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— Obersontheim, 23. Mai. Die ,N.-Ztg. * schreibt: Der Volksglaube vermag noch andere als blvS physikalische Ursachen für die Entstehung der Winde anzugeben. Das Erhängen eines Menschen nämlich verursacht starken Wind. Dieser Glaube wird manchmal durch zufälliges Zusammentreffen bestätigt, so daß sich das Volk den» selben nicht nehmen läßt. Auch der gestrige Tag hat das Volk in diesem Glauben bestärkt, was mehrfache Aeußerungen zeigen. Testern Nachmittag hat sich nämlich in dem benachbarten Bühlerthann ein 68jähriger Mann vermittelst des Strickes ins Jenseits befördert, und war dieser Tag einer der rauhesten und zugleich windigsten Maitage. Dieser Wind aber verdankt seine Entstehung nur dem Selbstmorde des Unglücklichen, so folgert und schließt unser Volk.
— Reutlingen, 28. Mai. Ein alter Mann lebt hier seit einigen Wochen allein in seinem Hause, da seine Frau, um in ihrer Krankheit besser verpflegt werden zu können, von einer Tochter ins Haus ausgenommen worden war. Gestern Abend nun schrieb derselbe auf einen Zettel: „Meine Herren, ich thue das aus Verzweiflung, weil ich so allein bin." Hierauf holte er sich einen Kübel, stellte ihn neben den Tisch, öffnete sich die Pulsadern und ließ das Blut in das Gefäß laufen. Jedoch ehe es mit ihm zu Ende ging, kam die Hausfrau und holte Hilfe: Der vedauernswerthe ist sehr schwach.
— Bruchsal, 28. Mai. In welch' abnormer Weise die Futterpreise im Laufe der letzten zwei Jahre zurvckgegangen sind, kann man, so theilt die „Krchg. Ztg." mit, au» den Preisen schließen, die für das Heu- und OehmdgraS im hiesigen „Bruch" nach und nach erlöst worden sind. Das Bruch, bekanntlich städtisches Eigenthum, 151 Morgen groß, bringt meist nur saueres Riedgras hervor. Dafür wurde erlöst: 1876 etwas über 19000 M., 1877 zwischen^ 11000 und 12000 M. und bei der Versteigerung vor zwei Tagen wurden nur 4995 M. erzielt.
— München, 31. Mai. In der Kirche zu Altheim bei Lands, Hut lösten sich von der Decke, während Bittgänger ihren Gottesdienst hatten, zwei Stücke der Wrißdecke los und stürzten auf den Altar. Die Menge, welche glaubte» die Kirche stürze ein, drängte trotz ab» mahnender Zurufe ungestüm zur Kirche hinaus und sind dadurch zahlreiche Verletzungen vorgekommen. Einer Frau und einem Kinde, die von der Menge zu Boden geworfen wurden, wurde je ein Arm förmlich abgetreten und gebrochen.
— Berlin, 28. Mai. Die Morgenblätter berichten üb-reinstim- «end: In Folge des gestern Mittag wie ein Lauffeuer sich verbreitenden Gerüchts von einem in London gegen den Kronprinzen verübten Alten- tat, wobei derselbe am rechten Arm schwer verwundet worden sei, wurde das Polizeipräsidium alsbald vom Stadtgerichtspräfidenten Krüger, vom Staatsanwalt Teffendors, dem Untersuchungsrichter Johl, vielen Rich- lern, Gelehrten, Künstlern u. s. w. ausgesucht, die etwas Näheres über den Fall hören wollten. Der Leiter der Kriminalpolizei, Polizeirath Pick, telegraphirte zur Beruhigung des Publikums und der Be- amtenkreise nach London und konnte alsbald die erfreuliche Antwort geben, daß kein wahres Wort an der Geschichte sei. Inzwischen ging die Behörde der Quelle auf den Grund, aus welcher diese Nach- richt stamme, und verhaftete einen Arbeiter, der sie in einem Schanklokale der Wallstraße erzählt hatte. Gegen diesen wird wohl die Anklage auf Verübung groben Unfugs erhoben werden.
