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SCHWÄBISCHES TAGBLATT
Eröffnungssitzung des ersten Landtags
,, In Not und Elend kann die Demokratie nicht gedeihen
BEBENHAUSEN. Der Tag, an dem der am 18. Mai dieses Jahres gewählte Landtag von Württemberg- Hohenzollern erstmals zusam- mentrat, dürfte deshalb von besonderer Be- deutung sein, als er die Verwirklichung der demokratischen Selbstverantwortung im Lande Württemberg- Hohenzollern fördern wird. Die Befriedigung über dieses Ereignis wurde getrübt durch die gleichzeitig bekannt gewor- dene Ankündigung einer schwerwiegenden Kürzung der Brotzuteilung, die auf das Aus- bleiben der notwendigen Brotgetreideeinfuh- ren zurückgeführt wird. Es bleibt nur die Hoffnung, daß diese Maßnahme wirklich in Kürze wieder aufgehoben werden kann.
Am Vormittag fanden in der Stiftskirche wie auch in der kath. Stadtpfarrkirche feier- liche Eröffnungsgottesdienste statt. Oberkir- chenrat Keller legte seiner Predigt das Psalm- wort ,, Siehe, Gott steht mir bei" zugrunde und wies dabei die Abgeordneten auf ihre hohen Pflichten hin, die sie auf sich genommen hät- ten. Bei ihren Entscheidungen möge nicht die
Rücksichtnahme auf Wähler oder Freunde eine Rolle spielen, sondern die Verantwortung vor Gott stets ausschlaggebend sein.
Während des feierlichen levitierten Hoch- amtes in der katholischen Kirche, das Kon- viktsdirektor Sauter zelebrierte, predigte Ge- neralvikar Dr. Kottmann. Er sah in diesem Eröffnungsgottesdienst ein Bekenntnis zum le- bendigen Gott. Darum gelte es auch den Neu- bau des Staates auf dem Fundament des Glau- bens an den lebendigen Gott zu erstellen und Ernst zu machen mit der Lösung der großen sozialen Probleme, mit der Wiederherstellung des Rechts auf allen Gebieten des Lebens.
Erstmals waren die Zuschauerbänke des Landtags restlos besetzt. Außer der gesamten provisorischen Regierung des Landes waren als Vertreter der beiden Konfessionen General- vikar Dr. Kottmann und Kirchenrat Keller, der Rektor der Universität Tübingen, Prof. Dr. Steinbüchel, und zahlreiche Mitglieder der öffentlichen Verwaltung erschienen. Das Land Nordwürttemberg- Baden nahm durch
seinen Minister des Innern, Ullrich, an die-
sem für Württemberg- Hohenzollern bedeut- samen Ereignis teil.
Prof. Dr. Niethammer( CDU) eröffnete
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Wir Frauen
Auch hier muß im Anfang das Wort stehen,
diese stärkste menschliche Macht, das Wort, in dem die Fackel des Geistes weitergetragen wird. Wo sie gezündet hat, da werden die Taten folgen, wird jeder den Platz finden, von dem aus er im praktischen Leben wir- ken kann, sei es innerhalb oder außerhalb
der Parteien.
Aber dies sei zum Schluß gesagt:„ Frauen- bewegung" kann nicht von heute auf morgen gemacht werden; sie kann darum auch nicht plötzlich eines Tages mit einer Groß- kundgebung vor die erstaunte Welt treten. Sie darf nicht mit großen Zahlen imponieren wollen, sondern sie muß organisch wachsen, von der Senfkorngröße bis zum schattenden und fruchttragenden Baum. In kleinen Grup- pen muß die Arbeit begonnen werden; jede Gruppe soll und wird ihr eigenes Gesicht ha- ben, und doch werden sie in der letzten frau- lichen Verantwortung einander verwandt sein und darum zusammengehen können. Wichtig ist nur, daß die Frauenbewegung sich ganz unabhängig von Institutionen, Verwaltungen, Parteien und Gewerkschaften hält. Das gilt Insbesondere für ihre Finanzierung. Lieber einen bescheidenen Rahmen als Bindung an irgendwelche Geldgeber, die im gegebenen Moment schließlich doch alle einmal ihre Rechnungen präsentieren würden. Die Bewe- gung wird immer soviel Mittel haben, als sie ihren Mitgliedern wert ist. Und daran wird sie jeweils auch immer den Maßstab für ihre Leistungen finden.
