Mit der landwirtschaftlichen Wochenbeilage „Haus-, Garten- u. Landwirtschaft-
Mit den illustrierten Unterhaltungsbeilagen „Feierstunden" u. „Unsere Heimat-
Bezugspreise: Monatlich einschließlich Trägerlohn 1.6V; Einzelnummer 10 — Erscheint an
jedem Werktage. — Verbreitetste Zeitung im O.-A.-Bezirk Nagold. — Schriftleitung, Druck und Verlag von E. W. Zaiser (Karl Zaiser) Nagold
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lagerspiegel
Zn Stuttgart fand gestern unter ungeheurem Jubel der Bevölkerung der Einzug der Ozeanflieger statt. Abends waren die Flieger Gäste der würltembergischen Regierung. Rach einem Fackelzug der Studentenschaft folgten die „Vremen"-Flieger einer Einladung des württ. Luftfahrt- oerbandes.
Nach Meldungen aus Moskau verhindert dichter Nebei über dem Polargebiet jedes weitere Suchen nach Amundsen und der „Italia' -Mannschaft. In Norwegen macht sich um das Schicksal des Nationalhelden Amundsen verzweifelte Besorgnis bemerkbar.
2m Donez-Prozeß beantragte der Staatsanwalt llrylen- kow gegen 7 russische Angeklagte die Todesstrafe, gegen einen weiteren die Todesstrafe oder 10 Jahre Gefängnis. Gegen 19 weitere Angeklagte wurden mehr oder weniger Harle Gefängnisstrafen oder Strafarbeit beantragt.
In der französischen Kammer wurden zwei Anträge» die eine Herabsetzung der Heereskredite forderten, mit großer Mehrheit abgelehnt, nachdem Poincare wiederum die Vertrauensfrage gestellt hatte.
Auf dem demokratischen Parteitag in Houston wurde Gouverneur Smith zum amerikanischen Präsidentschaftskandidaten ernannt. Die Aussichten des Senators Robinson für den Posten des Vizepräsidenlschaskskandidaken sind günstig.
Nach Meldungen aus Athen ist die griechische Regierung zurückgetreten.
Ser Streit um Lela Lun
Warum Bela Kun nicht ausgeliefert wurde
Bela Kun, der ehemalige rote Diktator Ungarns, jetziger kommunistischer Weltapostel und Unruhestifter, har nun auch in unserem österreichischen Bruderland eine regelrechte Regierungskrise heraufbeschworen. Man weiß, daß der längst Vergessene plötzlich in Wien wieder zum Vorschein kam, als die dortige Polizei in einige dunkle politische Geheimbünde Licht warf. Damals war es, als zum zweiten Mal der Streit um die Person des kommunistischen Agitators begann. Ungarn wollte den roten Thyrannen vor seine Gerichte stellen, weil man ihm drei auf ungarischen Boden vollbrachte gemeine Mordtaten vorwars — ungerecht die vielleicht als politisch zu betrachtenden Hunderte und tausende von „Urteilen" ungesetzlicher Gerichte, für die Bela Kun die Verantwortung trägt. Die ungarische Regierung forderte deshalb die Auslieferung Bela Kuns und jeder vorurteilslos Denkende wird zugeben, daß diese Auslieferung die beste Aufbewahrung für den Bela Kun gewesen wäre, der nach der Verbüßung einer voraussichtlich doch nur kurzen Strafe in Oesterreich wieder als kaum politisch verbrämter Mörder auf die Menschheit losgelassen worden wäre. Es entspricht außerdem internationalem Brauch, die wegen kleinerer Straftaten Verhafteten dem Lande auszuliefern, in dem sie größere gemeine Verbrechen begangen haben.
Diesen rein juristischen Standpunkt, der noch zudem der zweckmäßigste war, vertrat auch das zuständige österreichische Landes- und Oberlandesgericht. Trotzdem hat gerade dieser Tage der österreichische Justizminister Dinghofer anders ^tschieden. Er hat verfügt, daß eine Auslieferung Bela Kuns an Ungarn nicht in Frage komme. Es wird zwar eis- ng versichert, daß diese Entscheidung vom Justizministerium "uein getroffen und deshalb allein zu verantworten sei, — und Herr Seipel betont auffällig, daß er mit seinem Mi- nhterkollegen keine Fühlung genommen habe. Gleichzeitig Ackerte es durch tausend Kanäle in die Oeffentlichkeit, daß die österreichische Regierung von einem Eingehen auillngarnsAuslieferungsgesuchpolitische gefahren befürchtete. Einerseits solle es Schwierig- reiten mit Rußland geben, andererseits wolle man den Sozialdemokraten nicht die Möglichkeit bieten, sich als vchutzer des Asylrechts aufzuspielen.