— Chemnitz, 27. Mai. Aus gestern hatte der socialdemokratische Agitator ReichstagSabg. Most eine öffentliche Volksversammlung anberaumt, mit der Tagesordnung: Das Attentat auf den Kaiser und die Socialistenverfolgung. Mit dieser T. O. .wurde dir Erlaubniß nicht rrtheilt und darum die Tagesordnung umgeändcrt in das Thema: Das Reichsgesundheitsamt. Most schweifte jedoch auf die verbotene Tagesordnung ab und konstatirte bieß ausdrücklich, worauf er verhaftet wurde. — Das Chemn. Tagbl. veröffentlicht folgende Be- kanntmachung, nach welcher drei Beamte, deren Beruf rS ist, für die öff. Ordnung, Sicherheit und Ruhe zu sorgen, aus Anlaß der Vorgänge in der gestrigen Volksversammlung in einem anonymen Briese mit Ermordung bedroht werden: „Heute ist durch die Post ein Brief dem Herrn Polizriinspektor CariuS zugegangru, durch welchen dieser eben so wie Herr Staatsanwalt Schwerdfeger und der Unterzeichnete Polizeidirektor aus Anlaß der Vorgänge in der gestrigen VolkSversamm- lung mit Mord bedroht werden. Behufs der Ermittlung des Verfasser» liegt dieser Brief in der Hauptpolizeiwache zur Einsicht aus, und hat der Rath der Stadt Chemnitz eine Belohnung von 100 Mk. für Denjenigen ausgesetzt, welcher da« nächste Anhalten zur Ermittel- ung de» Verfassers an die Hand gibt. Chemnitz, am 27. Mai 1878. Das Polizriamt Siebdrat."
— Straßburg, 27. Mai. Ein schrecklicher Orkan Hot am Freitag Abend einige Stunden von Straßburg die Bäume in Reichste», Kil- stett. Gambshetm, HerliSheiw und Offendorf verheert. Zwischen 4 und 5 UHr^rach^in^rwitterauS»^er^tgev^loß^n^trömen^
schon seit einiger Zeit, jedoch nicht sehr stark, wehte, schlug plötzlich um und es entstand ein Orkan, welchem nichts widerstehen konnte. In einem Nu war die Luft mit Baumzwetgen und Aestrn angefüüt» die stärksten Bäume wurden entwurzelt oder geradezu abgebrochen; die Felder find gänzlich verheert. In allen Dörfern, wo der Sturm hauste, wurden die' Dächer der Häuser weggeriflen. Der Schaden ist beträchtlich. In Offendorf wurden 7 Häuser buchstäblich zertrümmert; kein Hau« blieb unbeschädigt, kein Baum blieb stehen. Viele Einwohner sind obdachlos, viele Personen sind durch die geschleuderten Trümmer verletzt. Zwei Personen, welche auf einem Leiterwagen fuhren, wurden umgeworfen, sie mußten sich an Bäume anklammern, während einige Schritte von ihnen dicke Platanenbäume vom Orkane unten am Stamme durchbrachen.
— London» 29. Mai. Das Gerücht von einem angeblichen Attentate auf den deutschen Kronprinzen hat seinen Ursprung in dem am letzten Sonntag vor der deutschen Botschaft von einer Anzahl deutscher Sozialdemokraten gemachten Versuche, die Ueberreichung einer Loyalitätsadreffe der deutschen Arbeiter Londons an den Kronprinzen zu verhindern. Die Sozialdemokraten, durch einige Franzosen verstärkt, rottrten sich zusammen, sangen die Marseillaise und riefen: nieder mit dem Kronprinzen! Schließlich brachte die Polizei die Tumultuanten auseinander.
— London, 50. Mai. Der Kronprinz empfing heute eine Abordnung der hiesigen Deutschen, welche unter Führung des Baron- Schröder eine über tausend Unterschriften tragende Adresse überreichte. Der Kronprinz drückte seinen herzlichen Dank aus.