Katze, Distelfink und Sterne Von Luigi Pirandello
Ich kannte einmal zwei alte Leutchen, die einen Distelfink hatten. Sie hatten sich sicher niemals die Frage vorgelegt, wie ihre Ge- sichter, der Käfig und das Haus mit all den alten Möbeln wohl für den Distelfink aus- sehen könnten und wie er über die Pflege und die Aufmerksamkeiten denken könnte, die sie ihm erwiesen; denn sie waren fest davon über- zeugt, daß der Distelfink, wenn er sich auf die Schulter des einen oder des anderen setzte und mit seinem Schnabel nach ihrem runz- ligen Hals oder ihrem Ohrläppchen pickte, ge- nau wußte, daß das, worauf er saß, eine Schulter wer das, wonach er mit dem Schna- fel bel picktekar Ohrläppchen, und daß Schulter und Ohr ihm gehörten und nicht ihr. Oder sollte er sie etwa beide gar nicht kennen? Und nicht wissen, daß er der Großpapa und sie die Großmama war? Und sollte er auch nicht wissen, daß sie ihn beide so lieb hatten, weil er früher ihrem toten Enkelkind gehörte, das ihn so gut abgerichtet hatte, auf die Schulter zu fliegen, nach dem Ohr zu picken und aus dem Bauer ins Zimmer zu flattern?
Die alte Großmama lief den ganzen Tag mit dem Scheuerlappen herum, als wenn ein kleines Kind im Hause wäre, das gewisse Dinge noch nicht regelmäßig und am rich- tigen Ort zu verrichten versteht. Und dabei muẞte sie an ihre Enkeltochter denken; und daß sie ihr über ein Jahr lang den gleichen Dienst erweisen mußte, bis das gute Kind dann
,, Erinnerst du dich noch daran?" Und daraufhin der Alte: ,, Ob, ich mich daran erinnere?"
Er sah sie noch als ganz, ganz kleines Kind im Haus herumspielen! Und er schüttelte lang den Kopf.
Sie waren ganz allein auf der Welt zurück- ben, die zwei alten Leutchen, zusammen
als Alterspräsident die erste Sitzung des Land- tags. Sein Dank galt der Arbeit der Beraten- den Landesversammlung, die eine klare und einfache Verfassung geschaffen habe mit dem innersten Anliegen, den Kampf gegen die Not aufzunehmen und helfend einzugreifen. An der ungeheuren Umwälzung, die besonders alle Eigentumsfragen betreffe. habe man nicht achtlos vorübergehen können. Der gerechte Ausgleich müsse jedoch auf rechtlicher Basis erfolgen. Neben dem Schutz der Religion habe es vor allem gegolten, das notwendige Gleich- gewicht zwischen gesetzgebender und ausüben- der Staatsgewalt herzustellen.
Wenn das deutsche Volk wieder gesunden und blühen solle, müßten in naher Zeit die Menschenrechte, die in der Verfassung ver- ankert seien, wiederhergestellt werden.
Grundlage der Arbeit des Landtags müßten Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Versöhnung und Vergebung sein.
Zum Präsidenten des Landtags wurde der Abgeordnete Gengler( CDU.) mit 55 Stim- men gewählt. Präsident Gengler hatte dieses Amt, wie bekannt, schon bei der Beratenden Landesversammlung inne.
In seiner Eröffnungsansprache kennzeichnete er als Hauptaufgabe des Landtags den Kampf gegen die Not in Ursachen und Wirkungen. „ Die schwergeprüfte und leidende Menschheit
7. Juni 1947
Nichtraucherabteil
Im Nichtraucherabteil des Mittagszuges von Tü- bingen nach Stuttgart. Zwei ehe alige Offiziere können es nicht lassen: ,, Unsere Wehrmacht war eben doch ein Ordnungskörper. die neue Demo- es fehlt uns eben die kratie müßte froh sein selbstverständliche Disziplin, wie sie dem Mann beim Kommiß Sie zünden sich die Zigarette an, die nun ein- mal dazu gehört, als Ausrufungszeichen, als Ge-
erwartet von den Verantwortlichen von heute die Schaffung einer neuen Weltordnung, einen wahren Frieden des Rechts, der Freiheit, sowie die Wiederherstellung und Anerkennung der Menschenrechte." In Not und Elend könne die Demokratie nicht wachsen und gedeihen. Durch Zerstörung, Vergrößerung der Güterarmut bärde und Vernichtung der deutschen Lebensmög- lichkeiten werde der Weg zu der Verkündung ,, Ein freies Deutschland in einem freien Europa" nicht beschritten. Kultur und Wirt- schaft könnten nur in der Freiheit gedeihen.
