Emil Bürkle, Rohrdorf Bericht eines Amerika-Auswanderers über seine Jugendzeit in Rohrdorf Im Jahre 1980 erhielten wir ­meine Frau und ich- völlig unerwartet Besuch aus Ameri­ka. Ein uns unbekannter Ame­rikaner namens Wiebke und seine Frau kamen nach Rohr­dorf, um dort möglicherweise noch Verwandte seines Groß­vaters zu finden, der vor rund 100 Jahren aus Rohrdorf in die USA ausgewandert war Der Name dieses Auswanderers war Josef Hermann Reichert, einer von insgesamt rund 180 Rohrdorfern, die im Lauf des letzten und dieses Jahrhunderts nach Amerika gegangen sind. J.H. Reichert wurde 1865 in Rohrdorf geboren. Sein Eltern­haus war das nächst derSon­ne gelegene Haus Friedhof­straße 9. Nach der Volksschu­le erlernte er das Schuhmacher­handwerk bei Meister Georg Held. Vom damaligen Schullei­ter Haller wurder er bewogen, aufgrund seiner guten geistigen Fähigkeiten sich im Internat Löwenstern bei Weinsberg zum Lehrer ausbilden zu las­sen. Dort änderte sich sein Be­rufsziel. Von einem Pfarrer wurde er veranlaßt, in Ameri­ka eine Ausbildung als Pastor anzustreben. So fuhr er mit 14 anderen Burschen aus ver­schiedenen Gegenden in die USA. Am 5.9.1886 erreichte er New York. Im ev. Pilgerhaus dort gab es Essen und Über­nachtung, was 1 Dollar koste­te. Dies war sein letztes Geld, so daß es zur Weiterreise nach seinem Bestimmungsort St.Louis, Illinois, nicht mehr reichte. Der Leiter des Pilger­hauses verschaffte ihm andern­tags eine Stelle bei einem Herrn Jetter, der einen Lebensmittel­handel betrieb. Bei einem Monatsverdienst von 8 Dollars blieb Hermann keine andere Wahl als das An­gebot anzunehmen. Er arbeitete sich schnell ein, bekam entsprechende Aufbes­serung, bis er sich schließlich mit der Gründung eines Deli­katessengeschäfts selbständig machte, heiratete und 3 Töch­ter hatte. Gegen Ende seines Lebens wohnte er bei seiner Tochter Anna in New York, wo er im November 1942 starb. Sein Enkel, der eingangs er­wähnte Herr Wiebke, hatte noch eine besondere Überra­schung für uns bereit: eine 45­seitige, handschriftlich verfaß­teHistory of my Life(Le­bensgeschichte), die Reichert im Alter aufgezeichnet hatte. Sie wurde von uns photoko­piert und ins Deutsche über­setzt. Im folgenden werden daraus diejenigen Passagen zitiert, in denen er aus der Rückerinne­rung über seine Rohrdorfer Ju­gendzeit berichtet. Rohrdorf ist ein kleines Dorf, im Tale gelegen, rundum hohe Berge, im östlichen Teil des Schwarzwaldes. Es ist viel In­dustrie im Ort und es hat auch viele Bauern. Der Fluß Nagold teilt den Ort in zwei Teile. Er bewegt die Triebwerke der Fa­briken, welche sich an der Nagold angesiedelt haben. Ein anderer kleiner Bach(Wald­dorfer Bächle) fließt mitten durch das Dorf und mündet in die Nagold. Zuvor treibt er die Werke einer Werkstatt und ei­ner Mühle. Meine Eltern wa­ren Johann Georg Reichert und Rosine geb. Lodholz. Ich hatte noch 2 Schwestern. Als ich 3 Jahre alt war, starb meine Mut­ter, und wir Kinder wurden bei Verwandten untergebracht, bis mein Vater sich wieder verhei­ratete. Als ich etwa 4 Jahre alt war, hatte ich eine neue Hose be­kommen und stand auf der klei­ne Brücke, die mitten im Dorf über das Walddorfer Bächle führt. Wir Buben vergnügten uns mit dem Fang von kleinen Fischen, die wir teilweise zu Hause aßen oder mit denen wir spielten und auch wieder ins Wasser zurückwarfen, und da­bei fiel ich mit meiner neuen Geburtstagshose in den Bach. Eine Bauersfrau zog mich an Land und brachte mich nach Hause, voller Angst vor mei­ner neuen Mutter, die mir aus­drücklich verboten hatte, ans Wasser zu gehen. Aber sie war froh, daß nichts weiter passiert war.