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Wie aus zuverlässiger Quellt die Voff. Z. erfährt, macht die Besserung des Kaisers täglich wesentliche Fortschritte. Nach Abnahme des Verbandes an der linken Hand ist e« bereits möglich geworden, stärkende Badungen deS linken Armes vorzunehmen, der Zeige- und Mittelfinger desselben sind allerdings noch ohne Gefühl, der hohe Patient kann aber doch schon mit einem Stock an der linken Hand das Krankenzimmer durchschreiten. Am Dienstag konnte auch der rechte Arm bereits in einer Drathschiene durch die Aerzte geschient werden. In Folge obiger Fortschritte in dem körperlichen Befinden des Kaisers ist auch ein merklicher Umschwung in der Stimmung des hohen Herrn eingetreten.
— Berlin, 28. Juni, lieber das Befinden des Mörders Nobt- ling erfahren nur von zuverlässiger Seite, daß dessen körperlicher Zustand sich wesentlich verbessert habe, sein geistiger dagegen noch nicht derartig sei» daß eine neue Vernehmung erfolgen könnte. Er verrichtet die nöthigen körperlichen Funktionen theilweise bewußtlos, so daß die Aerzte auf eine schwere Verletzung des Rückgrats die jedoch äußerlich nicht erkennbar ist, schließen. Die von ihm hin und wieder gesprochenen Sätze sind meist unverständlich. Behufs einer geistigen Anregung ist dem Nobiling eine Schiefertafel gegeben worden, worauf er mit einem Stift schreibt. Die von ihm niedergeschriebenen Worte haben oft einen verständlichen Zusammenhang, oft aber auch nicht; besonders bemerkenswerth ist, daß Nobiling bei seinen Schreibübungen zahlreiche Verstöße gegen die Orthographie macht. Dieser letztere Umstand beweist, daß die geistigen Funktionen Nobiling'S noch sehr schwach sind, da Nobiling» seinem Bildungsgrade nach zu urtheilcn, gewiß stets orthographisch geschrieben hat. Die ärztlichen Meinungsäußerungen über das Befinden Nobiling'S find dahin zusammenzufassen, daß er, falls nicht besondere Umstände ein- tretrn, körperlich wieder gesunden wird, und daß auch die Wiederherstellung seiner geistigen Fähigkeiten nicht unbedingt ausgeschlossen ist.
Sämmtliche Personen, welche unter dem Verdachte, mit Nobiling das Attentat geplant zu haben» verhaftet worden waren, find wieder in Freiheit gesetzt worden, ausgenommen diejenigen, welche gleichzeitig auch wegen anderer Vergehen (Betheilizung an geheimen Verbindungen, Mitwissenschaft vom Attentat rc.) verhaftet worden waren. Der jüngere Bruder Nobiling'S, welcher unter dem Verdachte der Theil- nähme in Eisleben verhaftet worden war, ist auf die Verfügung der Berliner Staatsanwaltschaft am Montag aus der Hast wieder entlassen worden. Die Nachforschungen nach dem Vorhandensein etwaiger Komplicen des Nobiling werden fortgesetzt.
— Berlin, 28. Juni. Der ReichSanz. publizirt das Gesetz, betr. die TabakSenquete und die Ernennung des Grafen Stolberg zum BundeSrathsbevollmächtigtcn; ferner eine kais. Verordnung betr. die vorübergehende Einführung der Paßpflichtigkeit für Berlin auf Grund des §. 9 des Bundespaßgesetzes; danach muß bis auf Weiterer jeder in Berlin ankommende Fremde oder Neuanziehende sich durch Paß oder Paßkarte über seine Person auswetsen.
