FREITAG» 22. AUGUST 1952
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Zum Tode Kurt Schumachers
Fortsetzung von Seite 1
letzten Atemzug auch geblieben. Und er ist der fast mythisch umwitterte Führer der Opposition im ersten Parlament der Bundesrepublik geworden, indem er in allen Fragen den Standpunkt der Sozialdemokratie, die scharfen Thesen des gerechten Ausgleichs gegen die Arbeit der Regierung setzte. Wir stehen noch zu sehr in diesem Prozeß des Für und Wider, um Schumacher, dem „Nein“ zu den Bejahungen des Kanzlers vollauf gerecht werden zu können. Wir hatten oft den Eindruck, als ob der schwerkranke Mann, trotz Aufbietung eiserner Willenskräfte, zuletzt gerade das geworden ist, war er im konkreten von ihm aufs höchste gemeisterten parlamentarischen Spiel nie gewesen war: doktrinär. Er ist mitten in einer Krise seiner Partei weggenommen worden aus der Arbeit. Eine unersetzliche Lücke wird klaffen, die sich niemand unter den lebenden Parteivorständen wird getrauen können zu schließen. Zu sehr hat der Willensmensch Schumacher einsam regiert und gehandelt und vielleicht ähnelt er in diesem seinem Widerpart, dem Bundeskanzler.
46000 Flüchtlinge
Erschwerung der planmäßigen Umsiedlung
BONN. Bundesvertriebenenminister Dr. L u- k a s c h e k teilte gestern mit, daß in den Monaten Juni und Juli insgesamt 46 000 Menschen, darunter 6000 Jugendliche aus der Sowjetzone nach Westberlin und in die Bundesrepublik geflüchtet sind.
„Diese Zahlen sprechen eine erschütternde Sprache“, erklärte der Minister im Bulletin der Regierung. Das gesamte Flüchtlingsproblem sei für die Bundesrepublik sehr ernst und es erschwere die planmäßige Durchführung der Umsiedlung in Deutschland. Daher müsse auch bei der Prüfung der Sowjetzonenflüchtlinge ein verhältnismäßig strenger Maßstab angelegt werden. Außerdem mischten sich politische Agenten und Spitzel unter die Flüchtlinge und es sei keine leichte Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer als Flüchtling anerkannt sei, werde nach einem besonderen Schlüssel auf die Länder der Bundesrepublik verteilt.
Lukaschek befürwortete „gemeinsame Hilfsmaßnahmen“ der ganzen freien Welt für die Opfer des sowjetischen Systems.
Arbeitgeber: Nich* widerlegt
Stellungnahme zum Frankfurter Urteil
KÖLN. Das Urteil des Düsseldorfer Arbeitsgerichts, das eine Entlassung wegen Teilnahme an einer DGB-Protestaktion während , der Arbeitszeit für rechtsmäßig erklärte, sei durch den gegenteiligen Entscheid des Frankfurter Arbeitsgerichts nicht widerlegt worden, erklärte die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände in ihrem Pressedienst.
Das Düsseldorfer Gericht hatte die Streikaktion des DGB gegen das Betriebsverfassungsgesetz für unrechtsmäßig erklärt, weil sie nicht als Mittel des Arbeitskampfes, sondern aus politischen Gründen geführt worden sei. Das Frankfurter Arbeitsgericht habe dagegen eine ebenfalls wegen Teilnahme an einer DGB-Aktion ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt, weil der Tatbestand der beharrlichen Arbeitsverweigerung in fiesem Fall, es war ein Betriebsratsmitglied, nicht Vorgelegen habe. Der Pressedienst wendet sich gegen Veröffentlichungen, nach denen die gewerkschaftlichen Streikaktionen in dem Frankfurter Urteil als rechtmäßig anerkannt worden seien.