Die Wahl des 1. und des 2. Vizepräsidenten ergab 55 Stimmen für den Abg. Fleck( SP.), der Camit wiederum zum 1. Vizepräsidenten gewählt wurde. Der Abg. Kübler( DVP.) wurde mit 39 Stimmen 2. Vizepräsident.
Du ca Zuruf wurden die Abgeordneten Dreher, Schwarz, Schubert und Mast ( CDU), Erler und Müller( SP.), Kinke-
1in( DVP.) und Zeeb( KP.) zu Schriftführern
bestimmt.
Die provisorische Regierung von Württem- berg- Hohenzollern wird ihr Amt bis zur Bil- dung der neuen Regierung geschäftsführend beibehalten.
An der nächsten Sitzung des Landtags, die in Kürze stattfinden dürfte, wird der General- gouverneur für Württemberg- Hohenzollern, Widmer, teilnehmen, um eine Erklärung der französischen Militärregierung abzugeben.
Internationaler Juristenkongreß in Konstanz
Sühne für Grafenegg v rd kommen
KONSTANZ. In Anwesenheit von über 200 führenden Juristen wurde in Konstanz der Internationale Juristenkongreß eröffnet. In der Eröffnungsrede führte Mr. Furby, Directeur
General de la Justice aus Baden- Baden, u. a. aus, jede Lösung, die wir suchen, müsse zur unbedingten Vorausestzung haben, daß sie die beiden vom Nationalsozialismus negierten Grundsätze respektiere: Bekämpfung jeder Machtäußerung im Gewande des Rechts und
die Idee eines frei erwählten und allen zivi-
lisierten Menschen gemeinsamen Rechtes. Die- ses Recht lebte in den Verfassungen und in der sozialen Gesetzgebung unserer Demokratien.
Staatsrat Prof. Dr. Karl Schmid gab ne- ben deutschen und französischen Rednern ei- nen umfassenden Ueberblick über die Aufgabe der Juristen beim Neuaufbau Europas.„ Ich sehe die Bedeutung dieser Zusammenkunft vor allem in der Tatsache, daß nunmehr zum
ersten Male hervorragende Kenner des Rech- tes sich in gemeinsamer Bereitschaft zu ver- antwortungsvoller Diskussion und schöpferi- scher Kritik gleichsam wie in einem Konzil begegnen, um festzustellen, wo innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens die Grenze zwischen Wahrheit und Irrtum liegt. Wir wis- sen nunmehr, daß Gesetze, die nicht der Aus- fluß ethischer Kategorien sind, uns notwendig den Weg des Bösen führen müssen. Weil wir Deutsche hier am weitesten vom guten Wege abgewichen sind und am schwersten unter
Die Neubesiedlung Ostpreußens
BERLIN. Der Leiter der Zivilverwaltung im ehemaligen Ostpreußen, General Sacha- renko, hat über die Fortschritte bei der Neu- besiedlung des sowjetisch besetzten Drittels von Ostpreußen erklärt:
diesem Irrgang zu leiden hatten, werden viel- leic it wir den Weg zurück am eindringlich-
ste suchen."
De Staatssekretär für Justiz von Südbaden, Streng. gab folgende Erklärung ab:
,, Auf der Schwäbischen Alb liegt die Heil- anstalt Grafenegg, die traurige Berühmt- heit erlangt hat. Sie war die erste große Ver- nichtungszentrale im Südwesten Deutschlands,
in der die als Euthanasie verbrämte Massen-
tötung von Geisteskranken und Gebrechlichen durchgeführt wurde. Mindestens 3000, wahr- scheinlich aber bis zu 5000 Menschen sind dort systematisch umgebracht worden. Etwa ein Dutzend dafür verantwortliche Personen sind 1945 von der französischen Militärregierung verhaftet worden. Das Verfahren gegen die Verantwortlichen wurde im September 1946 an den Generalstaatsanwalt in Freiburg über-
geben. Der Prozeß befindet sich erst im Sta- dium der Voruntersuchung, denn mindestens zehn Anstalten, aus denen Insassen nach Gra- fenegg gebracht wurden, müssen nachgeprüft werden. Diese Aufgabe wird dadurch schwert, daß in Grafenegg alle Spuren der Massenverbrechen systematisch und sorgfältig getilgt wurden.