— Berlin, 28. Juni. Die „Nordd. Allg. Ztg." meldet: nach- dem Seitens des Kongreß-Präsidiums die Mittheilung über die konsultative Zulassung Griechenlands ergangen ist, und gestern von Athen die erforderlichen Akkreditive eingelangt sind, werden die Bevollmächtigten des Königs von Griechenland Delyannis und Rhan- gäbe nunmehr die bezüglichen Vollmachten überreichen. Es verlautet ziemlich bestimmt, die Wünsche Griechenlands werden dem entschiedenen Widerspruch der türkischen Bevollmächtigten begegnen und man frage sich, wie bei einer etwaigen Nichtanerkennung der bezüglichen Kongreß- beschlüsse diese zur Ausführung gebracht werden sollen.
— Berlin, 29. Juni. In der gestrigen Sitzung wurde von ollen Großmächten das Einschreiten Oesterreichs in Bosnien und der Herzegowina als wünschenswerth anerkannt. Einwendungen sind von den Türken erhoben worden, weitere Schritte diesen gegenüber sind abzuwarten. Seitens keiner Großmacht erfolgte irgendwelcher Widerspruch. Deutschland bezeugte ein warmes Interesse für Oesterreich, England und Rußland nicht minder. Wie es heißt, leiteten die eng- lischen Vertreter die Diskussion ein. Die Griechischen Angelegenheiten durften heute erstmals zur Sprache kommen. Die Griechischen Vertreter wohnten der heutigen Sitzung bei.
Die »Times" hört aus guter Quelle, daß Salisbury seine Rückkehr und das Ende des Kongresses auf den 6. Juli festgesetzt habe. Der „Daily News" zufolge, nahm Gartschakoff am 26. zum letzten Mal am Kongreß Theil; sein Rücktritt sei gewiß und Schu- waloff zum Nachfolger bestimmt.
Gestern hat man den Ministern Rumäniens, allerdings nur in officiöser Weise, aber sehr klar und unumwunden eröffnet, daß Rumänien in die von Rußland gewünschte Transaktion ohne weiteres Widerstreben einzuwilligen habe; im andern Falle werde der Kongreß beschließen und dccrctiren: „Die bisher der Türkei tributpflichtigen vereinigten Donaufürstenthümer haben aufgehört zu existiren. Der
europäische Kongreß errichtet ein neues unabhängiges Rumänien, dessen Grenzen und Rechte er nach seinem Ermessen bestimmt". Begreiflicher« weise sind die rumänischen Minister darüber außer sich, und sie sprechen davon, daß sich die Rumänen bis auf den letzten Mann erheben würden, um solche Beschlüsse teS Kongresses mit den Waffen in der Hand zu b-.ämpfen.
— StronSberg'S Konkurs schwebt jetzt vor dem Berliner
Stadtgerichte. Er hat seinen Gläubigern einen Vergleich angeboten, wonach er ihnen binnen drei Jahren 3 Prozent ihrer Forderungen aus» zuzahlen sich anheischig macht. Da seine Schulden sich auf 70 Millionen belaufen, so würde er immerhin über 2 Millionen
ouszuzahlen haben.
— Flensburg, 25. Juni. Ein schweres Unglück hat unsere Stadt betroffen. Heute Nachm. 4'/z Uhr ist auf der Schiffswerft auS bisher noch nicht aufgeklärter Ursache Feuer entstanden. Mit erschreckender Geschwindigkeit verbreitete es sich innerhalb weniger Minuten genährt durch die am Boden liegenden Späne und Kohlen über die ganze Maschinenhalle im Süden und Westen. An dem massiven Mittelgebäude macht es eine kurze Pause, ergreift nach einer Stunde auch dieses. Aber nun kann die Feuerwehr ihre Thätigkeit beginnen. Mit äußerster Anstrengung aller Kräfte gelingt es ihr Herr des Feuers zu werden und die nördlichen Gebäude zu retten, wo die Maschinen verfertigt werden. Die Schiffswerft beschäftigt 700 Arbeiter. So viel ich erfahren habe, sind trotz der Windeseile, mit der das Feuer um sich griff, alle gerettet. Aber Viele verlieren wenigstens auf Wochen ihre Nahrungsquellen. Auch für die Werft ist der Verlust groß, denn sie ist gerade jetzt in der Lage, mit Anspannung aller Kräfte arbeiten zu müssen. Um 8 Uhr konnte die Gefahr als beseitigt angesehen werden. Dieß günstige Resultat hat man wesentlich der Thätigkeit der Feuerwehr zu danken.
