NUMMER 84

SAMSTAG, 2. JUNI1951

Bemerkungen zum Tage

KeinUltimatum"

cz. Nach 64 Sitzungen der Außenminister­stellvertreter in Paris hat der Westen erneut die Initiative ergriffen mit seinem Vorschlag, am 23. Juli in Washington die Außenminister­konferenz zu starten. Die drei Alternativvor­schläge des Westens von Anfang Mai, die er­neut zur Wahl empfohlen wurden, lassen für die Tagesordnung jede Möglichkeit offen. Sie reichen von einer Konferenz ohne feste Punkte bis zur Entscheidung der Außenminister selbst über zwei getrennte Tagesordnungsvor­schläge, einem westlichen und einem öst­lichen. Die wiederholte Versicherung von west­licher Seite, der jetzige Schritt stelle keinUl­timatum dar, bezeugt, daß man auch jetzt es nicht auf einen Bruch ankommen lassen will und, wie gleichfalls hervorgehoben, selbst die Fortsetzung der Pariser Besprechungen, die nicht mehr von der Stelle rücken, in Kauf zu nehmen bereit ist. Im derzeitigen Stadium versucht die eine Seite die andere in eine Position zu drängen, wo diese entweder die Schuld am Scheitern der Konferenz auf sich nehmen oder nachgeben muß. Die Westmächte können sich darauf zurückziehen, daß die So­wjetunion die Außenministerkonferenz vor­schlug. Hat sich die politische Situation für Moskau so verändert, daß es auf die Konfe­renz nunmehr glaubt verzichten zu können? Wir wüßten nicht inwiefern. Möglich ist al­lerdings, daß die Sowjets die Entwicklung an einigenBrennpunkten so etwa in Korea und in Persien noch abwarten wollen, ehe sie ihre letzte hartnäckige, noch nicht erfüllte Forderung auf Behandlung des Atlantikpakts abmildem und damit den Weg zu der so bit­ter notwendigen Konferenz freimachen. Am 23. Juli in Washington? Noch ist es nicht so­weit.

Aus dem Kopf statt vom Papier

hr. Es hat uns nie recht eingeleuchtet, daß ausgerechnet die deutsche Bevölkerung poli­tisch rückständiger oder gar unbegabter sein soll als die der Nachbarländer. Was aller­dings nicht bestritten wird, ist eine bei uns weitverbreitete Interesselosigkeit an der po­litischen Arbeit, die in den deutschen Parla­menten geleistet wird. Daran braucht aber nicht ein vererbter und damit unkorrigier­barer Mangel schuldig zu sein. Zur Erklärung genügen völlig die geschichtlichen Ereignisse des letzten Menschenalters, nicht zuletzt die auf die Besetzung zurückgellende, noch immer nicht beseitigte politische Unmündigkeit der Bundesrepublik. Daneben macht unsere De­mokratie Kinderkrankheiten durch. Wir ha­ben nun einmal nicht die englische oder die von ihr abgeleitete amerikanische demokra­tische Tradition.

Es spricht aber sehr für das Bonner Par­lament, daß es Fehler und insonderheit eine Fehlentwicklung erkennt und korrigieren will, die wir in der zunehmenden Entpopularisie- rung der parlamentarischen Arbeit zu erken­nen glauben. Eine neue Geschäftsordnung für den Bundestag wird demnächst dieses Pro­blem anpacken. Die Abgeordneten sollen in freier Rede und Gegenrede diskutieren müs­sen. Aus dem Kopf und nicht vom Papier. Auch die sogenannteFragestunde soll ihre Verankerung in dieser Geschäftsordnung fin­den. Sie wird ähnlich gehandhabt wie die lokalen Foren. Monatlich können zwei Stun­den lang in einer Plenarsitzung mündliche Fragen an die Regierung gerichtet werden, die aus dem Stegreif zu antworten hat. Par­lament kommt von lateinischen parlare = re­den und heißt ungefährRedeversammlung. Bei uns müßten die Parlamente Manuskript- vorleseversammlungen heißen, da jede Ein­zelfrage wohlvorbereiteten Manuskriptver- lesem zu einer Kurzfassung des Partei­programms Gelegenheit bietet. Hand aufs Herz: Wer kann das längere Zeit anhören, ohne sich zu langweilen? Wir sind überzeugt: Ohne Manuskripte weniger unnötige Reden, größere Verständlichkeit, schnelleres Zusam­menfinden. Und sicher mehr Originalität und damit mehr politisches Echo.