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Die badische Justiz betrachtet es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben, das Großverbre- chen von Grafenegg zur notwendigen und ge- rechten Sühne zu bringen."
linien seien bereits im Jahre 1945 wieder her- gestellt worden.
Bayerische Ablieferungssorgen MÜNCHEN Der bayerische Ministerpräsi- dent und der Landwirtschaftsminister verhan- deln in Stuttgart erneut über die bayerischen Ablieferungen von Vieh und Kartoffeln.
In München hat Dr. Wilhelm Högner auf der Eröffnungsversammlung der Landes- bauernkammer erklärt, die bayerische Kuh die nicht bis aufs Blut gemolken werden.
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,, Meine Herrn, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie im Nichtraucherabteil sind. Wenn ich Sie noch einmal beim Rauchen erwische, muß ich Sie bestrafen", ruft in diesem Augenblick ein Bahnpolizist ins Abteil herein.
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Die beiden Ertappten nehmen die Zigarette weg und schweigen bis er draußen ist. ,, Ist das die demokratische Freiheit? die Eisenbahn, wenn sie so auf Ordnung hält, sollte dafür sorgen, daß wieder Fensterglas an die Wa- gen kommt statt Holz. Ich habe mir die Demo- kratie anders vorgestellt..
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Hassen sie nur aus Prinzip oder sind sie nur hanebüchen dumm, diese beiden ehemaligen Offi- ziere und zukünftigen Studienräte, die für side die zügellose Freiheit verlangen, für den„, Mann" aber die militärische Disziplin?
alan
Gedächtnis wiedergewonnen STUTTGART. Vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß hatten die Abgeord- neten Bausch und Simpfendörfer bei ihrer Vernehmung im Februar dieses Jahres angegeben, sie könnten sich nicht erinnern, der Reichstagsfraktion der NSDAP. als Hospi- tanten angehört zu haben. Nun haben sie dem Landtagspräsidenten Keil in einem Schrei- ben zugegeben, im Juli 1933 einen Antrag aus- gefüllt zu haben, in dem sie um ihre Aufnahme in die Reichstagsfraktion der NSDAP. ersucht hatten.
Die Stärke der Besatzungstruppen
BERLIN. Der Koordinierungsausschuß des Alliierten Kontrollrats konnte keine Einigung
über die Begrenzung der Stärke der Besat- zungstruppen erzielen. Von amerikanischer
Seite wurde vorgeschlagen, die sowjetischen,
britischen und amerikanischen Besatzungs- truppen auf je 150 000 Mann und die französi- schen auf 60 000 Mann herabzusetzen, wäh- rend die Sowjets an den von Außenminister Molotow auf der Moskauer Konferenz vorge- schlagenen Zahlen festhielten. Danach sollen die Vereinigten Staaten und Großbritannien zusammen 200 000 Mann und die Sowjetunion allein ebenfalls 200 000 Mann als Besatzungs-
der
truppen in Deutschland unterhalten dürfen. Die französischen Kriegsverluste PARIS. Vor einigen Tagen gab französische Minister für Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer in der Nationalversammlung die Höhe der französischen Kriegsverluste be- kannt. Danach sind in der Zeit von 1939 bis 1945 rund 620 000 Personen als gefallen oder vermißt gemeldet worden.
Diese Zahl errechnet sich wie folgt: Kriegs- teilnehmer 1939/40 92 233; Franzosen unter alliiertem Kommando 57 721; Angehörige der innerfranzösischen Streitkräfte 24 440; zwangs- weise in die Wehrmacht eingegliederte Fran- zosen 27 000; von 10 000 Personen fehlt jede Nachricht; in der Kriegsgefangenschaft um- gekommen 38 000; ungeklärte Fälle 4200; durch Deportierung Umgekommene schätzungsweise 150 000; 50 000 Fälle wurden zurzeit noch be- arbeitet; verschiedene Ursachen 97 000; Flug- zeugangriffe 55 550; erschossen 30 000. Nach den Angaben des Ministers sind zur Bearbeitung und Prüfung der Akten noch einige Monate erforderlich, bevor genaue Zahlen veröffent- licht werden können.