30 Tote durch Flutwelle in Korea. Seoul. — 30 amerikanische Soldaten sind an der koreanischen Front Opfer einer Überschwemmungskatastrophe geworden, die durch starke Regenfälle im Gefolge eines Taifuns verursacht wurde. Eine fast 3 m hohe Flutwelle, die mit gewaltiger Kraft durch ein ausgetrocknetes Flußbett schoß, riß die Soldaten mit sich.
Tsdiu En-lai von Stalin empfangen
Stillschweigen über Beratungen / Londow: Malenkow wird Nachfolger
MOSKAU. Stalin hat am Mittwochabend den chinesischen Regierungschef und Außenminister Tschu En-lai zu einer längeren Unterredung empfangen. Aus der großen Zahl der bedeutenden Persönlichkeiten, die von beiden Seiten anwesend waren, ist zu entnehmen, daß es sich um eine inhaltsreiche Konferenz gehandelt hat. Über den Verlauf und den Inhalt der Besprechung wurde nichts mitgeteilt. Radio Moskau verbreitete nur ein kurzes Kommunique mit den Namen der Anwesenden.
Neben Stalin waren von russischer Seite u. a. Außenminister Wyschinski und Mo- lotow zugegen. Tschu En-lai war von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Tschen Jung, dem politischen Sekretär des Außenministeriums Sehe T s c h e , dem stellvertretenden Generalstabschef General Su J u i, dem chinesischen Botschafter Tschan Wen-tian und dem stellvertretenden Vorsitzenden des chinesischen Finanz- und Wirtschaftskomitees Le Fu-tschun begleitet.
Westliche Diplomaten in London sind der Ansicht, daß der verkündete neue sowjetische Fünfjahresplan nicht die erwartete Antwort gebe, ob die Sowjetunion sich für Krieg oder
Frieden entschieden hat. Auch der Umorganisation des Parteiapparats mißt man in London viel weniger Bedeutung bei, als der Herausstellung George Malenkows als Hauptredner auf dem Kongreß. Man sieht darin ein weiteres Anzeichen dafür, daß er darauf vorbereitet wird, die Nachfolge Stalins anzutreten. Für den Fall, daß sich der 72jährige Stalin in naher Zukunft von den Amtsgeschäften zurückzieht, rechnet die Mehrzahl der westeuropäischen Diplomaten damit, daß er das Amt des Ministerpräsidenten dem bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Molo- tow und die Funktion des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei dem bisherigen Stellvertreter Malenkow überläßt.
Zu den Aufgaben des bevorstehenden Parteikongresses schreibt die „Prawda“ am Mittwoch: „Die Hauptaufgabe der bolschewistischen Partei besteht jetzt darin, durch die Entwicklung des Sozialismus zum Kommunismus eine kommunistische Gesellschaftsordnung äufzubauen, die Parteimitglieder im Geiste des Internationalismus zu erziehen, und auf jede denkbare Weise die aktive Verteidigung des sowjetischen Vaterlandes gegen die feindliche Aggression zu stärken.“
Akademie statt Fakultäten
Vorschläge Grotewohls an Dibelius
BERLIN. Sowjetzonenministerpräsident Otto Grotewohl hat dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Dr. Otto Dibelius, in einem Schreiben die Errichtung einer evangelischen theologischen Akademie auf der Grundlage der bisherigen theologischen Fakultäten an den Universitäten vorgeschlagen.
Im einzelnen heißt es in dem Schreiben Grotewohls, daß die Sowjetzonenregierung bei -der Prüfung der Frage der Errichtung einer evangelischen theologischen Akademie sich auch mit der Frage des evangelischen
theologischen Nachwuchses befaßt habe. Die Sowjetzonen Verfassung billige der Kirche das Recht auf ihre Selbstverwaltung zu. Die bisherige Form der Ausbildung des theologischen Nachwuchses an den theologischen Fakultäten der Universitäten entspreche nach Ansicht der Regierung nicht diesem Grundsatz.