Schönste Ehrenpflicht des Volkes

Staatspräsident Dr. Müller zur Haussammlung der Kriegsgräberfürsorge

TÜBINGEN. Anläßlich der Haussammlung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfür­sorge vom 1. bis 3. Juni in Württemberg- Hohenzollem sprach Staatspräsident Dr. Mül­ler am Freitagabend über den Südwestfunk, Studio Tübingen. Er dankte dem Volksbund für die Tatkraft und Hingabe, die er auch in den letzten Jahren trotz außerordentlicher Schwierigkeiten gezeigt habe, und bat die Be­völkerung von Württemberg-Hohenzollem, einen Teil ihrer Dankesschuld gegenüber den Toten abzustatten, indem sie der Haussamm­lung des Volksbundes zu einem vollen Er­folg verhilft.

Überall, wo sich der Volksbund heute an- schicke, die Bevölkerung an ihre gemeinsame Verantwortung gegenüber den Toten des zwei­ten Weltkrieges zu erinnern und sie aufzu­rufen, erachte es die Landesregierung als ihre Pflicht, sich zu den hohen Zielen des Volks­bundes in aller Öffentlichkeit zu bekennen. Es wäre ein untrügliches Zeichen für den Nie­dergang von Kultur und Gemeinschaftsge­fühl, wenn die Deutschen nach den Stürmen der zurückliegenden Kriegs- und Nachkriegs- jahre nicht mehr die Kraft besäßen, den Ge­fallenen der Schlachtfelder, den Toten des Bombenkrieges und den Opfern der Flucht und Austreibung im Osten Deutschlands ein ehrendes Andenken zu bewahren und den Grabstätten, wo immer die Möglichkeit be­stehe, eine Form zu geben, die Ausdruck einer veredelten Geistesgesinnung auch in großer Notzeit sei.

Auch in einer Zeit tätiger Friedensbereit­schaft werde es die schönste Ehrenpflicht des deutschen Volkes sein, seiner Toten aus dem letzten Völkerringen stets zu gedenken, ohne dabei die Frage aufzuwerfen, ob sie aus welt­anschaulicher Überzeugung, vaterländischem Pflichtgefühl oder in dumpfer Ergebenheit gegenüber den herrschenden Gewalten ihr Le­ben dahingegeben haben.

Schon nach dem ersten Weltkrieg habe es sich gezeigt, daß der Staat, selbst wenn er die erforderlichen Mittel aufbriflgen könnte, die weltweite Aufgabe der Kriegsgräberfür­sorge besser einer freiwilligen Organisation überlasse, bei der die Kräfte des Herzens vorherrschend seien. Bis zur Wiederaufnahme seiner Auslandstätigkeit beschränke sich der Volksbund darauf, den inländischen Gemein­den mit bewährtem Rat beizustehen und bei besonderer Bedürftigkeit auch geldliche Zu­schüsse zu gewähren. Allein in unserer süd- westdeutschen Heimat werden noch in diesem Jahr ungefähr 40 durch die Einwirkungen von Kriegshandlungen beschädigte Soldaten­friedhöfe neu gestaltet.

Großoftensive bei Hanoi

HANOI. Gegen den großen französischen Brückenkopf um Hanoi und das fruchtbare Delta des Roten Flusses greifen ununterbro­chen rund 45 000 Vietminh-Aufständische an. Das Ziel der Vietminhs ist offensichtlich, von dem fruchtbaren Deltaland noch vor der näch­sten Reisemte Besitz zu ergreifen. Die Kom­munisten greifen auf 30 km breiter Front aus dem Hügelland westlich des Duy-Flusses an. Die in diesem Abschnitt stehenden 4000 fran­zösischen Verteidiger sollen bereits beträcht­liche Verluste erlitten haben. Inzwischen ha­ben sie durch Fallschirmtruppen und Marine­einheiten Verstärkung erhalten.

Von der Kampffront wird berichtet, daß auf seiten der Vietminh internationale Einheiten eingesetzt sind. Verschiedentlich seien Be­fehle in französischer, deutscher und eng­lischer Sprache gehört worden.

Volksbefragung in der Sowjetzone

Propaganda auf Hochtouren / Kaiser:Aufrechtes Kreuz einzeichnen

BERLIN. Am kommenden Sonntag, Montag und Dienstag wird auf Regierungsanordnung in der Sowjetzone die kommunistischeVolks­befragung gegen die Remilitarisierung Deutsch­lands und für den Abschluß eines Friedens­vertrages im Jahre 1951 stattfinden. Waren bei denVolkswahlen im Oktober 1950 an­geblich 99,7 Prozent aller gültigen Stimmen für die Einheitsliste derNationalen Front abgegeben worden, so soll nach Erklärungen zahlreicher Parteifunktionäre diesmal ein hundertprozentiges Ja für den Frieden er­reicht werden.

