Neo. 124.

56. Jahrgang.

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Die allgemeine Lage.

In unterrichteten Kreisen wird die gegenwärtige politische Situation Europa's im allgemeinen überwiegend friedlich angesehen. Dies gilt, und ersichtlich mit gutem Grund, als der tatsächliche Niederschlag der Ver­muthungen und Gerüchte, die während des Sommers und in den ersten Herbstwochen über die Welt geflogen sind und eine Zeit lang den politischen Horizont etwas verdunkelt hatten. Jetzt kümmert sich fast Niemand mehr um die feinfühligen Untersuchungen, bezüglich der wichtigen Ergebnisse, welche die Begegnungen und Unterredungen der verschiedenen Monarchen oder ihrer Minister während des vergangenen, angeblich so verhängnißvollen Viertel­jahrs erzielt haben sollten. Der Berliner Frieden von 1878 ist unversehrt. Weder die Kaiser von Deutschland und Oesterreich, noch Bismarck und Kal- noky haben seinen Bestimmungen etwas hinzugefügt oder abgezogen. Bul­garien und Ostrumelien sind noch immer durch die Grenze und die Pässe getrennt, welche der Congreß vor einem halben Jahrzehnt zur Abdämmung panslavistischer Uebergriffe weislich errichtet hatte. Auch der österreichische Marsch über Mitrowitza hinaus und nach Salonichi hin, von unruhigen Zeitungspropheten wer weiß wie oft verkündet, läßt noch immer auf sich warten. Die Türkei beschäftigt sich mit der Ausarbeitung von Reformen, verspricht nach wie vor deren demnächstige Ausführung, blickt sorgenvoll in die Zukunft unk> fühlt sich vorläufig durch ihre guten Beziehungen zu dem deutsch-österreichischen Bündniß gesichert, welche die günstige Ausnahme Muk­thar Pascha's bei dem Reichskanzler in Friedrichsruh kürzlich wieder deutlich hervortreten ließ. Der Friedensbund vom Oktober 1879 (zwischen Deutsch­land und Oesterreich) bleibt der feste Kern in der Ereignisse Flucht und wird noch andere Gefahren überdauern, als sie ihm die zahllosen gewagten Combinationen bereiten konnten, die an einige Zuckungen auf der Balkan­halbinsel oder an das englisch-russische Gabelfrühstück im Hafen von Kopen­hagen geknüpft wurden. Rußland, das heißt die bekannte moskowitische Partei, hat in Bulgarien und Serbien empfindliche Niederlagen erlitten. Die Allianzfähigkeit Frankreichs hat durch die spanische Tragikomödie einen Stoß erhalten und wurde gewiß auch durch den Sturz des kriegslustigen Ministers Thibaudin nicht aufgebessert. So haben die letzten Ereignisse die von ruhigen Beobachtern festgehaltene Friedenszuversicht gerechtfertigt, und diese konnte auch durch das Hin und Her der Nachrichten und Dementis, welche die vermeintlich geplante Zusammenkunft des Kaisers Wilhelm mit dem russischen Zaren hervorrief, selbstverständlich nicht gestört worden. Nur die Lage in Frankreich ist an sich eine so besorgnißerregende, einer schweren Krisis zutreibende, daß es allerdings nicht äußerer Verwickelungen bedarf, um die Hüter des europäischen Friedens mit schweren Bedenken zu erfüllen. Doch auch hier ist Alles, was man thun kann und thun wird, den Brand, der an der Seine auszubrechen droht, auf Frankreich zu beschränken. Zwar bleibt alsdann noch immer die Gefahr, daß Europa interveniren muß, wenn die schlimmen Elemente wieder die Oberhand gewinnen sollten. Diese Mög­

lichkeit ist leider nicht ausgeschlossen, doch zu hoffen, daß es dem gegen­wärtigen Leiter der Geschicke Europa's gelingen wird, auch diese Gefahr zu beschwören. _

Politische Nachrichten.

Die Feier

Deutsches Reich.

des 52. Geburtstages des deutschen Kronprinzen, welche dießmal mit der 70. Gedenkfeier der Schlacht bei Leipzig zusammengesallen ist, wurde zwar aus ausdrücklichen Wunsch des Kronprinzen in aller Stille begangen, doch ist seiner nichtsdestoweniger überall im deutschen Vaterlande gedacht worden, welches in ihm den dereinst- iaen Fortsetzer der glorreichen Regierung des Kaisers Wilhelm die Hoffnung für Deutschlands Zukunft erblickt. Graf Herbert Bismarck wird seine Stellung bei der deutschen Botschaft in London aufgeben, um als Ge- hülfe seines Vaters, des Reichskanzlers, zu dienen. In der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag haben an der deutschen Nordseeküste furcht­bare Stürme mit Gewitter und Hagelböen gewüthet. Die Rettungs­stationen an der Nordsee hatten alle Hände voll zu thun, um auf den Stationen Inst, Ostland, Kuxhaven u. s. w. Schiffbrüchige zu retten. Eine Anzahl Personen, resp. Mannschaften, welche insbesondere auf kleineren Fahr­zeugen in See waren, sind ertrunken. Weitere Meldungen über Schissbrüche sind noch zu gewärtigen. Vor dem Schwurgerichte zuCöslin haben die Verhandlungen wegen des Synagogenbrandes in Neustettin, welcher derzeit soviel Aufsehen machte und antisemitischen Hetzereien in die Schuhe geschoben wurde, begonnen.' Die Anklage lautet auf vorsätzliche Inbrandsetz­ung der Synagoge in Neustettin und ist gegen eine Anzahl von Mitgliedern der dortigen jüdischen Gemeinde gerichtet. Es sind über 90 Zeugen geladen und ist der Andrang des Publikums zu den Verhandlungen ein außerordentlicher.