Der erste Punkt berührt etwas eigenartig, denn ^verreich hat keine gemeinsamen Grenzen mit Sow- !/Rußland, hat auch nicht allzu viel politische und wirt- icyastliche Beziehungen mit dem roten Paradies. Ueber- >es darf man auch in Wien nicht vergessen, daß den vow,etrussen gegenüber allzu große Rücksichtnahme Aunrnheit ist, denn das deutsche Beispiel, der Moskauer Prozeß, nach allem deutschen Entgegenkommen, oeweist dies. Die russische Seite der Angelegenheit ist also wohl mit der Frage abzuschliehen: „Warum so zimperlich?!" Die österreichische Sozialdemokratie aber, der keine Gelegenheit geben will, als Schützer des Asyl- rechts aufzutreten, hat allen Grund, den Mund zu halten, ll""llge die Ruinen des Wiener Justizpalastes noch als ernste Mahnung an die Julirevolte des vergangenen Jahres dastehen. Die direkten oder indirekten Mörder °er ,m vorigen Jahre getöteten Wiener Sicherheitsbeamtsn urten auch durch die geschickteste Provaaanda nicht die
Samstag, den 3V. Juni 1028
Macht erhalten, das Weltgewissen für «neu Mörder wie Bela Kun mobil zu machen.
Die österreichische Regierung hat aber nun einmal nicht den Mut zu der notwendigen klaren Entscheidung. Herr Dinghofer, der Justizminister, kam deshalb in Konflikt mit seiner eigenen Partei. Da nicht nur die Großdeutschen, sondern auch die Christlich-Sozialen der Ansicht sind, daß man weder aus Schwäche, noch aus Humanitätsduselei der Gerechtigkeit in den Arm fallen solle, dürfte der Bundeskanzler Seipel, der Herrn Dinghoser und dessen Entscheidung nunmehr nachträglich voll und ganz billigt, auch noch Schwierigkeiten zu erwarten haben. Es ist schon so: Bela Kun, der wilde Manm, der nicht einmal in Sowjetrußland Frieden fand, stellt noch als Gefangener Deutsch-Oesterreich auf den Kopf. Es ist grotesk, daß man ihm mit der Schonung begegnet, die man ehrlicher politischer Ueberzeugung schuldig zu sein glaubt. Zweifellos wäre Kun längst von den Sowjetrussen erbarmungslos abgeurteilt worden, wenn er in Rußland geblieben wäre. Seine Ausreise von dort glich einer Flucht und erst in der Fremde, wo sich die Unterschiede verwischen, wurde er in Gnaden wieder ausgenommen. Kommt Bela Kun jetzt frei, dann wiederholt sich das alte Spiel: Nach seiner Flucht aus Ungarn, nach seiner ersten Verhaftung in Oesterreich fuhr er heimlich durch deutsches Gebiet nach Rußland. Es wird nur einen Unterschied geben — dank der preußischen Regierung — denn inoffiziell aber deutlich wurde ihm schon vor Monaten von Preußen freie Durchreise zugesichert. Aus welchen Standpunkt sich die neue Reichsregierung stellen wird, wagen wir nicht zu prophezeien.
Bei der in Deutsch-Oesterreich jetzt entstandenen Regierungskrise, die sicher weitere Kreise ziehen wird, darf sowohl
Fernsprecher Nr. 29 102. Jahrgang
der Reichsdeutsche wie auch Ser Deutschösterreicyer nie vergessen, warum es zu dieser Krise kam. Es wäre lächerlich, einen Mann wie Bela Kun zum Stein des Anstoßes werden zu lasten. Wie sich allerdings ein Ausweg aus der durch me einmal gefällte Entscheidung geschaffene Situation finde"», läßt, ist noch einigermaßen unklar. Es wäre im Prinzip wohl das Beste, wenn die österreichische Justizverwaltung ordnungsgemäß den Instanzen der Rechtssprechung das letzte Wort im Falle Bela Kun überließe.
