Ueber die Aussichten, welche der Diäten-Antrag der Fortschrittspartei bei dem Reichskanzler hat, schreibt man der „Boss. Z." Folgendes: „Wie wir aus Kreisen, die wir sür wohlunterrichtet halten dürfen, ei fahren, ist Fürst Bismarck der Ansicht, daß die Volks-Vertretungen nur dann ein lebendiges Bild der Bevölkerung zu geben im Stande feien, wenn die Parlamcnts- sessionen möglichst kurze Zeit in Anspruch nehmen, da sonst alle Diejenigen, die zu Hause eine Beschäftigung haben, sich nicht bereitwillig und mit voller Hingebung dazu tzerbeilassen könnten, als Wahtcandidaren aufzutreten. Rach seiner Meinung machen es nur kurze Parlamente möglich, daß alle Berusskreije sich die Zeit abmüßigen können, um dem Vaierlande als Volksvertreter zu dienen. Er hält es nur für eine Erfahrungs-Sache, daß diätenlosc Sitzungen immer kürzer seien, als diejenigen, bet denen Diäte» gegeben werden. Daß der — namentlich bei Diäten Eic- ivährnng — aus der Volksvertretung einen Lebensberuf machende Abgeordnete im Parlament vorherr,che, hält der Fürst nicht für- gut, da dann das Parlament keine wirkliche Volks-Vertretung sei, die unmöglich, stets im Sinne des Volkes und seiner augenblicklichen Siimmung, in lebendiger Verlrelung aller Berussklajsen wirken könne.
Das 2te Verzeichniß der beim Reichstag eingegangeuen Petitionen umfaßt 180 Nummern. Am zahlreichsten sind wieder die aus den Handwerkerkreijen hervorgegangencu Anträge auf Abänderung der Gewerbeordnung und die den Arbeilerkreisen entstammenden Erklärungen gegen die strafrechtliche Verfolgung des Koutraklbruchs vertreten. Auch bemerkt man wieder eine Anzahl Petitionen der Schuldhaft. Einzelne Eingaben beziehen sich auf den Bankgcsetzentwurf. Eine Reihe badischer Gemeindevertretungen bittet um Erhöhung der Verpflegungsgelder der bewaffneten Macht. Eine Anzahl Post- und Teiegraphendeamteu bittet um Gehaltsverbesserung. Der Kuriosität halber sei auch der Antrag eines Berliner Pclenlen erwähnt, zu veranlassen, daß das Zweimarckstück fortan auch Bismarck genannt werde.
Fürst Bismarck hat die Einladungen zu vier Sonnadend- Soirven nicht an alle Mitglieder des Reichstages ergehen lassen, sondern von dem Besuch derselben die Mitglieder des Centrums und der polnischen und der sozial demokratischen Gruppe ausgeschlossen.
Memel, 14. Nov. Der Gemeinde-Kirchenrath und die Gemeinde-Vertretung der evangelischen St.-Johannis-Gemeinde zu Memel haben in öffentlicher Satzung die Abschaffung sämml- licher seither an die Kirchenbeamten, Pfarrer, Prediger, Eamoren, Küster re. zu zahlenden Abgaben (Slotgebühren) beschlossen und die Kirchenbeamten auf ein fixirtes Gehalt gesetzt r>s leitete beide Körperschaften der Gedanke, daß das Accibeuzien-Wejen dem Zeit-Bewußtsein nicht entspreche, der Würde des Geililichen wie der Kirche schade und ohnehin nicht genüge, nachdem mit dem 1. Oktober die Civitstandesbcamten in Thätigkeir getreten seien.
Straßburg, 18. Nov. Das Verbrechen in der Börjch- mühle, von dem wir unfern Lesern seiner Zeit Millhcitung machten, kam heute vor dem Schwurgerichte bei verschlossenen Thüren zur Verhandlung. Der der Nolhzucht mit erfolgtem Tode des Opfers (Bertha Schwitzgäbele) angeklagte Müllerbursche Geyer wurde zu 15 Jahren Zuchthaus, zehn Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Tragung der Kosten verurtheilt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine lebenslängliche Zuchthausstrafe beantragt.