Die Abstimmung soll nach der Regierungs­anordnungfrei und geheim sein. Es sind aber auch jetzt wieder an vielen Orten Reso­lutionen gefaßt worden, in denen sich Be­triebsbelegschaften, Sportvereine und andere Gruppe geschlossen verpflichten, aus ihrem Friedenswillen kein Geheimnis zu machen

Kleine Weltchronik

MAINZ. CDU und FDP von Rheinland-Pfalz haben sich jetzt grundsätzlich über die Bildung einer neuen Landesregierung geeinigt. Zur Auf­teilung der einzelnen Ressorts sind mehrere Vorschläge erarbeitet worden, über die die Frak­tionen am Montag beschließen werden.

HAMM. Bei der schweren Schlagwetterexplo­sion in der Nacht zum Donnerstag auf der SchachtanlageHeinrich Robert in Herringen bei Hamm in Westfalen kamen 14 Bergleute ums Leben, 20 wurden schwer verletzt.

HAMBURG. Gegenwärtig streiken an der Nord- und Ostseeküste 7000 Fischer, um gegen die Kohlenpreise für Dieselkraftstoffe zu prote­stieren. Wie der deutsche Fischereiverband mit­teilt, ist bisher noch keine Einigung über einen für die Fischer tragbaren Preis erzielt worden.

Nordirland ein. Ihre Ankunft stand im Schat­ten drohender Demonstrationen irischer Natio­nalisten, die am Morgen das königlich-britische Zollhaus im Belfaster Hafen in Brand gesteckt hatten. Die irischen Nationalisten fordern die Abtrennung der sechs nordirischen Provinzen und ihre Aufnahme in die unabhängige Irische Republik.

WASHINGTON. Der amerikanische Rechtsan­walt Warren Magee hat Präsident Truman am Donnerstag ein von 600 000 Deutschen unter- zeichnetes Gnadengesuch für die sieben Lands­berger Todeskandidaten zugeleitet. Das Gnaden­gesuch bittet um Umwandlung der Todesurteile in lebenslängliche Gefängnisstrafen.

NEW YORK. Am Freitag übernahm der sowje­tische Chefdelegierte bei der UN, Jakob Malik, Vorsitz im Sicherheits-

. __Jo-jo, für einen Monat den Vorsitz im öicnerneus-

niissel-d rat - der turnusgemäß unter den Mitgliedstaaten Verkehrsflughafen Ha^burg-Fuhlsbuttel, Düss hd wechselt Man erwartet, daß Malik den Rat dorf-Lohausen und Wahn bei Köln wurden am daran hin<Jern wlll irgendwelche neuen Maß-

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künftig dem meteorologischen Zentralamt in Hamburg. Damit befindet sich der gesamte Flug­wetterdienst auf den Verkehrsflughäfen des Bun­desgebiets in deutscher Hand.

OSLO. In Norwegen ist der Brotpreis am Don­nerstag zum drittenmal innerhalb Jahresfrist erhöht worden, Er ist von 29 Pfennig für den Laib Brot im April 1950 auf 48 Pfennig herauf­gegangen.

LONDON. Die britische Regierung sei inoffi­ziell von den USA ersucht worden, die Aus­lieferung von zwei Tankern, die gegenwärtig für Polen auf britischen Werften gebaut wer­den, zu verhindern, verlautet aus gutunterrich­teten Kreisen Londons. Die beiden 7600 t großen Schiffe wurden 1948 von der staatlichen polni­schen Ozeanlinie in Auftrag gegeben und im Dezember 1950 mit vier Fünftel der Kaufsumme bezahlt.

BELFAST (Nordirland). Die britische Königin Elizabeth traf am Freitag in Begleitung der Prin­zessin Margaret zu einem viertägigen Besuch in

Regierungskoalition in Führung

Die Wahlen in Irland

DUBLIN. Die Regierungskoalition des ge­genwärtigen irischen Ministerpräsidenten John Costello liegt nach den bisher vor­liegenden Ergebnissen der irischen Parlaments­wahlen vom Mittwoch mit fünf Sitzen vor der OppositionsparteiFianna Fail des ehemali­gen Ministerpräsidenten de Valera in Füh­rung. Die Koalitionsparteien haben nach dem letzten Stand der Auszählung 70 Sitze, die Opposition 65 Sitze erhalten. 10 Sitze müssen noch ermittelt werden. Bei dem komplizierten Verhältniswahlsystem in England wird mit dem Endergebnis der Wahlen nicht vor Sams­tag gerechnet. Noch ist der Wahlausgang offen.

und ihre Ja-Stimmen offen abzugeben. Ab­stimmungsberechtigt sind bei der Volksbe­fragung zwölf Millionen Einwohner der So­wjetzone, darunter auch Jugendliche im Alter von 1618 Jahren, die auf besonderen Schei­nen getrennt abstimmen.

