NUMMER 15 S
MONTAG, 1. OKTOBER ig 51
Ostberlin beseitigt Straßensperren
Postverkehr erstmals wieder unbehindert 1 Weitere Konzessionen erwartet
BERLIN. Ostberliner Arbeitskommandos haben, unterstützt durch die Feuerwehr und unter Aufsicht der Volkspolizei, am vergangenen Wochenende etwa 50 Straßensperren an der Sektorengrenze beseitigt. Weitere 20 Sperren sollen folgen. Das Ostberliner Informationsamt äußerte hierzu: „Wenn die gesamtdeutsche Beratung zustande kommt und freie Wahlen stattfinden, werden auch die letzten Beschränkungen an den Sektoren- und Zonengrenzen fallen.“
Die beiden zwischen der Bundesrepublik und Westberlin sowie in umgekehrter Richtung fahrenden Postzüge passierten in der Nacht zum Sonntag erstmals seit längerer Zeit ungehindert die sowjetzonale Grenzkontrollstelle Marienborn. Die Postwaggons wurde zwar geöffnet und kontrolliert, gaben aber „keinen Anlaß zu Beanstandungen“.
Der Westberliner Senat bezeichnet die Beseitigung der Straßensperren als einen ersten Erfolg der entschlossenen und entschiedenen Haltung des Senats und des Abgeordnetenhauses. Wichtiger sei allerdings die Beseitigung
6,3 Mrd. „Minimalforderung“
Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel
BONN. Eine erste inoffizielle Fühlungnahme zwischen Vertretern Israels und der Bundesrepublik zur Erörterung von Wiedergutmachungsfragen' werde vielleicht bereits in den nächsten Wochen stattfinden, verlautete aus Bonner Regierungskreisen. Da die beiden Länder noch keine diplomatischen Beziehungen miteinander unterhalten, wird wahrscheinlich der erste Kontakt an einem dritten Ort durch Parlamentarier hergestellt.
Aus der ersten israelischen Stellungnahme zur deutschen Regierungserklärung vom vergangenen Donnerstag glaubt man in parlamentarischen Kreisen Bonns schließen zu köh- nen, daß Israel neben einer schnellen Durchführung des Wiedergutmachungsprozesses als Grundlage eine Reparationsforderung von 6,3 Milliarden DM stellen werde. Israel hatte diese Summe im Frühjahr den ehemaligen Alliierten des Krieges gegenüber als „Minimalforderung“ der Entschädigung für das während der Nazizeit beschlagnahmte jüdische Eigentum bezeichnet. Weiter nimmt man in Bonn an, daß Israel nicht unbedingt auf Barzahlung bestehen, sondern mit einer über Jahre hinweg verteilten Lieferung deutscher Erzeugnisse einverstanden sein werde. Auch vermutet man, daß die Juden gesetzliche Sicherungen gegen den Antisemitismus in Deutschland wünschen.
Zwisdienurteil
Bundesregierung nur „beteiligt"
th. KARLSRUHE. Das Bundesinnenministerium hat namens der Bundesregierung angesichts der morgigen Sitzung beim Bundesver- fassungsericht den Antrag gestellt, das Bundesverfassungsgericht möge in dem Verfassungsstreit über die Neugliederungsgesetze durch ein Zwischenurteil entscheiden, daß die Bundesregierung in dem Prozeßverfahren nicht „Antragsgegnerin“, sondern neben dem Bundesrat und dem Bundestag nur „Beteiligte“ sei. Das die Neugliederungsgesetze anfechtende Baden hatte die Bundesregierung als Antragsgegnerin bezeichnet.
Die Regierungen von Tübingen und Stuttgart haben ferner beim Bundesverfassungsgericht beantragt, das Gericht möge den Antrag der badischen Landesregierung auf Anhörung der von ihr benannten Sachverständigen, der Universitätsprofessoren Nawiasky und Scheu- n e r, als unzulässig zurüdeweisen. Die beiden Herren seien nämlich als bezahlte Parteigutachter in der vorliegenden Sache tätig. Von solchen Beratern werde niemand Unbefangenheit erwarten. Sie müßten daher wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
der anderen Sperren, die in Berlin aufgerichtet worden seien und die Stadt in zwei Teile spalteten. Der Senat werde nach wie vor die Wiederherstellung der politischen Freiheit in der ganzen Stadt, die Freilassung aller politischen Häftlinge, Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit verlangen.