Eine offizielle kirchliche Stellungnahme zu dem Brief Grotewohls liegt noch nicht vor. Es wird die Vermutung geäußert, daß einer der Gründe für den Vorschlag der Sowjetzonenregierung darin zu suchen sei, daß die theologischen Fakultäten an den sowjetzonalen Universitäten als „Fremdkörper“ empfunden würden, die man in Form einer rein theologischen Akademie isolieren wolle.
Kleine Weltchronik
Bayerischer Justizminister verklagt Klibansky. München. — Der bayerische Justizminister, Otto Weinkamm, steHte gestern Strafantrag gegen Rechtsanwalt Josef Klibansky, den Verteidiger Auerbachs, wegen Beleidigung. Wie die Justiz- pressestelle dazu mitteilte, sind „die schweren beleidigenden Angriffe, die Klibansky gegen die in der Strafsache Philipp Auerbach tätigen Richter aufstellte“, Ursache der Strafanzeige des Justizministers.
Bedingte Freigabe deutscher Vermögen in Südafrika. Bonn. — Die südafrikanische Regierung hat entschieden, daß früheres deutsches Vermögen in Südafrika an seine Besitzer zurückgegeben wird, wenn sie ihren dauernden Wohnsitz in der südafrikanischen Union oder in Südwestafrika haben.
Kein Streik in Bremen. Bremen. — Das Angebot der Bremer Werftindustrie, die Stundenlöhne der rund 16 000 Werftarbeiter um 4 Pfennig zu erhöhen, ist am Mittwoch in einer Urabstimmung mit knappem Ergebnis angenommen worden.
Sowjets weisen Linse-Protest zurück. Berlin. — Der stellvertretende Vorsitzende der sowjetischen Kontrollkommission, Semitschastnow, hat den amerikanischen Protest gegen die Entführung des Westberliner Rechtsanwalts Dr. Walter Linse durch östliche Agenten als „unbegründet“ zurückgewiesen.
Australien schränkt Einwanderung 1953 ein. Berlin. — Australien wird im nächsten Jahr die bisherige Einwanderungsquote um die Hälfte herabsetzen, erklärte der australische Einwan- derungs- und Arbeitsminister Holt gestern vor Pressevertretern in Berlin.
Gründungsausschuß der CDU-Saar einberufen. Saarbrücken. — Der Gründungsausschuß der CDU des Saarlandes ist zum 25. August einberufen worden. Der Ausschuß will zu der nun schon zum
zweitenmal erfolgten Rückgabe des Registrierantrages der Partei Stellung nehmen.
Indonesien will Botschaft in Bonn errichten. Amsterdam. — Der Generalsekretär des indonesischen Außenministeriums, Dr. Darmasetiawan, erklärte bei seiner Ankunft in Amsterdam, Indonesien werde bald eine Botschaft in Bonn errichten.
Neuartiger britischer U-Boot-Jäger. London. — Nach Mitteilung der britischen Admiralität wurde gestern der erste U-Boot-Jäger eines ganz neuartigen Typs von Schiffen dieser Klasse auf einer Glasgower Werft von Stapel gelassen. Das Schiff ist mit Dieselmotoren ausgerüstet und verfügt über modernste Geräte und Waffen zum Aufspüren und Zerstören von U-Booten.
Prinzessin Margaret 22 Jahre alt. London. — Prinzessin Margaret Rose von Großbritannien ist gestern 22 Jahre alt geworden.
Unwetter über Italien. Rom. — Weite Teile Norditaliens sind am Mittwochabend von schweren Unwettern heimgesucht worden, die große Schäden an der Ernte und an Gebäuden anrichteten.
UN will internationale Gleichberechtigung der Frau erwirken. New York. — Der UN-General- sekretär Trygve Lie veröffentlichte am Mittwoch den Entwurf eines internationalen Abkommens über die Gleichberechtigung der Frau.
Antikommunistische Gesetze in Australien. Canberra. — Die australische Regierung beabsichtigt, dem - Parlament zwei Gesetzentwürfe über Amtsgeheimnisse und Sabotage vorzulegen, durch die sie neue Machtbefugnisse im Kampf gegen die Kommunisten erhält.
