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Nr. 285
Gegründet 1827
Mittwoch, den 4. Dezember
Fernsprecher Nr. 20
«I»
rtt3. Jahrgang
„Wenn es so weitergeht.!" / Aenderung des Wahlrechts Befreiung des Beamtentums
Der Ruf nach einem wirklichen Spardiktator / Zeder Deutsche hat und mutz ....!
Die bedeutsame Kundgebung des Reichsverbands der Deutschen Industrie mit ihrer ernsten Warnung und der Aufforderung in letzter Stunde zu einer völligen Umkehr in der amtlichen Wirtfchafts- und Finanzpolitik macht überall einen tiefen Eindruck. „Wenn es so wettergeht, dann ist der Niedergang der deutschen Wirtschaft besiegelt." Das ist kein Angstrus von Schwarzsehern und Störenfrieden, sondern das ehrliche Gefahrsignal der bedeutendsten und erprobtesten Männern des deutschen Wirtschaftslebens. Das Wort des Vorsitzenden des Reichsverbands, Geheimrat Duisberg, in der Sitzung vom 2. Dezember: „Die Privatwirtschaft ist nicht gesonnen, auf die Dauer ihren eigenen Henker zu bezahlen. Unter dem Schlagwort „Wirtschaftsdemokratie" ist die wirtschaftliche Führung zerfasert und in ihrer Entschlußkraft gehemmt worden" — dieses Wort ist sehr ernst zu nehmen, um so mehr als fast gleichzeitig die Vertreter des Handelstags sich in einer Unterredung mit dem neuen Reichswirtschaftsminister Moldenhauer ungefähr in ähnlicher Weise Klage geführt haben.
Reformen müssen kommen Auf allen möglichen Gebieten drangt sich ihre Notwendigkeit jedem Einsichtigen auf. So ist die Abänderung des Wahlrechts schon längst als Bedürfnis anerkannt. Die Abgeordneten müssen wieder in unmittelbare Fühlung mit ihren Wählern kommen. Mit Nachdruck ist ferner die Verbesserung des Regierungssystems anzustreben. Nach der Weimarer Verfassung soll der Reichskanzler durch den Reichspräsidenten berufen werden und der Reichskanzler bat die Richtlinien der Politik zu bestimmen und seine Kabinettsmitglieder selbst vorzuschlagen, die dann der Reichspräsident ernennt oder ablehnt. Aber grundlegende Ver- fassungsbestimmungen sind von der Reichstagsfraktion nie beachtet worden, daher bei jeder Veränderung im Kabinett d:r Wochen und Monate dauernde Schacher unter den Fraktionen. Durch entsprechende Maßnahmen ist die Stetigkeit der Regierungsarbeit zu verbürgen und die Häufung von Regierungskrisen zu verhindern. Unerläßlich ist auch die Befreiung des Beamtentums, besonders des Richterstands von parteipolitischen Einflüssen. Bei der Besetzung der Ämter darf nur nach der sachlichen Befähigung und
Eignung, keinesfalls aber nach Parteimitgliedschaft entschieden wenden und der Beamte soll seinen Aufstieg nur der eigenen Tüchtigkeit verdanken, keiner Protektion und niemals der Korruption. So will es die Verfassung.
Ebenso wichtig wie die politische, aber im Augenblick noch dringlicher, ist die wirtschaftliche Sicherung des staatlichen Lebens. Als das Gebot der Stunde erscheint darum die Neuordnung der öffentlichen Finanzen. Sie hat nicht fiskalischen, sondern gesamtwirtschaftlichen Zwecken zu dienen, sie hat die Bedürfnisse der öffentlichen Wirtschaft, der Leistungsfähigkeit der allgemeinen Wirtschaft anzupassen und dem Steuerzahler zum Bewußtsein zu bringen, daß die Höhe seines Einkommens von der Sparsamkeit der öffentlichen Wirtschaft abhängt. Wenn man bedenkt, daß die öffentlichen Ausgaben in Deutschland (ohne Sozialausgaben) von nicht ganz acht Milliarden vor dem Krieg auf 19,9 Milliarden Mark gestiegen sind, dann kann es nicht zweifelhaft sein, wo der Reformwille zuerst einzusetzen hat. Für die Zukunft sind der Bewilligungsluft des Parlaments haushaltrechtliche Schranken zu setzen, zur Zeit aber kann, wenn schon die Kraft des Finanzministers nicht ausreicht, nur noch ein wirklicher Spardiktator helfen, der mit genügenden Vollmachten versehen ist, und rücksichtslos seines Amtes waltet.