Auf Grund von Informationen aus der sowjetischen Kontrollkommission, von der Sowjetzonenregierung, der SED und den sogenannten bürgerlichen Parteien in der Sowjet
zone rechnet man in Berlin damit, daß die sowjetzonale Volkskammer nach Erhalt der Forderungen des Bundestags Vorschlägen wird, den Wahlvorschlag des Bundestags zur Grundlage von Beratungen der Vertreter beider Seiten in Berlin zu machen. Wahrscheinlich werde die Volkskammer gleichzeitig bereits ihre Vertreter hierfür benennen; das bedeute aber keineswegs eine grundsätzliche Billigung aller 14 Punkte. Darüber hinaus würde eine Amnestie für politische Häftlinge vor allem für Jugendliche. vorbereitet und seien Erleichterungen im Interzonen-Personenverkehr zu erwarten. Scharfe Äußerungen von SED-Seite gegen die Bonner Regierungserklärung dienten nur dazu, die Konzessionsbereitschafi zu verschleiern.
Re-Liberalisierung
PARIS. Das „Restricted Committee“ — ein engerer Ausschuß der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) - hat dem OEEC-Rat eine Re-Liberalisierung der Einfuhren in Höhe von 45—50 Prozent der deutschen Einfuhr ab 1. Januar 1952 vorgeschlagen. Prof. Erhard und Generaldirektor Friedrich erklärten anläßlich der Verabschiedung Friedrichs am vergangenen Freitag übereinstimmend, daß sie nunmehr den Zeitpunkt für gekommen halten, die Liberalisierung so schnell wie möglich wieder einzuführen.
„Nicht zum Schaden unserer freien Verfassung“
BONN. Bundeswirtschaftsminister Prof. Erhard verabschiedete am Freitag auf der Bundespressekonferenz Generaldirektor Otto A. Friedrich, der nach sechsmonatiger Tätigkeit als Rohstoffberater der Bundesregierung in die Industrie zurückkehrt. In einem Rückblick auf seine Tätigkeit äußerte Friedrich, es sei „nicht zum Schaden unserer freien Verfassung", wenn sich Persönlichkeiten der Wirtschaft zeitweise ganz dem öffentlichen Interesse widmeten. Wenn sie es nicht länger tun als unbedingt nötig, werde man ihnen dankbar sein.
Exportkonjunktur beendet?
MÜNCHEN. Das Münchener IFO-Institut für Wirtschaftsforschung stellte vor einigen Tagen fest, die Zeit der stetig steigenden Auslandsumsätze sei für viele Branchen zunächst vorüber, in einigen seien sogar Rückschläge zu erwarten. Die Eisen-, Blech- und Metallwarenindustrie erwarte einen leichten Rückgang der Ausfuhr. Günstige Möglichkeiten schienen für mittlere und schwere Lkw gegeben zu sein, während der Export leichter Lkw eher zurückgehen dürfte. Der deutsche Personenkraftwagen stoße auf eine unverkennbare Marktsättigung. — Diese Prognose wird im ganzen bestätigt durch eine Mitteilung des Statistischen Landesamtes Tübingen, wonach die Industrieausfuhren von Württemberg-Hohen- zollern im Juli 1951 um 4,5 Prozent zurückgegangen sind.
Stromkürzung in Bayern
MÜNCHEN. Nach Nordrhein-Westfalen wird nun auch Bayern zu Kürzungen des Industriestromes schreiten: Der Strombezug der Großchemie wird um 20 Prozent gekürzt. Ferner sei ab 1. Oktober die Heranziehung größerer Industriekraftwerke für die öffentliche Versorgung vorgesehen.
Bierpreiserhöhung?
MÜNCHEN. Der Präsident des Deutschen Brauerbundes, Direktor Hans P f u e 1 f, bezeich- nete auf dem deutschen Brauertag die Schaffung einer Marktordnung als das Kernproblem der deutschen Brauwirtschaft. Auf die Frage des Bierpreises eingehend, betonte er, Bier sei das einzige lebenswichtige Gut mit einem seit 1949 unveränderten Preis. Wenn auch ein Teil der Kostenerhöhungen für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Frachten, Kohle, Löhne usw. durch Rationalisierung aufgefangen werden könne, so lasse sich doch eine maßvolle Preissteigerung nicht vermeiden.