Die von 500 000 Menschen durchgeführte Neubesiedlung werde zum Teil mit Litauern durchgeführt, die zur Strafe für ihren Wider- stand gegen den Anschluß ihres Landes an die Sowjetunion umgesiedelt werden. Den ande- ren Teil bildeten Bauern aus allen Teilen der Sowjetunion. Das landwirtschaftliche Gebiet Dr. Ehard und Dr. Högner haben erklärt, sei in 50 Staatsgüter mit 28 434 000 Hektar und das angesichts der kaum erfüllbaren Forde- 190 Kolchosen aufgegliedert. In Kaliningrad, rungen der amerikanischen Militärregierung, dem früheren Königsberg, sei die Wasserver- Gr vieh abzuschlachten und die Kartoffel- sorgung, das Fernsprechnetz und zwei Kraft- rungen zu erhöhen, die bayerische Regie- Monatlicher Bezugspreis einschl. Trägerlohn 1,50 RM., durda werke wieder in Betrieb. Die Straßenbahn- rung ihren Rücktritt erwäge.
mit dem kleinen Waisenkind, das in ihrem Haus herangewachsen war und die Freude ihres Alters bilden sollte; und dabei war es mit fünfzehn Jahren... Doch die Erinnerung an das Kind war in dem Distelfink lebendig geblieben; in seinem Getriller und Geflatter.
Die beiden alten Leutchen wurden von nie-
mand beobachtet und überall ausgelacht, weil sie nur mehr für jenen Distelfink lebten und ihm zuliebe ständig alle Fenster geschlossen hielten; und der alte Großpapa steckte sogar nicht einmal mehr die Nase vor die Tür, weil er so alt war und zu Hause oft wie ein klei- nes Kind weinte. Manchmal trat der alte Großpapa mit dem Distelfink auf der Schulter ans Fenster und starrte mit finstern Blicken auf die Fenster der Häuser gegenüber, aber niemals legte er sich die Frage vor, wie sein Haus und jene Häuser gegenüber wohl für den Distelfink aussahen, der auf seiner Schul- ter saß, und auch für jene schöne, große, weiße Angorakatze, die dort drüben auf dem Fen- sterblech kauerte und sich sonnte
Glaubten die beiden alten Leutchen, die ihre Fenster und die Türe ihres Hauses immer so ängstlich geschlossen hielten, denn wirk- lich, eine Katze könne, wenn sie wolle, keinen
Und so fraß sie eines schönen Tages den Distelfink trotzdem auf, der für sie ein Distel- fink war wie jeder andere. Jawohl, sie fraß ihn mit Haut und Haaren auf, indem sie sich auf unerklärliche Weise Zutritt zu dem Haus der beiden alten Leutchen verschaffte. Es war schon Abend. Die Großmama hörte nebenan
Herausgeber und Schriftleiter: Will Hanns Hebsacker, Dr. Ernst Müller und Alfred Schwenger. Weitere Mitglieder der Redaktion: Albert Ansmann, Dr. Helmut Kiecza und Josef Klingelhöfer( z. Z. im Urlaubl die Post 1,74 RM., Einzelverkaufspreis 20 Pfg. Erscheinungstage Dienstag und Freitag.
Sonnenhöchststand und Mondfinstern Der Juni brachte die einzige Finsternis des Jahres, eine partielle Mondfinsternis am 3. Zu beachten ist im Juni noch der tiefe Stand des Vollmondes, der sich einfach daraus erklärt, daß der Vollmond immer dort steht, wo die Sonne vor einem halben Jahre in unserem Falle also im Dezember Grenze der Sternbilder Wassermann und Fische am 12. um 2 Uhr. Der unsichtbare Neumond ist bei der Sonne im Stier am 19. um 0 Uhr und das Erste Vier- tel findet im Sternbild Jungfrau am 25. um 15 Uhr statt.
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Die Nordwärtsbewegung der Sonne findet am 22. um.9 Uhr 19 Min. ihr Ende. Um diese Zeit tritt sie in das Zeichen Krebs( im Sternbild Zwillinge) ein und neigt sich von nun an wieder nach Süden, dem Winter zu. Damit beginnt astronomisch der Som- mer. Auch die Tageslängen nehmen nun, wenn zu- nächst auch unmerklich, wieder ab.