Metz, 17. Nov. Die „Zeitung für Lothringen" veröffentlicht heute den kais. Erlaß, nach welchem dem bisherigen Bezirks- Präsidenten, Graf v. A r n i m - B o i tz e nbu r g, die erbetene Entlassung aus seinem Amte bewilligt wird. Zugleich verabschiedet sich derselbe in einem Schreiben von dem Bezirke und motivirt seinen Rücktritt durch den „schweren Schlag, welcher ihn vor Kurzem durch den Tod seiner Frau betroffen habe".
Das neueste Elsäßer Journal schreibt: So ist es recht! Unsere ehrenwerthen Herren Abgeordneten fangen an hell zu sehen und ihr Mandat zu begreifen, wie sie es begreifen sollen; statt der blinden Leidenschaft scheinen sie der gesunden Vernunft Gehör zu geben, von der unfruchtbaren Gefühlspolitik zur fruchtbaren Geschäftspolitik überzugehen. Hr. Gerber Hat
heute Anspruch auf die Erkenntlichkeit aller seiner Mitbürger, und wir wünschen innigst, daß seine Kollegen sein kluges und patriotisches Beispiel iiachahinen, denn unsere Angelegenheiten im Allgemeinen und unsere Freiheiten insbesondere könnten dadurch nur gefördert werden." — (Es heißt übrigens, daß auch die elsäßischen Abgeordneten Hart mann und Pfarrer Philippi in den Reichstag eintreten werden.)
Bayo n n e, 20. Nov. Nachrichten aus San Sebastian zufolge mußten die dort eingeschifftcn Regierungstruppen in der Stärke von 4000 Mann, durch die Ungunst der Witterung ge- nöthigt, nach San Sebastian zurückkehren. Da ihre Rückkehr- unerwartet war, fehlten Lebensmittel. - (S. M.)
Weiter und Weiter. (Fortsetzung.)
Sic verließ ihn, um sich in der Stille satt zu weinen. Ach, ihr Rath war es ja gewesen, was seine Seele beschädigt hatte. Ob er in der Tiefe seines Herzens ihr nicht gram war?
Ec aß am Mittag mit besserem Appetit. „Warst Du diesen
Morgen bei der Großtante?" fragte er inzwischen. Sie verstand ihn. Ec meinte, daß sie die Papiere von dieser noch erst abzuholen habe, und sie erschrack davor, wie leicht sie den nothwen- digen Gang zu ihr unterlassen haben könnte.
„Ich werde in der dritten Stunde zu ihr gehen," erwiderte sie und bemerkte das zufriedene Lächeln, das diese Antwort hervorrief. Sichtlich hatte es sein Gcmüth doch sehr erleichtert, und diese Ueberzeugung versüßte ihr die Erinnerung an die verlebten schweren Stunden.
Sie fand die Großtante sehr aufgeregt.
„Denke Dir nur," sagte sie, „wie die einfältige Josephine mich erschreckte! Sie behauptet, es müsse am Sontag Jemand in meiner Wohnung und in meinem Zimmer gewesen sein, denn sie fand dieses'kleine Halstuch auf dem Hausgaug und im Wohnzimmer eine Nadel mit schwarzem Kopfe."
„Es ist ja Alles verschlossen gewesen, wie sollte denn das möglich sein?"
Aber Alles drehte sich mit ihr im Kreise, während sie ganz unbefangen dicß erwiderte. „Ich will Dir sagen, wie das zu- fammenhängt. Ich habe dem Mädchen ein Glas Punsch gegeben, das ist ihr in den Kopf gestiegen und sie hat mit vier Augen gesehen."
„Das würde ich auch sagen. Aber das Tuch und die Nadel sind doch Beweise," versetzte sie bedenklich.
