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Denken und Empfinden seit alter Zeit. Wir sehen seine Lust zu fabulieren, Gehörtes im Weitererzählen auszuschmücken, am Lieblichen und Sinnigen sich zu erquicken, mehr noch am Grausigen und Schrecklichen, am Spuckhaften und Wunderbaren sich zu weiden, indessen man zur kalten Winterzeit behaglich um den warmen Ofen fitzt. Wir sehen die Phantasie im Dienst der Wißbegierde, sehen sie schweifen um einen unverständlichen Namen, einen absonderlichen Felsen, ein tiefes Gewölbe, ein altes Kirchlein, ein dunkles Schicksal oder sonst ein Geheimnis, dem am Hellen Tag mit dem Verstand nicht beizukommen ist. Auch vernehmen wir das Lachen eines gutmütigen Humors, der über die Torheiten und Schwächen der anderen, vielleicht auch die eigenen, spottet.
Die meisten Sagen aber sind ernst, ja tragisch. Da begegnen wir dem unauslöschlichen Sehnen des Menschen nach dem Glück, des Armen nach den Schätzen des Reichen, die ihm doch nimmermehr zu teil werden. Da sehen wir den Unterdrückten aufschauen vom Tal zur Zwingburg des Herren, der Macht hat über Leben und Tod. Wir hören aber auch den Trost des Armen, daß der Reichtum zerrinnt und der Stolze stürzt und daß Einer lebt, der den Guten und den Schlechten findet in gerechtem Gericht. Vielleicht ist es dieser fromme Glaube, diese tiefe sittliche Wahrheit, was der Sage ihr unsterbliches Leben verleiht, weil ein Geschlecht sie dem andern vererbt zu Trost und Warnung, damit die Ehrfurcht nicht sterbe vor dem Unsichtbaren und die Furcht nicht erlösche vor dem Bösen noch die Liebe zum Guten.
Wir aber freuen uns doppelt an der Sage, die ein Stück Heimat ist, weil unsere Ahnen sie erlebten und schufen und erzählten. Tief ist das Schweigen der Natur; verschollen ist das laute Treiben alter Zeit in Burg und Dorf und Stadt. Aber in der Sage dringt ein letzter, verirrter Ton an unser Ohr. Die Heimat selbst ist es die uns erzählt, und es verlangt uns, ihr zu lauschen.
Ragolder Schloßbergsagen
Von der Gräfin Jmma
Es war vor langer, langer Zeit, da bewohnte das Schloß Hohen- nagold der reiche und mächtige Eras Eerolt, dessen Schwester an Karl den Großen verheiratet war. Nun schickte einst der Kaiser seinen Schwager, dessen große Tapferkeit er kannte, ins Bayernland, daß er es gegen die Avalen verteidige. Ehe aber Graf Eerolt dorthin zog, ließ er tief in den Schloßberg hinein ein Gewölbe bauen und alle seine Schätze dorthin schaffen. Den goldenen Schlüssel zur Türe übergab er seiner Tochter Jmma. Nach vielen Jahren, als alle, die um das Geheimnis von dem Gewölbe wußten, bis auf Jmma gestorben waren, fiel der Graf in einer Schlacht gegen die Avaren und ward auf der Insel Reichenau im Schwäbischen Meer begraben. Als Jmma von dem Tod des Vaters hörte, brach auch ihr das Herz. Weil aber ihr letztes Sinnen auf den verborgenen Schatz ging, sollte sie schweben, bis er gehoben würde.