^ Firmenberichte
WOLFSBURG. — VW-Produktion In Südafrika. Im September ist, wie die Werksleitung des VW-Werkes mitteilt, die Arbeit im VW-Montage- werk in Südafrika angelaufen und damit ein neuer aussichtsreicher Markt erschlossen worden. Im übrigen ging die VW-Produktion im Wolfsburger Werk von 9877 Einheiten im August auf 9082 im September zurück.
HECHINGEN. — 50 Jahre Trikotwarenfabrik Karl Grotz. Die hohenzollerische Trikotwarenfabrik Karl Grotz, Hechingen, blickt heut« auf ihr 50jähriges Bestehen zurück. Das 300 Arbeitskräfte beschäftigende Unternehmen wird immer noch von dem aus Balingen stammenden, jetzt 82jährigen Begründer zusammen mit seinem Enkel geführt.
TÜBINGEN. — Drei neue Betriebe. Im August wurden in Württemberg-Hohenzollem drei Betriebe neu gegründet, und zwar die Firma Ludwig Böttcher, mech. Strickwarenfabrik io Straßberg, die Firma Charmeuse-V eredelung Baldauf in Metzingen und die Firma Emil Kiefer, Metallwaren- und Uhrengehäusefabrik, die ihren Betrieb mit 151 Arbeitskräften von Pforzheim nach Birkenfeld verlegt.
Sowjetisches Veto erwartet
Heute Ölkrise vor dem Sicherheitsrat / Blockade gegen Persien in Sicht
WASHINGTON. In westlichen politischen Kreisen rechnet man damit, daß die Sowjetunion sich im Sicherheitsrat auf die Seite Persiens stellen und erklären wird, der Ölkonflikt sei eine innerpolitische Angelegenheit, für die der Rat nicht zuständig sei. Trotzdem wird der britische Schritt von amerikanischen Beamten mit der Begründung befürwortet, daß damit erneut Zeit gewonnen werde, um durch andere Gegenmaßnahmen die Lage im Nahen Osten zu bessern.
Der Weltsicherheitsrat ist auf Antrag Großbritanniens für heute, Montagnachmittag, 16.30 Uhr einberufen worden, um sich mit dem britisch-persischen Ölkonflikt zu befassen. Die britische Regierung hat dem Rat mitgeteilt, daß sie den Ölkonflikt als eine Bedrohung des Weltfriedens ansehe. Großbritannien will Persien zur Beachtung der einstweiligen Verfügung des Haager Gerichtshofes vom 5. Juli zwingen, die beiden Parteien im Ölkonflikt einseitige, die Lage verschärfende Maßnahmen bis zum Erlaß eines endgültigen Urteils unter-
Kleine Weltdironik
MÜNCHEN. Gegen die Stimmen der deutschen Gemeinschaft wurde die bayrische Regierung vom Landtag aufgefordert, umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, der alle Kundgebungen nationalsozialistischen Inhalts unter schärfste Strafe stellt und insbesondere das Singen und Spielen von Liedern und Musikstücken betont nationalsozialistischen Charakters verbietet.
BONN. Der deutsche Delegationsführer für die Verhandlungen über eine europäische Verteidigung,' Blank, und der Sachverständige der Bundesregierung, General a. D. Speidel, nehmen an den heute wieder beginnenden Europaarmeebesprechungen teil. Die französische Hohe Kommission dementierte Meldungen, wonach die Anwesenheit Speidels in Paris nicht erwünscht sein sollte.
BONN. Der Deutschlandrat der „Jungen Union“ sprach sich am vergangenen Wochenende gegen die „Erste Legion“ aus und schloß sich damit der Ansicht des gesamtdeutschen CDU-Vorstan- des an. Zum ersten Vorsitzenden wurde wiederum der CDU-Bundestagsabgeordnete Majonica gewählt.
