SAMSTAG, 2 2. MAI 1954

Wer bildet wen ?

Josef Nadler 70 Jahre alt

Der Sudetendeutsche Josef Nadler wird am Sonntag 70 Jahre alt. Er ist der Öffentlichkeit vor allem durch zwei Werke bekanntgeworden, durch eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften Johann Georg Hamanns und durch eineLiteraturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (spätere Titel:Literaturgeschichte des deutschen Volkes in durchaus natio­nalsozialistischer Ausrichtung, Revision 1951Geschichte der deutschen Litera­tur). Die Hamann-Ausgabe ist beifäl­lig von der wissenschaftlichen Welt auf­genommen worden, nicht so die Lite­raturgeschichte.

Nadlers These besagt, die geistigen Leistungen könnten auf ein letztes sie Bewirkendes zurückgeführt werden, auf die Nation und ihre organischen Wachstumseinheiten, die Stämme. Erst von der Rasse her seien die letzten Aufschlüsse über die Literatur zu er­warten, die geistig-charakterlichen Un­terschiede in der Dichtung seien durch die (angenommene) biologische Dif­ferenzierung der Stämme zu erklären. Gegen einen solchen biomechanischen Determinismus meldete bereits Hugo v. Hofmannsthal Bedenken an. Andere warfen die Frage auf: Bildet der Stamm den Charakter oder der Cha­rakter den Stamm? Heute scheint Ein­stimmigkeit darüber zu bestehen, daß der Geist von Stamm, Volk oder gar Nation her nicht zu begründen ist, man anerkennt die natürlichen Eigenheiten der Stämme und Landschaften und da­mit den Ausgangspunkt der Nadler- schen Theorie, aber man glaubt wieder, daß der Geist dort weht, wo er will.

Das Gesamtwerk Nadlers, der mit 27 Jahren bereits Professor in Freiburg in der Schweiz war, dann in Königs­berg und seit 1930 in Wien lehrte, um­faßt 60 Bücher und 242 Aufsätze. Im

Österreichischen Bundesverlag ist so­eben seine Selbstbiographie erschie­nen, der Verlag Habbel in Regensburg bereitet zur Zeit die fünfte Auflage seiner Literaturgeschichte vor. wn.

Schwäbische Maler in Zürich

Einige schwäbische Maler und Bild­hauer stellen im benachbarten Zürich, wo man unsere Kunst aber nur selten zu sehen bekommt, in der dortigen Galerie Palette aus. Es sind Künstler, die zu derFreien Gruppe gehören. Besonderes Interesse fand Hans Gaß­ebner, von dem im Vorjahr schon ein­mal Graphik in der Eidgenössichen Technischen Hochschule zu sehen ge­

wesen war, mit seinen vereinfachten, in ihrem Bildgefüge stark rhythmisier­ten, auf nur wenige kühle Farbtöne gestellten südlichen Landschaften. Der aus Sachsen stammende, seit 1948 in Tie­fenbach im Kreise Saulgau lebende Werner Rohland sprach vor allem mit den Bildern an, die wie dasSchneide- rinnen-Atelier das Leben des Alltags wiedergeben. Der jetzt in Blaubeuren schaffende Alfred Wais erweist sich wieder als ein lebensvoller Nachfahr des schwäbischen Impressionismus mit seinen oft erdigen Farben. Wais scheut auch vor einem so schwierigen Thema wieVerlorenes Paradies nicht zurück, das er in einer erregten Figurenkom­position angeht. Von Altmeister Alfred Lörcher sieht man einige seiner kraft­voll vereinfachten, typisierten Terra­kottafiguren und eine Reihe seiner hu­morvoll pointierten Kleinbronzen. Der in Berlin lebende und schaffende Leon­hard österle bezeugt in dem überdi­mensionierten Kinderkopf echte pla­stische Schwellkraft. Die Form dehnt und wölbt sich und gewinnt dabei Volumen. Problematischer wirken österles Arbeiten, wenn sie stark ab­strahieren und dann auch mit Hohl­formen operieren. hd.

Kulturelle Nachrichten

Vom 10. bis 13. Juni findet in der Pädagogischen Akademie Calw die süd­deutsche regionale Jahreskonfe­renz des Internationalen Versöhnungsbundes statt mit dem Gesamtthema:Die Botschaft und die Boten des Friedens. Unter den Rednern befinden sich u. a. Prof. Sieg- mund-Schultze, Kreisdekan Maas, Hei­delberg, Pater Deodat Ohl, O. F. M.. und der holländische Pfarrer de Graaf

aus Arnheim. Die Konferenz ist offen für jedermann.

Der Nestor der deutschen Anthropo­logen und Erforscher der Vererbung beim Menschen, Profesor Eugen Fischer, Freiburg, ist von der Deut­schen Gesellschaft für Anatomie zum Ehrenmitglied ernannt worden. Prof. Fischer wird demnächst 80 Jahre alt.

In Freiburg hat dieser Tage das 3. Oberrheinische Mathemati­kertreffen stattgefunden. Teilneh­mer waren Professoren und Dozenten der Universitäten Basel, Freiburg und Straßburg.

Literarische Notizen

Der in Memmingen als Augenarzt tätige Sohn Gustav Freytags, Prof. Gustav Willibald Freytag, hat eine Zeitschrift gegründet, die unter dem TitelGustav-Freytag-Blätter zunächst in größeren Abständen, später allmo­natlich herauskommen soll. Die Zeit­schrift will das Andenken des Dichters wachhalten.

Die satirische WochenzeitschriftSim- plicissimus wird im Herbst in Mün­chen wieder erscheinen. Sie wird von Olaf Iversen herausgegeben. Die frü­here satirische ZeitschriftSimplicissi- mus - 1896 von Albert Langen und Th. Th. Heine gegründet mußte im Kriege ihr Erscheinen einstellen.

Unter den Buchgemeinschaften bean­sprucht die LesergemeinschaftFreun­de der Weltliteratur in Ham­burg für sich eine besondere Note. Sie wendet sich an anspruchsvolle Leser. Moderne Autoren des In- und Auslan­des und Klassiker der Weltliteratur sind mit Werken im Programm der Freunde der Weltliteratur

Die hirtemihr

Wenn des Abends der erste Stern sich ins Blaue schreibt, ist Zeit, daß der Gänsehüter nach Hause treibt.

Und wenn der zweite Stern am Himmel erwacht, ist Zeit, daß der Sauhirt sich heimwärts macht.

Der dritte Stern ist des Schäfers Licht.

Schäfer, lieber Schäfer, vergiß es nicht.

Zum vierten Stern ist es nicht mehr weit.

Dann ist es für den Hirten und das Vieh an der Zeit.

Und wenn alle tausend am Himmel stehn

und silberhell scheinen,

soll jeder zu seiner Liebsten gehn,

und ich zu der meinen.

WERNER BERGENGRUEN

Vom 24.-27. Mai findet unter dem Ehrenvorsitz von Werner Bergen- gruen am Bodensee ein Dichtertreffen statt

vertreten Es bringt Romane, Ge­schichte. Biographien, Erlebnisberichte, Bildwerke und Anthologien. Die Bücher werden zum Teil in Halbleder und zum Tei in Ganzleinenausstattung ge­liefert. Durch die vierteljährige Aus­wechslung einer Anzahl von Titeln er­folgt eine fortlaufende durchgreifende Erneuerung des Buchangebotes. In An­betracht der Leistungen kann die ste­tige Vergrößerung des Mitgliederkrei- ses derFreunde der Weltlite­ra t u r, die mit vielen Firmen des Buchhandels in enger Zusammenarbeit stehen, nicht überraschen.

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