Dr. Dinghosers Demistionsgesuch. — Seipel» Antwort
Meu, 29. Juni. Heute nachmittag tras beim Bundeskanzler ein Telegramm des Justizministers Dr. Ding- hofer ein, in dem dieser um die Zustimmung zu seiner Demission ersuchte. Aus Einladung des Bundeskanzlers beschäftigte sich heute abend der Ministerrat mit der durch das Demissionsangebot Dr. Lüighofers geschaffenen Situation. Im Einvernehmen mit dem Ministerrat beant- .«ortete der Bundeskanzler das Telegramm dahin, daß et die erbetene Zustimmung zur Demission nicht geben wolle; ohne vorherige persönliche Rücksprache, die in möglichst kurz zer Frist stattfinden solle. Von dieser Stellungnahme vsrstäus digte der Bundeskanzler sofort den Verband der Abgeor« neren der Grohdeutschen Volkspartei. ^
Neueste Nachrichten
Die Gesangenenbefreiung in Moabit vor Gekickst
Berlin, 29. Juni. Das Schöffengericht fällte heute nach» mittaa das Urteil aeaen .rwei Teilnehmer in dem kecken
Doch ein Kabinett Müller
i Die »erre« Minister vom
Berlin» 29. Juni. Amtlich wird mitgeteilt: Der Reichspräsident hat den Reichskanzler a. D., Reichsminister a. D. und Abg., Hermann M ü l l e r - Franken, zum Reichskanzler ernannt. Auf Vorschlag des neu ernannten Reichskanzlers hat der Herr Reichspräsident die bisherigen Reichsminister Dr. Stresemann (Auswärtiges), Dr. Cur- tius (Wirtschaft), Gröner (Reichswehr), Schätzet (Reichspost) in ihren Aemtern bestätigt und ferner den preußischen Staatsminister a. D. Abg. Severing zuin Reichsminister des Innern, den Reichsminister a. D. Abg. Dr. Hilferding zum Reichsfinanzminister und Reichsminister a. D. Abg. Wissel zum Reichsarbeitsminister, den bad. Minister a. D. Dietrich-Baden zum Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, den Reichsminister a. D. Ko ch-Wefer zum Reichsjustizminister und den Geheimen Oberregierungsrat Abg. von Guerard zum Reichsverkehrsminister ernannt. Reichsminister von Guärard ist gleichzeitig mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Reichsministers für die besetzten Gebiete beauftragt worden.
Hermann Müller wurde 1876 in Mannheim geboren. Ursprünglich kaufmännischer Angestellter, wurde er 1899 Redakteur der Görlitzer Volkszeitung; 1906 zum Mitglied des Vo-standes der SPD. in Berlin ernannt, wurde er 1919 dessen Vorsitzender. Als Außenminister im Kabinett Bauer Unterzeichnete er am 28. Juni !9I9 das Friedensdiktat von Versailles. Vom März bis Juni 1920 war Müller Reichskanzler. — Karl Severing, geb. 1875 in Herford, erlernte das Schlosserhandwerk und wurde 1901 Geschäftsführer der Verwaltungsstelle Bielefeld des Deutschen Metallarbeiteroerbands. 1912 übernahm er die Redaktion der Bielefelder „Volksmacht". 1919 zum Reichskommifsar für Westfalen ernannt, war er vom März >920 mit kurzen Unterbrechungen bis Oktober 1926 preußischer Minister des Innern. — Dr. Rudolf Hilferding, geboren 1877 in Wien, promovierte 1901 zum Doktor der Medizin und war von 1906 bis 1922 als Schriftsteller und Journalist tätig. 1923 wurde er im ersten Kabinett Stresemann Reichsfinanzminister. — Rudolf Wissell, geboren 1869 in Göp-
KeichsHräsiderrte« er«a««t