Auch die Ausgaben der Verwaltungsreform müssen unter diesen Gesichtspunkten betrachtet und gelöst werden. In einem verarmten BvlA-rvie dem deutschen, d«s so ungeheure Lasten zu tragen hat und Millionen darben lassen muß, wird aller Luxus zu Unsittlichkeit, sowohl der bürokratische wie der gesellschaftliche und der persönliche. Jeder Deutsche hat sich dem Zwang der allgemeinen Notlage zu fügen und sein Leben danach einzurichten. Wir müssen uns freimachen von dem Taumel, in dem wir dahinleben, von der Genußsucht, in der unsere Geistigkeit zu versinken droht. Und es darf keine Barmat- und Sklarek-Skandale mehr geben, sie erschüttern das Vertrauen des Volks zu seinen sozialen und politischen Einrichtungen und schließlich auch zu seiner nationalen Kraft. Wir müssen wieder einfache und saubere Menschen werben.
Neueste Nachrichten
Die deutschstämmigen Flüchtlinge aus Rußland
Berlin, 3. Dez. Nach halbamtlicher Mitteilung sind im anzen jetzt in Deutschland 1381 deutschstämmige russische Kolonisten, davon 323 in Hamburg, die andern teils noch in Eydtkuhnen (Ostpr.), teils schon in Hammerstein. Das Lager in Hammerstein wird für alle Transporte nicht aus- reichen, da insgesamt etwa 5000 Personen zu erwarten find. Man wird gezwungen sein, dann noch Mölln und Prenzlau (Reg.-Bez. Potsdam) hinzuzunehmen. Die Verbände des Roten Kreuzes in Lettland und Litauen haben in entgegenkommendster Weise ihre Hilfe angeboten und Hilfe geleistet,
Die Auswanderer müssen eine gesundheitliche Beobachtung durchmachen, die, wie man hofft, nur etwa 5—6 Tage beanspruchen wirdi Der erste Transport, der aus Swinemünde kam, setzt sich aus Leuten zusammen, d-e bisher in Omsk gewohnt haben Der zweite Transport umfaßt Deutsch-Russen aus Omsk, aus dem Kaukasus, der Krim und aus Turkestan.
Im geschmückten Lager von Hammerstein wurden die Auswanderer von dem Lagerdirektor Major a. D. Fuchs herzlich begrüßt.
Erschwerung von Mißkrauensanlrägen
Berlin, 3. Dez. Bei der Mehrheit der Reichstagsparteien besteht die Absicht, im Hinblick auf die Einbringung von Mißtrauensanträgen, eine Aenderung der Geschäftsordnung vorzunehmen. Für die Einbringung des Mihtrauensantrags sollen nicht mehr wie bisher 15, sondern 50 tlnterichristen notwendig sein. Es soll auch geklärt werden, ob es noch möglich ist, einen Mißtrauensantrag gegen einen einzelnen Minister zur Abstimmung zu bringen, wen» ein Mißtrauensantrag gegen das Gesamtkabinett bereit» von der Mehrheit abgelehnt worden ist.
Klagen vor dem deutschen Staaksgerichlshos
Berlin, 3. Dez. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat für den 6., 7., 9. und 10. Dezember große Verhandlungen angesetzt. Von den Streitsachen sind zu erwähnen der Streit der Braunschweigischen evangelisch-lutherischen Landeskirche gegen das Land Braunschweia
wegen Nichtgewährung von Staatsleistungen,' die des Deutschen Reichs gegen das Land Bayern wegen der Titelverleihungen in Bayern, sowie Klage einiger westfälischer Städte gegen das Land Preußen wegen Verfassungswidrigkeit des preußischen Gesetzes über die kommunale Neugliederung (Eingemeindungen) des rheinisch-westfälischen Industriegebiets von 1929.
Zum russisch-chinesischen Streit
Berlin, 3. Dez. Au dem Schritt des amerikanischen Staatssekretärs Stimson im russisch-chinesischen Streit wird mitgeteilt, daß die Reichsregierung ihre Sympathie mit den amerikanischen Bemühungen um Erhaltung des Friedens Ausdruck gegeben und darauf hingewiesen hebe, daß sie als Schutzmacht beider Staaten bereits mehrfach im gleichen Geiste gewirkt habe. Sie sei entschlossen, auch weiterhin alles zu tun, wodurch sie ihrerseits noch dazu beitragen könne, die Beachtung des Kelloaavaktes
Tagesspiegel
Der Völkerbundsrat soll am 13. oder 20. Januar ln Gens jusammentreten.
Das belgische Kabinett ist wiederum von siaspar gebildet worden.
Der Sejmmarschall hak die nächste Sitzung des polnischen Landtags für den 5. Dezember anberauml, da am 4. Dezember die einmonatige Verkagungsfrist abläust. Der Aegiernngsblock wird einen Mißkrauensantrag gegen Sejmmarschall Daszynski einbringen» weil dieser am 31. Oktober gelegentlich des Eindringens polnischer Offiziere in die Sejmvorhalle die Sitzung des Sejms nicht eröffnet habe.
Der Kongreß — Senat und Abgeordnetenhaus — ln Washington wurde am 3. Dezember eröffnet.
