Diesend liebte seine Kinder ebenfalls zärtlich und erbot sich daher zu deren Pflege und zum Nachtwachen. Allein die Kranken wollten lieber von der Mutter als von dem Vater bedient sein, und was das Wachen anbelangte, so schlief der Wächter schon in der ersten halben Stunde fest auf dem Stuhle neben dem Bette ein. Am Nachmittage des Sonnabends bemerkte Frau Tiefend an ihrem Manne eine von Minute zu Minute anwachsende Unruhe, die ihn wiederholt in die Krankenstube trieb, um sich nach dem Befinden der beiden Kranken zu erkundigen. Ach die arme Frau errieth die Ursache davon nur zu gut und zwar mit tiefem Schmerz. Auch bewies die Folge, daß sie nur zu richtig gcrathcn hatte, indem Meister Diesend sich zum Wachen in der bevorstehenden Nacht erbot und zugleich hinzusctzte:
„So kannst Du, liebes Weib, bis um vierUhr Morgens ausschla- fen, dann wecke ich Dich nnd gehe, um mich ein wenig zu zerstreuen und den Schlaf aus den Augen zu reiben, etliche Stunden auf den Vogelheerd hinaus. Noch vor der Mittagszeit bin ich wieder zurück und finde dann, so unser Herrgott will, unser Milchen außer Gefahr."
Frau Diesend bekämvfte ihren Schmerz über dieser Rede ihres Mannes, welchem die Vögel über seine Kinder zu gehen schienen, und versetzte sanft: „Ach lieber Heinrich! keine Minute könnte ich ruhig schlafen, wenn ich Dich allein bei unfern Kinder wachen wüßte. Du passest nun einmal nicht dazu. Und wenn Du früh um 4 Uhr auf den Vogelheerd gehen willst, so kannst Du Dich in dem finstern Walde verlaufen oder gar von Räubern angefallen werden. Dann hätte ich doppelte Angst auszustehcn. Wenn Du nun einmal nicht von dem Vogel- Heerde lassen kannst, so mache Dich in Gottes Namen noch heute und bei Tag auf den Weg. Unser Herrgott bleibt bei mir und in seine Hand befehle ick das Leben unserer Kinder."
^Jch will ja nur wenige Stun-
, den wegbleibcn —" entschuldigte sich Diesend — „Hier bin ich nichts nütze mit meiner Aengstlichkeit und meinem Ungeschick. Dagegen verspreche ich ! mir morgen früh einen reichen Fang !und zudem will ich die Kosten für den Vogelheerd dock) nicht ganz umsonst ausgegcben haben."
Gleich dem Spieler, den es um die gewohnte Stunde wie bei den Haaren nach dem Spieltische hinzieht, eilte auch Meister Diesend noch gegen Abend davon und auf seinen Vogelheerd hinaus.
In derselben Nacht erreichte Emiliens Zustand den höchsten Gipfel der Gefahr. Die geängstete Mutter mußte ihren Sohn Andreas hcrbei- rufen, weil sie allein nicht die wild phantasirende Kranke zu bewältigen vermochte.
„Laßt mich los!" rief Emilie unter den Händen ihrer Wächter — „Die Vögel kommen! Sie fressen Alles weg! Sie hacken mir nach den Augen! Jn's Herz! Hu! wie ist der Himmel so roth! Wie brennt er! Und schon wieder die Vögel! Wie ihre Flügel rauschen! Piep! piep! piep! zschi! zschi! zschi! O wie schlecht ihr singt!"
„Andreas!" bat die verzweifelnde Mutter ihren Sohn — „wecke den Lehrburschen auf. Er soll zum Doktor hinspringen und ihn herbeiholen. Ich fürchte, daß uns Emilie unter den Händen stirbt."
„Der Doktor könne nicht kommen" — berichtete der fortgeschickte und nach einer Weile wiederkehrende Lehrling — „er befinde sich selbst nicht wohl. Sie sollen ein leinenes Tuch in recht kaltes Wasser tauchen und auf Emiliens Kopf legen, auch den Umschlag oft erneuern. Sonst könnte Emilie leicht Gehirnentzündung bekommen.
Wie? kaltes Wasser auf Emiliens glühendes Haupt bringen? Ach, mußte dieser schnelle Wechsel von der größten Hitze zur eisigen Kälte nicht einen tödtlichen Schlagfluß erzeugen? Und die Mutterhand selbst sollte dieses Wagniß unternehmen? Ach, der Doktor war für die letzte Kur noch nicht bezahlt und cs daher
kein Wunder, wenn er jetzt weniger Sorgfalt und Eifer bezeigte. Auch daran war die Vogclliebhaberei schuld.
Wie gern hätte es jetzt Frau Diesend gesehen, wenn ihr Mann gegenwärtig gewesen wäre! Dann hätte sich die Verantworlichkeit des zu wagenden Schrittes auf ein Schulternpaar mehr vertheilt und leichter der Entschluß dazu sich fassen lassen.
Mit zitternder Hand holte Frau Diesend ein Leinentuch herbei und tränkte eö mit frischem Wasser. War eS ihr doch selbst, als berühre sie des Todes kalte Knochenfaust, indem sie das eingeweichte Tuch emporhob und ein wenig ausdrückte. Einen Blick voll brünstigen Flehens warf das Mutterherz gen Himmel und — daS nasse Gespinnst legte sich auf Emiliens Haupt. Der irrende Mund verstummte und still lag die Kranke, welche die Mutter vom Schlage getroffen und im Verscheiden wähnte. Allein diese Furcht erwies sich als nicht gegründet und das ermuthigte die Mutter, mit den kalten Wasserumschlägen beharrlich fortzufahren. Gegen Morgen hob Emilie mit leiser Stimme zu sprechen an:
„Liebe Mutter, ich sterbe. Wo ist denn der Vater?"
„WaS soll er, Kind?" versetzte die Mutter und das Herz drohte ihr zu brechen.
„Ich wollte Abschied von ihm nehmen, ehe ich zum lieben Gott gehe" — antwortete das Kind.
(Forts, folgt.)
Riithsel.
Wer löst des Wortes Doppelsinn?
Es tönt, wenn Zwietracht Krieg begehrt. Und ist doch treuer hiebe Wunsch.
Die Mutter hört s mit bangem Schmerz, Bctrisst'S re» waffenfäh'gen Sahn:
Die Mutter hört? mit sreudgem Stolz, Gilt's dem verlobten Töchterlein.
Dort rnst der Staat zu schwerer Pflicht, Hier gicbt die Kirch' ein heil'ges Recht. Wer löst des Wortes Doppelsinn?
. Sonntag, den 7. Februar, werden predigen: Vormittags Herr Dekan Heberle, Nachmittags Herr Helfer Nie ge r._
Revigirt, gedruckt und verlegt von A. Oelschläger.