DÜSSELDORF. Der Bund Deutscher Kriegsbeschädigter und Kriegshinterbliebener mit Sitz in Düsseldorf hat Bundespräsident Prof. Heuß brieflich mitgeteilt, daß seine Mitglieder in Zukunft bei Zusammenkünften und ähnlichen Gelegenheiten die ihnen verliehenen Verwundetenabzeichen beider Weltkriege tragen wollten.
HAMBURG. Die sächsisch-thüringischen landsmannschaftlichen Gruppen und Vereinigungen im Bundesgebiet schlossen sich auf einer Delegiertenversammlung am Wochenende in Hamburg zu einem gemeinsamen Verband zusammen, der etwa 600 000 Personen umfaßt.
PARIS. Vor einem französischen Militärgericht in Paris wurden zwei ehemalige Angehörige der Gestapo wegen Teilnahme an verschiedenen Deportationen und Erschießung von Geiseln zu lebenslänglich Gefängnis, zwei weitere zu je 5 Jahren Zuchthaus und drei zu acht bzw. fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
BASEL. Bundespräsident Prof. Heuß traf am Samstag in einem Sonderwagen der Deutschen
sagt. Insbesondere aber wird England den Widerruf des Ausweisungsbefehls fordern.
Ministerpräsident Mossadeq wird an der Spitze der persischen Delegation sein Land vor dem Sicherheitrat persönlich vertreten. Er wird allerdings die heutige erste Sitzung des Rates abwarten und dann erst eine endgültige Entscheidung über seinen Flug nach New York treffen, wie der stellvertretende Ministerpräsident F a t i m i gestern bekannt gab. Weiter erklärte der stellvertretende Ministerpräsident, die Tatsache, daß Mossadeq persönlich nach New York gehe, bedeute nicht, daß Persien den Sicherheitsrat als für den Ölkonflikt zuständig betrachte. Großbritannien habe die persische Ölverstaatlichung im Prinzip anerkannt.
Korrespondentenmeldungen aus London besagen, daß die von England angekündigte Ölblockade im persischen Golf erst begänne, wenn es etwas zu blockieren gäbe. Persische Ölverschiffungen aus Abadan seien zurzeit wegen Tonnagemangels nicht möglich.
Bundesbahn in der Schweiz ein, wo er auf ärztlichen Rat in Locarno einen etwa zweiwöchigen Kuraufenthalt nehmen wird.
MADRID. Am Dienstag beginnen die größten spanischen Manöver seit Kriegsende mit einer Dauer von einem Monat. Den Übungen wird ein sowjetischer Erfolg über General Eisenhowers Atlantikpaktstreitkräfte zugrunde gelegt.
STOCKHOLM. Der schwedische Ministerpräsident Erlander überreichte am Samstag König Gustav VI. die Ministerliste eines Koalitionskabinetts. In der neuen Regierung sitzen vier Minister der Agrarpartei; auch die sozialistischen Kabinettsmitglieder wurden zum Teil ausgewechselt. Außenminister Unden ist auf seinem Posten verblieben.
CATANIA. Der Vulkan Ätna auf Sizilien hat am vergangenen Wochenende -in einem neuen starken Ausbruch große Lavamengen ausgestoßen.
Manöver beendet
NEUSTADT/HAARDT. Die dreitägigen französischen Manöver, an denen auch amerikanische, belgische und holländische Einheiten teil- nahmen, sind am Sonntag mit einem erfolg- feichen Gegenangriff über den Rhein nach Osten beendet worden. Die Manöver wurden im Rahmen der gleichzeitig abgehaltenen Luftübungen „Unternehmen Cirrus“ von alliierten Luftstreitkräften unterstützt.
Der französische Verteidigungsminister B 1 - dault traf gestern morgen in Neustadt an der Weinstraße im Manöverhauptquartier ein. Nachmittags besichtigte er französische Truppen bei Schwetzingen. General Eisenho- wer, der Oberbefehlshaber der Atlantikpaktstreitkräfte, kehrte nach einer Truppenbesichtigung in Wiesbaden am Samstagabend wieder nach Paris zurück.
Unter den Vertretern von 20 Nationen, die als Gäste am Manöver teilnahmen, sah man Offiziere aus Spanien, Südkorea und Jugoslawien.