USA übergeben Japan Kriegsschiffe. Tokio. — Die USA sind bereit, Japan schon jetzt mehr als die Hälfte der 68 kleineren Kriegsschiffe zu übergeben, die Japan zugesagt sind.
Worte des Gedenkens
Der engste Mitarbeiter des verstorbenen SPD- Vorsitzenden, sein Stellvertreter,. Erich O l • len hau er, hat Dr. Kurt Schumacher eint persönliche Würdigung gewidmet. Unter der Überschrift „Dem toten Freund“ sagt er:
„Das Unfaßbare ist Wirklichkeit geworden: Kurt Schumacher ist tot... Das Sterbliche an Kurt Schumacher wird vergehen, aber sein Werk bleibt bestehen und sein Wirken wird für uns lebendiges Beispiel und Ansporn sein, um sein Ideal, die Ziele seiner Partei zu verwirklichen: Den Aufbau einer Gemeinschaft der Menschlichkeit, der Freiheit und der Gerechtigkeit für alle Menschen und für alle Völker.“
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Als erstes Parteiorgan widmete der Deutsch- land-Union-Dienst der C D U / C S U dem Tode Kurt Schumachers einen Nachruf:
„Wir sehen in dieser Stunde nur den Menschen Kurt Schumacher, dessen ungeheure Willenskraft Freund und Feind Hochachtung abforderte. Unbändige Willenskraft hat Schumacher dort beseelt, wo er in der politischen Arena um die Durchsetzung seiner Konzeption gerungen hat... Nur dem politischen Gegner von gestern gilt der Widerspruch der CDU. Heute neigen wir uns an der Bahre des Menschen, des tapferen Menschen Kurt Schumacher.“
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Der Pressedienst der Freien Demokratisch en Partei erklärte gestern zum Ableben Dr. Schumachers:
„Große Gegner sind eine Gnade des Schicksals, auch wenn sie uns hart zusetzen und nicht wohltun. Wir beugen uns vor dem Toten in der trauernden Gewißheit, daß wir mit ihm einen großen Gegner verloren haben“.
In der Trauerbotschaft zum Tode Dr. Schumachers erklärte der SPD-Vorstand, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschland» einen unsagbar schweren und unersetzlichen Verlust erlitten hat:
„Kurt Schumacher hat alles, was den Charakter seiner Persönlichkeit bestimmte, seine Menschlichkeit, seinen Mut, seinen Gerechtigkeitssinn und nicht zuletzt seine überragenden geistigen Fähigkeiten mit einer beispiellosen Schonungslosigkeit in den Dienst der Aufgabe gestellt, den Bedrängten zu helfen und Recht und Gerechtigkeit für alle in der nationalen und internationalen Gemeinschaft der Völker zu schaffen.“
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Ein Beileidstelegramm schickte auch die Sozialistische Internationale, deren Sekretariat in London ist.
„Die Sozialistische Internationale beklagt in tiefer Trauer den Tod Dr. Schumachers. Er ist für die Sache des Sozialismus gestorben, für die er, bedroht von Tortur und Tod mutig gekämpft hat. In seinem Schicksal und seinem Leiden verkörperte sich das Martyrium der deutschen Sozialdemokratie. Unter seiner mitreißenden Führung wurde die deutsche Sozialdemokratie ... ein schicksalsbestimmender Faktor Europas. Sein Andenken wird wie das August Bebels im Herzen der deutschen Arbeiterklasse erhalten bleiben.“
Die Lab our - P art ei bezeichnet den Tod des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher als schmerzlichen Verlust für den internationalen Sozialismus. In dem Telegramm des Sekretärs der britischen Labour-Partei, Morgan Phillips, heißt es:
„Unser aufrichtiges Beileid zum Tode Kurt Schumachers. Die Labourpartei betrauert mit Euch das Hinscheiden eines großen Führers und eines großen Sozialisten, dessen Scharfblick, Mut und Entschlossenheit im Widerstand gegen den nazistischen und kommunistischen Totalitarismus beispiellos war.“
Nahost-Pläne Titos
BELGRAD. Marschall Tito hat am Mittwochabend eine imilitärische Zusammenarbeit zwischen Jugoslawien, Griechenland und der Türkei befürwortet und sie für die nächste Zukunft in Aussicht gestellt. Türkischen Journalisten gegenüber äußerte er, daß die gegenseitigen Besuche türkischer und jugoslawischer Politiker und Militärs der erste Schritt dazu seien.