Posen, 27. Juni. Aus Kalisch wird soeben gemeldet: Die Verhaftungen dauern fort, bis jetzt sind über 200, darunter 10 Geistliche, Ungezogen worden. Die Straßen sind durch Militär abgesperrt. Es wird noch Militär erwartet, da weitere Unruhen befürchtet werden. Man schätzt den angestifteten Schaden auf über 200,000 Rubel»
— Wien, 28. Juni. Die Presse weist nach, daß die Lage der Türkei, trotz der gründlichen Amendirung der Verträge von San Stefano durch den Kongreß, noch ungünstig genug sei und die Pforte nur einen sehr beschränkten Rayon unmittelbarer Herrschaft behalten werde. Im Falle, wie es scheine, die Türkei sich ihrem Schicksale füge- wäre die Ruhe im Orient wenigstens auf einige Jahre wieder gesichert.
Paris, 24. Juni. Der Kammerausschuß zur Prüfung der Staatsrechnungen von 1870—71, sagt der „Temps" hat eine ziemlich merkwürdige Entdeckung gemacht. Er hat nämlich festgestellt, daß die Civilliste Napoleons III. jedes Jahr die von den Kammern bewilligte Ziffer von 25.000,000 Frs. erheblich überstieg. Einige Male belief sie sich auf 34 und 35, oft auf 30 Millionen. Der Verkauf von Grundstücken, die zu der sogenannten Krondomäne gehörten, bot dem Kaiser das Mittel, sein Einkommen in dieser Weise zu erhöhen. Diese Veräußerungen geschahen ohne Ermächtigung der gesetzgebenden und lediglich kraft der persönlichen Gewalt Napoleons NI. Derselbe hat also sechsundzwanzigtausend Hektaren Domänenwaldungcn verkauft, welche nach dem Sturze des Kaiserreichs dem Staate hätten heimfallen müssen.
London, 27. Juni. Ein im Ministerium des Auswärtigen angestellter Schreiber, Namens Marvin, wurde unter der Beschuldigung das englisch-russische Memorandum dem „Elobe" mitgelheilt zu haben,, heute vor die Magistratsbehörden gestellt.
London» 2g. Juni. Aus der Gerichtsverhandlung gegen Marvin geht hervor, daß derselbe am 30. Mai zwei höheren Beamten behilflich war, Abschriften des englischrusstschen Memorandums anzufertigen. An demselben Tage veiöffentlichste „Globe" in einer Spezialausgabe da« Resuuich des Dokumentes. Später kopirtr Marvin den Text des Memorandums, welchen „Globe" ebenfalls veröffentlichte. Die weitere Verhandlung wurde bis zum 6. Juli vertagt.
Konstantinopel, 18. Juni. Vor etwa 8 Monaten sandte die Königin von Sachsen 10 graue Schwestern hierher und stellte sie dem Zentralkomite des rolhen Kreuzes zur Verfügung. Diese Schwestern kehren, da nun das Wirken des r. Kr. so gut wie zu Ende ist, in ihre Heimat zurück und der Sultan sprach den Wunsch aus, denselben vor ihrem Scheiden persönlich seinen Dank für ihre Thätigkeit auSzu- drücken. Sie wurden daher in Hofcquipagen nach Iildiz Kiosk geführt, wo der Sultan sie empfing und jede eigenhändig mit einem Okden auszeichnete; hierauf wurden sie in einem andern Gemache des KtoSk bewirthet und der Palastmarschall händigte einer Jeden beim Scheiden zur Bestreitung der Reisekosten einen Seidenbeutel, eine Summe - Geldes enthaltend, ein.
Redaktion, Druck und «erlag v»n G. OelschlSgcr in Lat».