Ein heiterer Roman oon Franz Goßt:
„Nachsaison"
Copyright by Schwäb. Verlagsgesellschaft, Tübingen
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„Freilich fahren wir. Steigen’s nur ein da hinten!“ — Damit deutete der Martin mit dem Daumen über die Schulter auf den Einspänner. Hatte er schon vorher keineswegs die Begeisterung seines Vaters für den angekündigten Gast aufgebracht, weil ihm die bäuerliche Arbeit von Natur aus mehr lag als das Wirten, so hatte er jetzt einen richtiggehenden Groll auf den Amerikaner. Denn wenn schon der Lackl ganz und gar nicht fremdländisch ausschaute, so war um so weniger, er, der Martin, mit einem Hausknecht zu verwechseln.
„Gebens den großen Koffer her!“ traf er seine Anordnungen für die Abreise nach Zwischenquell. „Sie und der kleine Koffer haben im Wagen drinnen Platz.“
Schwungvoll und ohne jegliche Achtung für me farbenfreudigen Hotelzettel haute er den Koffer neben den Kutschbock, blinzelte dann schief nach hinten, ob der Fremde im Wagen kaum daß dieser sich halbwegs zu- ^atte, heß er den Gaul anziehen. Geschüttelt und gebeutelt fuhr die Zukunft Zwischenquells dahin und besah sich eingehend den breiten Rücken Martins und das fette, auf- und abwippende Hinterteil des Pferdes.
Schon der erste Abend brachte dem Hir- sefaenwirt einen Vorgeschmack künftigen Reichtums. Waren an gewöhnlichen Wochentagen nur wenige Gäste anwesend, die auch meistens bald wieder heimzu strebten, so füllte sich heute ein Tisch nach dem anderen. Man wollte schließlich doch auch das Wundertier sehen, das zu so ungewohnter Zeit dahergeschwirrt kam. Es gab auch im Sommer nicht viele Gäste in Zwischenquell, aber im Herbst
war noch nie einer gekommen. Eine Hochsaison kannte man nicht. Die wenigen vorhandenen Fremdenzimmer schlossen meistens schon anfangs September ihre Läden wie müde Schläfer die Augen, wenn sie im warmen Bett liegen, um sie erst mit nächstem Juli wieder aufzuschlagen.
Dem Semmelblonden war am Ofentisch gedeckt worden; an ihm saßen regelmäßig nur die „Besseren“ von Zwischenquell, die sich auch an diesem denkwürdigen Abend mit der durch die Anwesenheit des hohen Gastes gebotenen Zurückhaltung an ihre gewohnten Plätze begaben. Das waren der alte Kralinger selbst, dann der Obermoser-Ander, der Spengler Georg Kofler, kurz Spengler-Schorsch genannt, und der Hauser Valtl, der sich nach bestem Können bemühte, Tische, Bänke, Kästen und auch Särge zu machen für die, die sich an den Ecken und Kanten seines massiven Hausrats ein Leben lang genügend blaue Flecke gestoßen hatten. Andächtig sehen sie zu, wie sich der Amerikaner einen Berg goldenen Schmarrns einverleibte. Auch beim Wein schien er keinen schlechten Zug zu haben. Die Bedienung hatte die Wirtin selbst übernommen, während die Kellnerin Maria nur die minderen Gäste versorgen durfte.
Endlich war der letzte Bissen verschwunden und genießerisch wischte sich der Amerikaner den Mund ab. Nun konnte man vielleicht weitere menschliche Beziehungen mit ihm anknüpfen.
Der Wirt wagte den ersten Vorstoß: „Hat’s geschmeckt?“
„Ausgezeichnet Herr Kralinger, ausgezeichnet!“ — Das Lob zauberte einen zufriedenen Schimmer in das Gesicht des Wirtes, daß es glänzte wie der Vollmond in einer lauen Maiennacht.