(Urheberrechtschutz Hermann Berger, Wiesbaden) 25. Fortsetzung Nachdruck verboten.
Er blinzelte und sah Bert nicht an.
„Sie kommt nach Hamburg“, sagte Bert.
„So? Das ist doch famos.“
„Wir heiraten in vier bis fünf Monaten.“
Jörn stand rasch auf und reichte dem Bruder die Hand: „Ich gratuliere. Na ja... Nell hatte damals in Buenos Aires schon viel für dich übrig. Ihr paßt zueinander. Es ist wirklich gut, daß es so gekommen ist. Ich freue mich.“
Jörn ging.
15.
Im November 1937 hatten Bert und Nell in Hamburg geheiratet. Seitdem waren fast zwei Jahre vergangen.
An diesem heiteren Junimorgen 1939 fuhr Bert wie immer ins Kontor. Um halb neun kam er an. Die Geschäftsräume der Helken-Linie lagen am „Steinhöft“, unmittelbar am Hafen, im zweiten und dritten Stockwerk eines großen Bürohauses.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er die eingelaufene Post flüchtig durchgesehen hatte, nahm er die Morgenzeitung zur Hand. Schon war wieder das bedrückende Gefühl in ihm, das ihn seit Tagen nicht mehr losließ.
Die Lorena in Hamburg: Gestern abend war sie zum ersten Male hier aufgetreten und heute würde sie das Gastspiel wiederholen. Dauernd wanderten seine Gedanken um diesen Komplex, er kam immer wieder darauf zurück.
An jenem Morgen, da die fünf großen Ozeandampfer mit den heimkehrenden Spanienkämpfern auf der Elbe erschienen waren, hatte ihm Nell das Inserat gezeigt, dann war nicht mehr darüber gesprochen worden. Am nächsten Tag hatte Bert die Ankündigung auf den Anschlagsäulen entdeckt: es waren große, auffällige Plakate. Obwohl die Saison für derlei Veranstaltungen schon vorüber war, gab die Lorena zwei Tanzabende in Hamburg. Das Gastspiel fand in einem Theater statt, in dem sonst Operetten gespielt wurden. Alles das hatte wohl Kastenreuth arrangiert.
Bert vertiefte sich in die Zeitung. Con- chita war gestern abend aufgetreten, das Blatt brachte sicher eine Rezension. Er fand sie bald. Es war eine glühende Hymne auf die große Kunst der argentinischen Tänzerin. „Das Publikum war wie berauscht“, schrieb der Kritiker, „immer wieder mußte sich die Lorena vor dem Vorhang zeigen. Leider schenkt uns diese wundervolle Frau nur ein so kurzes Gastspiel. Wir könnten sie viele, viele Abende sehen, ohne ihrer hohen Kunst müde zu werden.“
Bert legte die Zeitung wieder zusammen.
Arbeit, Betäubung! Conchita würde Hamburg wieder verlassen, vielleicht schon morgen nach ihrem letzten Abend. Was kümmerte es ihn, daß sie hier war? Lächerlich, sich von diesen törichten, abwegigen Gedanken bedrängen zu lassen!