London, 31. Mat. Globe schreibt in einer Sonderausgabe: er habe guten Grund zu glauben, der Zusammentritt de» Kongresse» sei definitiv gesichert. Die Regierungen Englands und Rußlands seien einverstanden, folgende Punkte der Entscheidung des Kongresses zn unterwerfen: 1) Herstellung zweier bulgarischer Provinzen, die eint nördlich des Balkans unter einem Fürsten, die andere südlich, das ägäische Meer nicht berührend, mit einem christlichen Gouverneur und einer den englischen Kolonien ähnlichen Regierung. Der Kongreß bestimmt den Namen des letzteren. 2) Die türkischen Truppen räumen letztere Provinzen und kehren nicht zurück. 3) England bedauert die Wiederabtretung BeffarabienS, tritt derselben aber nicht entgegen. 4) England behält sich das Recht vor, im Kongresse die internationalen Abmachungen in betreffs der Donau zu erörtern. 5) England betrachtet den Besitz Batums nicht als Rechtfertigung zu feindlichem Einschreiten; Rußland verspricht, die Grenze in Asien nicht weiter vorzurückcn. 6) Rußland tritt auf Englands Ersuchen Bajazid wieder ab, die Türkei tritt aber dafür die Provinz Kotour (?) an Persien ab.
7) Rußland verspricht die ihm schuldige Geldentschädigung nicht mittelst Gebiet zu decken, noch in Englands Ansprüche als Gläubiger der Türkei sich zu mischen. Der Kongreß wird die Zahlungsfragt erörtern.
8) Der Kongreß trifft Vorkehrungen, EpiruS, Thessalien und dir anderen griechischen Provinzen zu reorganisiren. 9) Rußland erklärt sich einverstanden, daß die Durchfahrt der Dardanellen und des Bosporus im Status guo bleibe. 10) England schlägt dem Kongreß vor, daß Europa Bulgarien reorganistre und wird die Okkupation Bulgariens durch Rußland und den Durchmarsch der Truppen durch. Rumänien erörtern.
Rom, 29. Mai. Es ist heute eine bedauerliche Nachricht für die ital. Landwirthschaft zu verzeichnen, nämlich der Einfall von zwei mächtigen Kolonnen von Heuschrecken. Die eine derselben hat sich auf das westliche Sizilien geworfen und einzelne Schwärme derselben find bereit« auch in Sardinien eingetroffen; die andere hat die Richtung, von Kalabrien, Apulien und Benevent eingeschlagen und ihre Vorposten find schon in der römischen Provinz sichtbar geworden. Während man in diesem Jahre die besten Aussichten für die Ernte hegt, könnten diese bösen Gäste für eine und die andere PrM»z eine gar arge Landesplage werden.
St. PeterSburg, 24. Mai. (Korr.) Kaiser A.exander hat bei Gelegenheit der Verleihung einer Fahne an eines der Garde-Reserve- Bataillone zu den Mannschaften des BataillooS gesagt: Ich hoffe, Kinder, daß ich nicht nöthig haben werde, Euch in dm Krieg zu schicken. Ich werde Alles daran setzen, was in meinen Kräften steht, um Euer mir so thrureS Leben zu schonen. Wenn ihr auch lieber in den Krieg ziehen würdet, so werde ich doch Alles thun, um unfern Frieden zu bewahren!
Konstantinopel, 25. Mai. »Außer den Archiven de» Justizministeriums, welche mit denen des StaatSratheS durch das Feuer in der Pforte zerstört wurden» find Gelder im Betrage von über 300,000 Pfd. Str., die daselbst von Prozeßführern drponirt lagen, abhandm gekommen. Da» Feuer ist erwiesenermaßen das Werk von Brandstiftern. Biele Wächter des Gebäudes sind verhaftet worden, darunter mehrere Flüchtlinge, die erst jüngst als Wächter angestellt worden."