Auf dem Allindischen Gewerkschaftskongreß in Nagpur trat eine scharfe Spaltung ein zwischen den von Moskau beeinflußten kommunistischen Radikalen und den nakional- indischen gemäßigten Gewerkschaftsvertretern.
vurch die streikendn Parteien sicherzustellen. Mit Rücksicht auf die besondere Stellung, die sich für Deutschland al» Schutzmacht ergibt, habe sich die Reichsregierung ein« Entschließung über Zeitpunkt und Form ihrer eigenen weiteren Schritte in der Angelegenheit Vorbehalten, zumal da Nachrichten über unmittelbare rujsisch-chinesische Verhandlungen vorliegen. *
Erklärung der Mukden-Regierung gegen Moskau
Mn'"?«,, 3. Dez. Das Nachrichtenbüro der Regierung stellt die Moskauer Meldungen, wonach die Mukdenregierung die Forderungen Moskaus angenommen habe, in Abrede und erklärt, Moskau versuche, Mulden zur Eröffnung von Sonderverhandlungen zu veranlassen. Die Mukdener Regierung verhandle jedoch lediglich nach den Weisungen aus Nanking.
Die japanische Regierung beabsichtigt nicht, die von Amerika angeregten Vorstellungen bei der chinesischen Regierung zu unterstützen. — Sagen die Amerikaner: „Amerika den Amerikanern" (d. h. den Vereinigten Staaten), so sagen die Japaner: „Asien den Asiaten" unter Führung Japans.
„Times" meldet aus Schanghai: Die chinesischen Bevollmächtigten, die von Mulden abgesandt worden sind, um mit den Sowjetvertretern über die Wiederherstellung des früheren Stands der chinesischen Ostbahn zu verhandeln, sind in Nikolfk-Ussurisk nördlich von Wladiwostok «ingetroffen, wo die Verhandlungen stattfinden sollen.
300 Weißgardisten gefangen?
Moskau, 3. Dez. Nach einer Meldung aus Tschita sollen bei der Einnahme der Station Mandschurin durch die Sowjettruppen etwa 300 Weißgardisten und einige Leiter weißer Organisationen gefangen genommen worden sein, darunter Oberst Mamorow, militärischer Beirat des chinesischen Truppenkommandos, der Bruder des Generals Schiluikow. Ein Teil der Gefangenen wurde nach Tschita übergeführt.
Lin Sozialist zum Präsidenten des schweizerischen National- r s gewählt
Bern, 3. Dez. Der Natio alrat wählte mit 97 gegen 33 Stimmen bei 49 Enthaltungen den bisherigen Vizepräsidenten Gräber (Soz.) zum Präsidenten. Gräber ist der
Bessere KW-liliiW Bezieltme»
Die Beziehungen Deutschlands zu Litauen wurden bisher durch das unverantwortliche Vorgehen Litauens gegen, die deutschen Beamten in dem uns entrissenen Memelgebiet getrübt. Nun sind in dieser Woche die Verhandlungen über di» Auszahlung der Gehälter an die deutschen Beamten u. a. wieder ausgenommen worden. Aus diesem Anlaß schreibt das Regierungsblatt „Lietuvos Aidas": „Litauen verdankt seine Freiheit Marschall Hindenburgs Siegeszug im Osten und deutscher Finanzhilfe. Deutschlands schwierige Lage in der Nachkriegszeit und Litauens Beraubung durch Polen schufen eine gewisse Schicksals- gemein schüft. Die gute Entwicklung der Beziehungen wurde durch den Uebergang des Memelgeviets an Litauen gestört. Deutschland hat die Hoffnung darauf, daß es die abgetretenen Gebiete wiedererhalten werde, nicht aufgegeben. Litauen fordert günstige Bedingungen für den nationalen und kulturellen Fortschritt des litauischen Clements. Unzulässig ist aber eine „Tyrannisierung der Memeler Litauer" durch infolge von Versprechungen der Reichsregierung im Memelgebiet verbliebene Berliner Beamte."
Das klingt, abgesehen von dem letzten Satz, für dessen Wahrheit das Regierungsblatt den Beweis nicht wird führen können, ganz anders als früher. Man kann diesen Wandel zu einer besseren Erkenntnis nur begrüßen, nur darf man nach allem, was man bisher beobachten mußre, fürs erste wohl noch daran zweifeln, ob diese Einsicht von einer „gewissen Schicksalsgemeinschaft" auch lange Vorhalten wird. Zu dieser Erkenntnis hätte Litauen schon lange kommen müssen, dann wären mancherlei Gegensätze mast entstanden. Die neue Regierung empfindet offenbar die vollkommene Vereinzelung Litauens und lucht nun ein besseres Verhältnis wenigstens zu Deutschland anzubahnen. Da die Gegensätze hauptsächlich aus Fragen des Memel- gediets erwachsen sind, kann deren Beseitigung nur dadurch erfolgen, daß Kowno von der Willkürherrschast im Memel- gebiet abläßt und einen Zustand herstellt, der dem Memelstatut und dem Memelabkommen entspricht, dann werden die deutschen Memelländer es gegenüber Litauen an sich nicht fehlen lassen.