb der nächsten 1*/» Jahre die Arbeiten fer'iggestellt werden. Große Wasserkräfte gewinnt man bei Heilbronn (Horkheim 4000 und Neckarsulm 40005000 ?8.) Dadurch wird der Kraftmangel in Württemberg behoben. Die Baukosten für die eingeleiteten u. auS- geführten Vauarbeiten betragen bis jetzt 250 Mtll. Mk. Inner­halb der bad. Strecke werden zwei große Wasserkraftwerke er­stellt, die 10000 Kilowatt Kraft erzeugen sollen. Die badische Industrie hat bereits über diese verfügt. Die Baukosten die­ser Strecke betragen 280 Millionen Mark. Mit Rücksicht auf die Teuerungswelle ist jedoch mit einer Verteuerung von 20-30°/« auf die bereits angelegten 500 Millionen Mk. zu rechnen. Der zweite Bauabschnitt geht von Heidelberg bis zur württ. Grenze. Gleichzeitig soll bet Pfauhausen noch eine Wasserkraftanlage gebaut und bet Heilbronn und Stutt­gart ein Werk eingeschaltet werden. Es ist beabsichtigt, inner­halb von 7 Jahren die Kraftwerke und den Gr»ßschiffahrtS- weg von Mannheim bis Heilbronn fertig zu stellen. Für den Bau des SchiffahrtSwegs HeilbronnPlochingen sind weitere 5 Jahre vorgesehen. Der gesamte Bauaufwand ist auf 22,4 Milliarden Mark veranschlagt. Der Gewinn an Wasserkräften wurde im Jahresdurchschnitt zu 60 000 ?8, die Jahresleistung der Kraftwerke zu 333 Millionen Kraft- stunden berechnet.

Werk Oppau bei Ludwigshafen in die Lust geflogen.

7V0 Tote.

Karlsruhe, 21. Sept. Heute vormittag V«» Uhr ist ein Hochofen der badischen Anilinwerke in Ludwigshafen, der sich in Oppau, Regierungsbezirk Frankental befindet, in die Luft geflogen. Die Explosion erfaßte sofort zwei weitere Oefen, die gleichfalls mit fürchterlicher, bis Heidelberg hörbarer Detonation in die Luft flogen. Im weiten Umkreis sind die Fensterscheiben zersprungen und am Platz selbst. ist der Ma- terialschaden ungeheuer. Es geht dos Gerücht, daß 700 Menschen den Tod gefunden haben. Ebenso sind die Hafenanlagen in Mannheim in Mitleidenschaft gezogen wor­den. Die Mannheimer Spitäler s,llen mit Verwundeten überfüllt sein. Näheres über das Unglück konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, d« das Mannheimer Tele- graphen-Büro den Betrieb eingestellt hat.i

Zu dem furchtbaren Unglück in den badischen Anilin- und Sodafabrtken erfährt man noch weitere Einzelheiten: Danach heißt eS: Die Detonation wurde auf 70 Kilometer Umkreis gehört. Die Zahl der Verwundeten geht in die Tausende. Nicht nur die Arbeiter der Oppauer Werkes wurden betroffen, über dem Rhein, im Mannheimer In­dustriegebiet wurden ebenfalls fürchterliche Verwüstungen angerichtet. In einer kleineren Maschinenfabrik in Mann-

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SS. Jahrgang

heim allein gab es 18 Tote. Kein HauS in LudwigShafen und Mannheim ist von den Erschütterungen verschont ge­blieben. Ueberall wurden die Fenster eingedrückt, teilweise sogar die ganzen Rahmen auSgehoben und Türfüllungen ge­sprengt. Die Schulen und öffentlichen Geschäfte haben ge­schlossen. DaS Hafengebiet auf beiden Seiten des Rheins mußte geräumt werden, da eine zweite Explosion zu befürch­ten war. Die LudwigShafener und Mannheimer Feuerwehr, die Sanitätskolonnen und viele freiwillige Kräfte sind mit der Bergung der Toten und Verwundeten beschäftigt. In Mannheim sind alle Einwohner auf der Straße. Leute von LudwigShafen mit leichten Verletzungen, teilweise mit Verlust deS Auges, und von den Gasen geschwärzt, kamen nach Mannheim, weil sie sich hier sicherer glaubten.