Gewiß, er hatte mit der Absicht gespielt, sie aufzusuchen und zur Rede zu stellen. Denn ohne Zweifel gingen diese seltsamen Gerüchte, die in Buenos Aires umliefen und von denen ihm sein Freund Roland Hansen geschrieben hatte auf die Lorena zurück. Nach schwerem Kampf hatte er auf die Aussprache verzichtet. Er war da
von überzeugt, daß sie zu keinerlei Resultat führen würde...
Eine Stunde später trat sein Bruder Jörn bei ihm ein und ließ sich in einen Sessel neben seinem Schreibtisch nieder. Er legte einige Male die Hand vor den Mund, um kräftig zu gähnen. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
„Die „Ilse Marianne“ ist im Hafen, Bert. Mösling hat sie von Bremen herübergebracht. Feines Schiff! Wollen wir sie uns heute ansehen? Ich glaube, wir können sie bald auf Fahrt schicken."
„Sonst was Neues, mein Junge?“
„Wüßte nichts.“
„Du warst gestern abend nicht bei uns.“
„Hatte was anderes vor. Kann ich mal in die Zeitung hinsehen?“
Jörn überflog die erste Seite, dann wandte er das Blatt um. Bert, der ihn beobachtete, sah deutlich, wie sein Blick aa der Rezension hängen blieb. Doch in seinem schmalen, müden Gesicht rührte sich nichts. Als er mit der Kritik fertig war, sah er plötzlich zu Bert auf.
Er lächelte: „Auch schon gelesen? Ja? Interessant, was? Hatte natürlich einen Bombenerfolg. Sie geht von hier aus nach Berlin."
„Hast du eigentlich mit Nell darüber gesprochen?“
„Nein. Wozu auch? Möchte dir ein Geständnis machen, Alter. Hab’ sie mir gestern abend angesehen, die Lorena."
„Wie kamst du darauf?"
„Merkwürdiig, es zog mich sozusagen hin. Ich habe, wie du weißt, eine starke Abneigung gegen sie. Aber gerade deshalb ... Sie war übrigens fabelhaft. Ganz unverändert, hatte nur ein neues Programm. Machte einige Konzessionen an den mitteleuropäischen Geschmack sehr
geschickt. Du brauchst es aber Nell nicht zu sagen, daß ich da war. Sie würde es mir vielleicht übel nehmen. Es war auch eine Verrücktheit. Du kennst ja so etwas nicht, Gott sei Dank; dir würde es nicht einfallen. Natürlich ist deip Standpunkt der richtige. Was soll man sich belasten! Ist ja hundert Jahre her.“ — Er erhob sich: „Will mich an die Arbeit machen, Bert.“
Um elf Uhr besichtigten sie gemeinsam die „Ilse Marianne“. Es war der Dampfer, den sie vor wenigen Tagen in Bremen erworben hatten. Als sie zurückfuhren, sagte Bert:
„Du weißt doch, der alte Enkeworth rief gestern bei mir an. Ich habe ihn eingeladen. Er kommt an einem der nächsten Sonntage mit seiner Familie herüber.“
Jörn schmunzelte: „Und die Cora bleibt sicher nicht zu Haus. Solche Sachen machst du eigentlich sehr nett."
„Du täuschst dich. Die Idee mit der Einladung ist nicht von mir.“
„Von wem denn?“
„Von Nell.“
„So? — Er lachte: „Wenn Nell Ideen hat, sind sie immer richtig. Die Cora ist ja auch wirklich ein reizendes Mädel. Sie wird Nell todsicher gefallen.“
Der Wagen hielt vor dem Kontorhaus am Steinhöft. Sie fuhren im Lift hinauf- Als sie durch das Vorzimmer gingen, fiel ihnen eine Dame auf. Sie trug ein lichtbraunes Kostüm und ein kleines, exzentrisches Hutgebilde. Sie saß dort an der Wand, in einem der hübschen Sessel und rauchte eine Zigarette. Sie blieb sitzen und fixierte Bert. Er verneigte sich leicht vor ihr und ging rasch weiter. Jörn folgte ihm. .
Fortsetzung folgt