ein leises, klägliches Piepsen, der Großpapa stand. Das Letzte Viertel erreicht der Mond an der kam herbeigerannt, sah etwas Weißes, das eilig nach der Küche flüchtete, und auf dem Boden verstreut ein paar kleine weiche Brust- federn, die sich leicht in dem durch das Oeff- nen der Tür entstandenen Luftzug hin und her bewegten. Ein lauter Aufschrei! Vergebens suchte ihn die alte Frau zurückzuhalten. Er nahm sein Gewehr und eilte wie von Sinnen nicht nach dem Haus der Nachbarin, Nein die Katze, ja die Katze die Nachbarin wollte der Alte töten! Dort vor ihren Augen! Und als er sie im Eẞzimmer ruhig auf der Kredenz sitzen sah, schoß er zweimal- dreimal! Bis nach ihr. Einmal schließlich der Sohn der Nachbarin, ebenfalls mit dem Gewehr in der Hand, herbeigelaufen kam und auf den Alten schoß.
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unmittelbar
Eine schreckliche Tragödie. Unter lautem Geschrei und Wehklagen brachte man den
Im Juni können alle mit bloßem Auge sichtbaren Planeten und dazu noch Neptun beobachtet werden, während der ebenfalls nur dem bewaffneten Auge zugängliche Uranus am 13. in Konjunktion zur Sonne steht und daher unsichtbar ist. Die erste Monats- hälfte bringt eine Sichtbarkeitsperiode des schwie- rigen sonnennächsten Planeten Merkur, der am 17. seine größte östliche Abweichung von der Sonne er- reicht und daher am Abendhimmel bis zu 20 Mi- nuten gesehen werden kann. Sein Nachbar, der ler als die Sonne. Er verlängert daher seine Sicht- barkeitsdauer am Morgenhimmel um etwa 10 Minu- ten auf 25 Minuten. In seiner Nähe taucht nun auch
andern Zugang finden, um ihren Distelfink sterbenden Großvater, der tödlich in die Brust Morgenstern Venus, bewegt sich zurzeit etwas schnel- aufzufressen?
Und war es nicht zuviel verlangt, daß die Katze wissen sollte, daß jener Distelfink dort der ganze Lebensinhalt der zwei alten Leut- chen war, weil er ihrem toten Enkelkind ge- hörte, das ihn so gut abgerichtet hatte, aus seinem Bauer ins Zimmer zu fliegen? War es nicht zuviel verlangt, daß sie wissen sollte, daß der alte Großpapa, der sie einmal dabei ertappt hatte, wie sie durch das geschlossene Fenster ins Zimmer spähte und den sorglosen Flug des Distelfinks verfolgte, aufgeregt zu ihrer Besitzerin gerannt war und ihr gesagt hatte, es solle ihr schlimm ergehen, wenn er sie noch einmal dort ertappe. Dor: Waa Und wo? Die Herrin die Grceiv das Fenster den Distelfink?
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net Jupiter ist von der Abenddämmerung an bis
getroffen war, nach Hause zu seiner alten Frau. Die Katze aber erinnerte sich schon einen Augenblick später nicht mehr daran, daß sie den Distelfink aufgefressen hatte. Irgendeinen der noch recht lichtschwache Mars südlich der Ple- Distelfink. Und sie hatte nicht einmal begrif- jaden auf und kann gegen Monatsende schon über fen, daß der alte Mann auf sie geschossen eine Stunde beobachtet werden. Der große Pla- hatte. Sie hatte bei dem Schuß einen großen Satz gemacht, war davongerannt und saẞ nun leuchtendweiß und ganz ruhig dort auf dem dunklen Dach und sah nach den Sternen, die am tiefschwarzen Nachthimmel standen. Und sie schauten sicher nicht auf die Dächer des armen Dörfchens zwischen den Bergen herab, sondern funkelten so lebhaft dort oben, daß man hätte schwören mögen, daß sie nichts anderes sah'n in jener Nacht.
( Berechtigte Uebertragung aus dem Italienischen von Theodor Lücke)
in die späten Morgenstunden über dem Horizont und geht im Sternbild Waage zu Monatsbeginn ge- gen 5 Uhr und am Monatsende gegen 24 Uhr unter. Saturn, der Ringplanet in der Nähe der Präsepe im Krebs aber ist nur noch am Abendhimmel zu sehen und eilt der Sonne so schnell zu, daß er zu Mo- natsende in ihren Strahlen verschwindet. Der ferne Neptun aber kann in der Jungfrau rechts unterhalb von Gamma, Virginis gefunden werden.
Aus technischen Gründen kann der Roman erst in der nächsten Nummer fortgesetzt werden.