„Die Nadel besagt gar nichts, die kann Jedem gehören und schon früher, ohne daß die Jungfer sie bemerkt hak/da gelegen haben; was aber das Tuch betrifft, so ist es am Ende das meinige, und Du hast es an Deinen Kleidern mit fort getragen, denn ich suchte cs vorhin, als ich zu Dir gehen wollte, und fand cs nicht. Es ist ein kleines, seidenes Knüpfiuch schwarz mit weißem Carre."
„Ganz richtig," fiel die Tante ein; „ja, so sieht es aus, und am Ende geht die Sache ganz natürlich zu. Ein Glück, daß Du kamst; ich wollte schon auf der Polizei Anzeige machen, und welchen Lärm um Nichts hätte das gegeben!"
„Du lieber Himmel, solcher Kleinigkeit halber!" rief Frau Ahlers mit einem Entsetzen, das wirklich tief empfunden war; denn ihr traten die Folgen solcher Nachforschungen vor Augen.
„Sage das nicht," wandte die Großtante ein. Man liest manchmal so grauenhafte Geschichten von an allein lebenden alten Damen begangenen Morde, daß ich mir wohl vorstellen könnte, irgend ein Bösewicht gehe damit um, auch mich um Gut und Leben zu bringen."
„Und statt dessen hat man euch noch was zurückgclassen," sagte Frau Ahlers lachend. „Solche Diebe wünsche ich mir auch in's Haus. Ich bin nur froh, daß ich mein Kopftuch wieder bekommen habe." Sic stand auf, »m zu gehen.
„Bleibe doch noch", bat die Tante. „Wenn Du so heiter bist, wie heute, thut Deine Nähe mir gut. Du hast mich gleich zu einem ganz andern Menschen gemacht mit Deinen muntern Reden und mir die Grillen vertrieben."
„Ich komme bald wieder," sagte Frau Ahlers, welcher von der Anstrengung, ihre Miene zu beherrschen, die Knie zitterten.
„Thue das, aber halte Wort! erwiderte jene und umarmte sie zärtlich.
Im Hinausgehen schalt sie Josephine, daß sie ihre Herrin mit Gespenstern geschreckt, die der Geist des Punsches geschaffen und drühte, sie ein anderes Mal nicht wieder bewirthen zu wollen.
Erschöpft erreichte Frau Ahlers die Straße, die Brust voll trüber Ahnungen. Das Herz war ihr so schwer, sie sehnte sich cs leicht zu weinen; zu Hause durfte sie das nicht thun. Sie lenkte daher nach dem Kirchhofe ein, setzte sich hier auf das Grab ihrer Mutter und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Konnte die Verewigte sie sehen, sie hätte Erbarmen mit ihrem schwergeprüften Kinde.
Bis vor wenigen Monden war ihr Leben so ruhig hingeflossen und der Friede ihres Gemüthes durch nichts erschüttert worden; jetzt wogte und stürmte es in ihrer Brust, als ob das Schicksal vor der Thür stände, sie zu vernichten und Angst und Sorge, Furcht vor der Zukunft, Zittern in der Gegenwart jagten sie rastlos umher wie eine von Gewissensqualen gefolterte Seele.
Herr Ahlers hatte lange schon auf ihre Rückkunft gewartet. Als er die Schelle an der Thür vernahm und sie dennoch nicht zu ihm kam, ward er unruhig und ging, sie zu suchen. Er fand sie in der Speisekammer. — „Da bist Du?" sagte er kopfschüttelnd. „Fiel Dir denn gar nicht ein, daß ich Dich mit Ungeduld erwartete."
„Ich wollte nur das Abendessen bestellen, um dann desto ruhiger bei Dir zu verweilen," erwiderte sie mit abgewandtem Gesichte. *
„Wie so etwas Dir vorgehe» kann, ist unbegreiflich," sagte er verwundert. „Ein Frauenkopf sitzt doch unter allen Umständen etwas verkehrt auf den Schultern, und euer Herz wohnt schließlich in der Küchel"
„Fehlgeschossen," erwiderte sie, den Schinken, von welchem sie eben abschnitt, ansehend, „das meinige war diesmal ganz gewiß bei Dir!"
(Fortsetzung folgt.)