pingen war bis 1900 als Maschinenbauer tätig. Darauf wurde er Arbeitersekretär in Lübeck und >908 Zentralarbeitersekretär in Berlin. Von Ende 1918 bis Februar 1919 Volks Beauftragter, war er bis Juli 1919 Rnchswirtschaftsminister, und bis Ende 1924 Sekretär und Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Seit 1. Januar 1924 ist Wissell Schlichter für den Bezirk Groß-Berlin. Die vier Minister gehören der Sozialdemokratie an. — Der Zentrumsabgeordnete v. Guerard wurde 1863 in Koblenz geboren. Nachdem er die Rechtswissenschaften studiert hatte, war er von 1898 bis 1905 Landrat des Kreises Monschau und ist seitdem als Geheimer und Oberregierungsrat im Oberpräsidium zu Koblenz tätig. — Dr. Erich Koch-Weser, Rechtsanwalt und Notar, wurde am 26. Februar 1875 in Bremerhaven geboren. Er war von I90l bis 1909 Bürgermeister in Delmenhorst, dann Stadtdirektor in Bremerhaven und von 1913 bis 1919 Oberbürgermeister in Kassel. Er war vor dem Kriege Mitglied des oldenburgischen Landtags später Mitglied der bremischen Bürgerschaft. Von 1913 bis 1918 Mitglied des preußischen Herrenhauses, gehörte er der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung an und ist Mitglied des Reichstags seit 1920. In den Jahren 1919 bis 1921 bekleidete er in verschiedenen Ministerien das Amt des Reichsministers des Innern. — Ernährungsminister Hermann Robert Dietrich, geboren in Oberprechtal (Baden) 1879, war von 1905 bis 1908 Stadlrechtsrat in Karlsruhe, darauf Bürgermeister in Kehl und ist seit 1914 Oberbürgermeister von Konstanz. Im November 1918 wurde er Mitglied der vorläufigen badischen Volksregierung und war von 1919 bis 1920 badischer Minister für auswärtige Angelegenheiten. Koch und Dietrich sind Mitglieder der deutsch-demokratischen Reichstagsfraktion.
Zusammentritt des Reichskabinetts
Berlin, 29. Juni. Wie verlautet, wird das neue Reichskabinett, nachdem die Ernennungsfocmalitäten vollzogen lind, am heutigen Bormittaa um 11 Ulr zu seiner erster,-- konstituierenden Sitzung in der Reichskanzlei zusammentreten.
Poincare erhält wieder das Dertraven
Paris, 29. Juni. In der Kammer gelangte sofort nach Eröffnung der Sitzung der Antrag Walter aus Freilassung der beiden autonomistischen Abgeordneten Ricklin und Rosse erneut zur Verhandlung. Wiederum beantragte Justizminister Barthou die Vertagung der Diskussion, da der Kafsationshof noch keine Entscheidung gefällt habe, und stellte dazu die Vertrauensfrage.
Der drohende Konflikt zwischen dem Ministerpräsidenten und der radikalen Kammergruppe scheint in der Weise beigelegt worden zu sein, daß die Radikalen heute fast einstimmig beschlossen, für die von PoincarS eingebrachte Tagesordnung zu stimmen. Dieses Vertrauensvotum wird von der radikalen Linken eingebracht werden und lautet: Die Kammer billigt die Erklärungen der Regierung, sie neriraut darauf, daß sie ihr Programm in republikanischer Eintracht durchführen werde, lehnt jeden Zusatzantrag ab und geht zur Tagesordnung über. Diese Tagesordnung kommt also den Radikalen insofern entgegen, als sie den auf der Linken
unbeliebrey Begriff Nationale Union durch republikanische Eintracht ersetzt.
Die französische Regierung und üelloggs neue Note
Daris, 29. Juni. Amtlich wird mitgeteilt: Minister de» Aeutzeren Briand hat dem Ministerrat die letzte Not« :.»elioggs über die Aechtung des Krieges zur Kenntnis gebracht. In ihrer Gesamtheit wurde die amerikanische NotU auf den ersten Blick für befriedigend erachtet, weil si» den von der französischen Regierung früher geäußerten Vorbehalten Rechnung trägt. Indessen muß dos Minister»»« für auswärtige Angelegenheiten ihre Prüfung besonders vom juristischen Standpunkt fortsetzen. Andererseits wünscht die französische Regierung, ehe sie Washington antw»rtet, naturgemäß die Einstellung der übrigen zur sofortigen Unterzeichnung des geplanten Paktes berufenen Mächte und insbesondere die Auffassung der Signal,irstaaien von Locarno kennen zu lernen.