die laut auffordcrn zur Liebest!,at. Und plötzlich gedachte er eines Gedichtes von Hebel: Mitleid im Winter. Wie die mahnende Stimme eines Engels tönten die Verse durch seine Seele:
„In meinem Stnbckicii lst's bequem,
Jst's lieblich, hübsch und angenehm.
Doch manche Mutter, Gott erbarm, Nlmnit's Klndlein nackend auf den Arm. Lie bat kein Hemd, hört's kläglich schrei'», Und wlckelt'S in die Schürze ein.
Sie hat kein Holz, sic hat kein Brot.
Und klagt dem lieben Gott die Noth. Friert's noch so stark, das Mutterherz Thaut doch die Thräne ans im Schmerz, Der Winter ist ein rauher Mann:
Wer nimmt sich Wohl der Armen an? Geh' hin und bring der armen Seel'
Ein wciüeS Hemd, ein Säcklein Mehl,
Ein Bündchen Holz, und sag' ihr dann Das: sie auch zu u»S kommen kann, lim Vrod zu holen immer frisch.
Und dann deck auch für uns den Tisch!"
Solche Gedanken, sagte er sich, müssen verbreitet werden, und — da kam ihm plötzlich ein Gedanke in die Seele: Dieß Gedicht soll abgedruckt werden in einer der größten Zeitungen, dann fliegt cs dahin nach Nord und Ost, nach Süd und West und klopft mit seinem mahnenden Wort an tausend von Herzen an! Und gerade jetzt in den kalten Tagen, jetzt wird es wirken.
Die Uhr schlug vom nahen Thurme acht. Scheuerlcin begann seinen Unterricht, sbald darauf kam Elise. Sic gab dem Lehrer die Hand und dankte mit leiser Stimme. Ihr Ge- sichtchcn hatte die Freude erröthet, eine innige Freude glänzte aus ihren Augen.
Eine Chat und ihre Folgen.
Um zehn Uhr versammelten sich die Lehrer in einer Klaffe. Scheuerlcin kam mit dem Gedichte in der Hand zu ihnen. Er bat, es vorlesen zu dürfen, da er in Bezug auf dasselbe eine Bitte habe. Als er gelesenhatte, sagte er: „Lieben Freunde, mein inniger Wunsch war es, daß das Gedicht in der Zeitung abgedruckt würde. Die Zeitung hat mindestens zehn Tausend Abonnenten. Nach Berechnung wird jede Zeitung von zehn Menschen, das Gedicht also von 100,000 Menschen gelesen wird. Ich habe die innige
Ueberzeugung, daß von je hundert Lesern gewiß einer durch dieß herrliche Gedicht zu einer milden Lhat gegen Arme bewegt wird. Wäre die Rechnung richtig, so würden im Ganzen tausend Menschen für eine Liebesthat gewonnen werden. Nun habe ich berechnet, daß die Jnsertionö- kosten etwa 1 fl. betragen würden. Wir sind unser zehn Lehrer an der Schule. Wie wäre es, lieben Freunde, wenn wir uns entschlössen, jeder 6 kr. für diesen Zweck zu verwenden?" — Alle griffen nach der Börse und legten ihre Beiträge in die Hand des Lehrers, nur einer der Lehrer zögerte. „Ich will meine 6 kr. geben, sagte er, aber dann wollen wir sogleich etwas für einen Armen thun und uns nicht auf solche problematische Berechnungen einlassen. Das Elend ist m der Welt. Jeder sieht's vor Augen und ich bin überzeugt, daß Derjenige, der nicht durch den Anblick des wirklichen Elends zum Milleide bewegt wird, auch durch solch ein Gedicht nicht zu gewinnen fft." Man stritt über diese Acußerungcn. „Liegt in der Kraft der Rede, in der Musik der melodischen Verse nicht ein eigcnthümlicher Zauber, hieß es, der ganz andere Stimmungen in uns erweckt, als die sind, die das prosaische Leben in uns hervorzurufen vermag? — Uebrigens sagte Scheuerlein, über den Erfolg erfreut, „schlage ich vor, daß wir Eins thun und das Andere nicht lassen. Helfen Sie mir meinen Vorschlag durchbringen und dann machen Sie einen neuen Vorschlag für eine Sammlung zum Zg»eck einer augenblicklichen Hülfe, und ich will dann Ihre Sache führen helfen." Der Lehrer blieb dabei, daß er von solcher Thätigkeit nichts erhoffe, doch wolle er, setzte er hinzu, dem Scheuerlcin zur Liebe seinen Beitrag zahlen.
Am nächsten Tage stand das Gedicht in der Zeitung. Scheuerlein hatte schon früh am Morgen nachgesehen. Gehe hin in alle Welt! sagte er mit hoffender Seele. Am Abende gab er den Kindern eines Stadtraths Privatstunde. Als er
gehen wollte, kam der Stadtrath in die Stube, in der Scheuerlcin war und sprach: „Sagen Sic mir, lieber Herr Scheuerlein, sollte eS denn wirklich noch Lehrer geben, denen cs so schlecht geht, wie es in einem Gedichte der heutigen Zeitung heißt? Es steht darunter: „Nach Hebel" und darauf folgen die Worte: Einige Volksschullehrer." Es ist noch manche Roth im Lehrcrstande, sagte Scheuerlein, aber so arg ist es in demselben denn doch nicht. Die Unterschrift „Einige Volköschullehrer" bedeutet ja nur, daß es von Lehrern eingesandt worden ist, nicht, daß sich der Inhalt auf Lehrer bezieht." „Sv wissen Sie also um die Sache?" fragte der Stadtrath. Scheuerlcin wollte nicht leugnen, sondern sagte: „Wir Lehrer der Armenschule sehen täglich die bittre Noth der Armen, und da haben wir denir in dem Glauben, daß ein so liebes, treues und herzliches Wort, wie es das Gedicht enthält, in manchem Herzen Anklang finden werde, dasselbe veröffentlicht." „Das ist herrlich!" erwiderte der Stadtrath. „Wissen Sic, ich hab's heut früh beim Frühstück meiner Frau und meinen Kindern vorgelesen, und ich kann Ihnen versichern, daß wir nicht zu denen gehören, die solche Stimme unbeachtet bei Seite legen. Da Sie übrigens, mein lieber Herr Scheuerlcin, manches arme Kind in ihrer Schule haben, so bitte ich, dies anzunchmen, und es in Gemeinschaft mit ihren College» im Interesse armer Kinder zu verwenden!" Dabei griff der Stadtrath in die Tasche und nahm eineHand voll Vierundzwanzig- und Zwölfkreuzerstücke hervor, die er dem Lehrer ungezählt hingab. „Mein Glaube hat mich nicht getäuscht!" sagte Scheuerlein in freudiger Rührung und drückte dem Stadtrath die Hand. Da kam ein Schwager des Stadtraths, ein reicher Apotheker. „Halt", rief letzterer voll Begeisterung, der muß auch noch etwas geben." Er theilte dem Schwager die Sache mit und derselbe gab mit wohlwollendster Miene zwei Thaler.
(Forts, folgt.)
Redlgrrt, gedruckt und verlegt von A. Oelschläger.