Zum Krankenunter st ützungs wesen. Das neue Krankenversicherungsgesetz für Arbeiter tritt bezüglich der nöthigen Einricht­ungen mit dem 1. Dez. 1883, am 1. Dez. 1884 aber vollständig in Kraft. Mit dem 1. Dezbr. 1884 werden also alle Krankenkassen, welche bis dahin keine eingeschriebenen Hilfskassen geworden sind, für den Handwerker- und Arbeiterstand werthlos, weil von diesem Tage ab jeder be­schäftigte Handwerker und Arbeiter, einerlei ob alt oder jung, gesund oder krank, in eine von den Behörden nach verschiedenen Formen anzuordnende Zwangskasse eintreten muß, sofern er nicht einer eingeschriebenen Hilfskasse als Mitglied angehört. Es dürfte aber jedem moralisch gesinnten Hand­werker und Arbeiter zur besonderen Ehre gereichen, nicht erst die Zwangs- bestimmungen eines Gesetzes abzuwarten, sondern vorher schon einer einge­schriebenen Hilfskasse beizutreten, bezw. bestehende Krankenkassen in einge­schriebene Hilfskassen umzuwandeln oder neue Hilfskassen zu gründen. Die empfehlenswertheste Form, welche den eingeschriebenen Hilfskaffen zu geben wäre, ist die Form der allgemeinen freien Ortskrankenkassen, mit der Bei­trittsberechtigung ohne Unterschied des Berufs, weil dabei die Mitgliedschaft

(Nachdruck verboten.)

Jeuilleton.

Durch Liebe erlöst.

Original-Novelle von Karl Zastrow.

(Fortsetzung.)

Ein spöttisches Lächeln war in die Züge des Fremden getreten.Die Frauen sind doch im Allgemeinen ziemlich gleich", sagte er.Erzeigen Sie der Dame ihres Herzens Aufmerksamkeiten. Zeigen Sie sich beharrlich in Ihren Huldigungen, beständig in Ihrer Bewerbung und es wäre nicht unmöglich, daß Sie endlich ihr Herz erobern."

Berner verfiel in tiefes Sinnen.Dazu bin ich der Mann nicht", sagte er dann,ich erniedrige mich nicht so weit, daß ich um Liebe bettle, und mag nicht anmhmen, was mir nicht freiwillig geboten wird. Ich würde rhre Hand erhalten, das ist unzweifelhaft, aber ich mag die Hand nicht ohne das Herz, und auf die Möglichkeit hin, daß sich die Liebe allmälig in der Che finden könnte, riskirte ich es nicht. Im klebrigen danke ich Ihnen für' Ihren Rath, und nun leben Sie wohl."

Er streckte dem Fremden die Hand hin. Dieser berührte Sie leicht,, Während der ironische Zug um sein-e Lippen noch schärfer hervortrat. Er mH dem Doktor, welcher demnächst den Weg nach der Stadt einschkig, kopf- Uüttelrid nach, mmmelte etwas vor sich hin, das fast wieSchwachkopf, -Hasenherz" klang und setzte dann rascher seinen Gang fort.

Er war seiner Wohnung ungefähr bis auf 1000 Schritte nahe ge­kommen. Die stämmigen Linden zu beiden Seiten des Weges warfen so dichte Schatten auf denselben, daß er beinahe in vollständiger Dunkelheit wandelte. Nur hin und wieder zuckte das Mondlicht geisterhaft durch die rauschenden Wipfel. Dann war es, als huschten bleiche Nebelgestalten blitz­schnell unter seinen Füßen fort, welche die Phantasie auf eigenthümliche Weise anregten und einen Wanderer von lebhafter Einbildungskraft wohl mit der Vermuthung erfüllen konnten, daß auch Wesen von Fleisch und Blur seinen Weg kreuzten. Oder war dies etwa in der That der Fall? War diese leichtfüßige, schlanke, verhüllte Frauengestalt, die mit schnellen Schritten ihm entgegen flog, etwa kein Truggebilde? Noch ehe der Nachtwandler zu einer klaren Vorstellung gelangen konnte, schlug bereits eine Stimme an sein Ohr, deren Silberklang alle seine Nerven vibviren ließ.Gnädiger Herr!" tönte es, athemlos, fieberhaft schnell,wie gut, o wie gut ist es, daß ich Sie treffe. Sie sind in Gefahr, gnädiger Herr! Diebe wollen in Ihr Haus einbrechen. Der Zufall machte mich mit dem nichtswürdigen Complott be­kannt, das böse Menschen zu Ihrem Verderben geschmiedet haben. Eilen Sie, o, machen Sie schnell, daß Sie Ihre Wohnung erreichen."

Steinfels warf einen mißtrauischen Blick auf die an allen Gliedern zitternde Gestalt. Ein einfaches aber sauberes Kattunkleid schmiegte sich eng um ihren zierlichen Wuchs. Das dunkelbraune Shawltuch, welches sie zum -Schutz gegen die Nachtlust übergeworfen hatte, und welches sie jetzt bei der Musterung des Fremden unwillkürlich noch fester zusa-mmenzoz, ließ gleich­wohl die feinen Formen ihrer Gestalt ahnen. Eine Fülle blonder Locken drängte sich «nmuthig unter dem einfachen Strohchuke hervor, aber von ihrem