LudwigShafen, 21. Sept. Zu dem Unglück in den Op­pauer Werken der Bad. Anilin- und Sodafabrik erfahren wir noch folgendes: Drei Arbeiterzüge wurden unter den Trüm­mern begraben. Transmissionen von 100 Zentner wurden von LudwigShafen nach Mannheim geschleudert. In den Orten der Umgebung wurden zahlreiche Dächer abgedeckt. In Ludwigshafen liegen die Glasscherben fußhoch in den Straßen. In Mannheim haben alle Fabrikanlagen unter der Explosion gelitten.

Die Auswirkung des Ludwigshafener Explofiousunglücks.

Von Heidelberg wird '/r Stunde nach dem Unglück folgendes berichtet: Heute früh um '/-8 Uhr wurde in Heidel­berg eine gewaltige Explosion wahrgenommen. Ein großer Teil der Fensterscheiben der Hauptstraßen, Nebenstraßen und insbesondere der Rohrbachstraße wurden zerstört. Der Scha­den beträgt über 100000 Der LxplostonSherd ist noch nicht bekannt.

Von Frankfurt wird um dieselbe Zeit gemeldet: Heute früh kurz nach V»8 Uhr wurde in der ganzen Stadt eine Erderschütterung wahrgenommen, die von einem dump­fen Getöse begleitet war. In verschiedenen Stadtvierteln sind infolgedessen Fensterscheiben zersprungen. >BiS zur Stunde konnte jedoch noch nicht festgestellt werden, ob eS sich bei die­ser Erschütterung um einen Erdstoß oder um eine Explosion handelt. _

Kleine politische Nachrichten.

Siegesfreude i« Konstantinopel.

London, 21. Sept. AuS Konstantinopel wird gemeldet: Der kemalistische Steg am Sakariafluß hat eine ungeheure Begeisterung heroorgerufen. Die türkischen Zeitungen ver­öffentlichen Bilder der siegreichen Generäle, umgeben von Sprüchen aus dem Koran. Die Griechen zerstörten die Eisen­bahnen, um eine Verf,lgung durch dte Türken zu verhindern.

Mustafa Kemal» Siegesproklamation.

Konstantinopel, 20. Sept. Mustafa Kemal erließ einen Aufruf an die Nation, in dem er erklärt, daß dte griechische Armee, die die nationalistischen Streitkräfte habe vernichten und Angora besetzen wollen, mit Hilfe deS Allmächtigen ge- schlagen und über den Sakaria zurückgeworfen sei. Die hel­denhafte türkische Armee setze die Verfolgung deS Feinde« fort. Der einzige Wunsch sei, das Dasein der Türken zu sichern und die Unabhängigkeit durchzusetzen. Der Aufruf schließt:Wir werden die Waffen nicht niederlegen, bis diese Ziele völlig erreicht sind.

Englisch frauzSsifche Unstimmigkeiten i» Koustautinopel.

London, 20 Sept. Der diplomatische Berichterstatter des Daily Telegraph" schreibt: Am letzten Freitag hat der fran­zösische Botschafter in London beim Foreign Office offiziell Vorstellungen erhoben wegen General HarringtonS Befehl, die angeblichen Verschwörer in Konstantinopel zu verhaften. Der französische Botschafter erklärte, die französische Regie­rung sei der Ansicht, daß der alliierte Oberbefehlshaber sein Mandat überschritten habe, dar rein militärisch sei.

Dieser französische Protest wird sehr verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Franzosen mit Kemal Pa­schasympathisieren". Wie weit diese Sympathien reichen, zeigt folgende Meldung:

London, 21. Sept. Der konstantinopolitanische Korre­spondent der »Times" meldet, der französische Vertreter Frank­lin Bouillon sei nach Angora abgereist, um der kemaliftischen Regierung den Text der französtsch-kemalistischen Verträge vorzulegen. TS geht dar Gerücht, daß mit der Regierung von Angora der Abschluß einer französtsch-kemalistischen Mt- litärkonvention besprochen werden soll.

Republik Westuugarn?

Berlin. 21. Sept. An Wiener amtlichen Stellen aus Oedenburg eingegangene Nachrichten besagen, daß die Aus­rufung einer selbständigen westungarischen Republik unter Führung des Karlisten Friedrich unmittelbar bevorstehe. Nach privaten Meldungen soll sie bereits erfolgt sein. Die Gefahr, dte von dieser neuen Gründung droht, besteht vor allem darin,

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