„Überhaupt“, fuhr der Amerikaner, freigebig sein Lob ausschüttend wie Spülwasser, fort, überhaupt muß ich sagen, ich fühle mich aufgehoben wie im Paradies. Das gemütliche Zimmer mit dem Blick auf den Dorfplatz und
sein beschauliches Leben, die herrliche Luft“ — die allerdings an diesem Ort und zu dieser Stunde schon etwas eingedickt war und fast in Würfel geschnitten werden konnte — „das klare, vor Frische prickelnde Wasser, die Berge — man sitzt wirklich zwischen den Quellen der irdischen Wohlgenüsse.“
„Leider gibt es wenig Leute, die das so zu schätzen wissen wie Sie“, ließ Kralinger seine Propagandamaschine anlaufen. Aber sie kam vorläufig nicht in Schwung.
„Nur Ihr Hausknecht scheint etwas ungeschliffen zu sein“, kam nämlich ein kleiner Dämpfer für den Wirt, der in schmatzende Seligkeit hinuntergerutscht war wie eine grün- delnde Ente in den Schlamm.
„Hausknecht?“ fragte er verwundert, „Hausknecht hab ich keinen, das mach ich selber.“
„Na, der Bursche eben, der mich hereingeführt hat.“
Ein Tritt auf das schönste und ausgewachsenste Hühnerauge hätte ihn vor Schmerz nicht so aufzucken lassen wie das Beschämende, das er über seinen Sohn vernehmen mußte. Groß war die Versuchung, diesen derart weit vom Stamm gefallenen Apfel einfach zu verleugnen. Aber der Gast würde doch einmal draufkommen, was für einen Rüpel sich der Wirt herangezüchtet hatte, und So war es entschieden besser, der unvermeidlichen Entdeckung von vornherein die Spitze abzubrechen.
Aber vornehmen würde er sich den Kerl gehörig!
„Sie müssen schon entschuldigen“, würgte der arme Vater heraus, „das war mein Sohn, der Martin.“
„Ach, was Sie nicht sagen!“ — Nun wußte offenbar der Amerikaner nicht, wie er seine etwas vorlaute und wenig schmeichelhafte Bemerkung auswetzen könnte. Der „Ungeschliffene“ war immerhin der Sohn des Hauses, in dem sich die von Amerikas Unrast heruntergekommenen Nerven bei aufmerksamer Bedienung erholen sollten.
„Ja leider ist es so“, druckste Kralinger weiter: „Sie müssen nämlich wissen, der Martin ist ein Dickschädel, der grantig wird, wenn man ihn von einer Arbeit, die er sich in den Kopf gesetzt hat, abhält.“
„Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus gut begreifen", erklärte der Fremde verzeihend; er fühlte wieder Oberwasser, als er sah, wie verlegen der Wirt war.
„Was hatte er denn so Wichtiges vor?“ fragt» er teilnahmsvoll weiter. O Himmel, auch da* noch! — Verfluchter Mist!
„Mistführen wollte er!“ schmetterte Kralinger verzweifelt mit der Wahrheit heraus, weil ihm so schnell eine brauchbare Ausrede nicht einfiel.
Der Amerikaner schluckte an dieser Antwort wie an einer bitteren Pille. Mit einem Mundvoll Wein spülte er den üblen Nachgeschmack hinunter.
Es war ein Glück, daß in diesem etwas kitzligen Zeitpunkt der Briefträger-Lois aufkreuzte und mit sicherem Blick den ver- sprechendsten Platz der ganzen Stube erfaßte. Es war ein noch freier Stuhl am Tische de» Amerikaners. Obwohl der Lois sonst nicht an diesen bevorzugten Tisch gehörte, war diesmal der Wirt froh, daß er sich nicht an das übliche Zeremoniell hielt. Er brachte eine Ablenkung-
„Mit Verlaub!“ — Formhalber vergewisserte sich der Lois so, ob seine Anwesenheit genehm sei. Man hätte auch nicht viel dagegen unternehmen können, denn während er fragte, saß er auch schon. Im gleichen Atemzug bestellte er bei der Kellnerin, die nun auch die Betreuung dieser Ecke übernommen hatte, ein Viertel Tischwein. Dann stürzte er sich nu» der ganzen Kraft seiner Beredsamkeit auf den Amerikaner
„Wie gefällt’s Ihnen bei uns da herinnen, Herr Maria?“
„Myera — Myera“, stellte dieser richtig.
„Entschuldigen Sie — aber der Name wird mir schon geläufig werden, wenn ich Ihnen alle Tage einen Haufen Post bringen muß. 1
(Fortsetzung folg*)