Seit Wochen läuft die kommunistische Pro­pagandamaschine auf vollen Touren. Kommu­nistischeAufklärer ziehen von Haus zu Haus und überall werden Versammlungen ab­gehalten, um die Bevölkerung von der Not­wendigkeit einerklaren Absage an die im­perialistischen Kriegsbrandstifter zu über­zeugen. Züge von Angehörigen der kommunisti­schen FDJ, derJungen Pioniere, marschie­ren mit Trommeln und Fanfaren durch die Straßen der Städte und Ortschaften.

In einem Aufruf, der am morgigen Sonntag über die Rundfunksender Westdeutschlands übertragen werden soll, fordert der Bundes­minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone auf, bei der Volksbefragung als Protestzeichen gegen die Volksbefragung einaufrechtes Kreuz in den Ja-Kreis des Stimmzettels zu setzen. Das Kreuz solleeine Warnung für Eure Unterdrücker und für Euch selbst sein, heißt es in dem Aufruf, der im Namen der Bundesregierung erlassen wurde. Jedes aufrechte Kreuz bekundet, daß der deutsche Freiheitswille der Sowjetzone un­gebrochen ist.

Gegen leere Formen

Universität zum Farbentragen

TÜBINGEN. Der Kultminister von Rhein­land-Pfalz, Dr. A. Süsterhenn, hat sich für das öffentliche Farbentragen der Verbin­dungen ausgesprochen. Die Universität Tü­bingen hält dem gegenüber, wie die Presse­stelle der Universität mitteilte, mit allem Nachdruck an den entgegengesetzten Beschlüs­sen der Rektorenkonferenz, die sie mit guten Gründen für rechtskräftig hält, fest. Sie tut das nicht nur aus formaljuristischen Gründen, sondern in der Überzeugung, daß damit einem dringenden Gebot der gegenwärtigen Situation entsprochen wird. So sehr sie das Ringen der Studenten um neue Gemeinschaftsformen un­terstützt und das Bemühen achtet, dabei auch ein rechtes Verhältnis zwischen Gegenwart und Tradition zu finden, hält sie es doch für ihre Pflicht, aus sozialen Gründen und im Hinblick darauf, daß der Weg zu den wirk­lichen Fragen der Persönlichkeit wie des Vol­kes durch solche leeren Formen eher ver­sperrt als erleichtert wird, ihren Standpunkt, der sich gegen das öffentliche Farbentragen richtet, mit Entschiedenheit zu wahren. Sie stellt gerne fest, daß die Mehrheit ihrer Stu­denten im Streben nach anderen Formen de* akademischen Lebens diesen Standpunkt auch zu ihrem eigenen gemacht hat.

Der verschlossene MUND

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Roman von Doris Eicke

Alle Hechte V erlegtheut Reutlingen

Das Jungenhafte seiner früheren Jahre, das schalkhafte Blitzen der Augen, das humor­volle Schmunzeln hatte er nicht wiederge­funden, er war ein gereifter Mann, der älter aussah, als er war, und dessen Haar nicht nur an den Schläfen weiß schimmerte. Im­merhin durfte er mit der Wandlung, die hier in zehn Wochen mit ihm vor sich gegangen war, zufrieden sein.

Niels Merck hatte seine Abreise auf den 25. April festgesetzt, seine bedächtige Natur riet ihm, jeden noch möglichen Tag hier auszu­nützen. Sein Pneumothorax, saß gut, die Füllungen gingen ohne allzu große Pein von­statten und hielten, da er viel Sauerstoff faßte, zwischen zwei und drei Wochen vor. Am 11. April war die Sputur- : srsuchung negativ gewesen, am 16. ebenfalls Zwei neue Resultate wollte er noch abwarten. dann konnte er leichten Herzens zu Andry gehen. Er bildete keine Gefahr mehr für sie und den Jungen.

Der Arzt hatte ihn geraten, den Pneumo­thorax zwei bis drei Jahre aufrechtzuer­halten, um eine völlige Ausheilung der linken Lunge zu gewährleisten, und diesen Rat ge­dachte er zu befolgen. Den Sommer über wollte er ganz seiner Gesundheit leben, sich aber beizeiten um eine Tätigkeit für den kommenden Herbst kümmern. Die Verhält­nisse auf dem Arbeitsmarkt hatten sich zwar seit seinem Abgang eher noch verschlechtert, heute aber war er eine ausgezeichnete Fach­kraft und konnte vielleicht in der aufstreben­den Flugzeugindustrie einen Posten finden, oder aber als Pilot bei der Lufthansa Unter­

kommen. Schließlich war er alter Weltkriegs­flieger und das Einfliegen der russischen Ma­schinen hatte sein fliegerisches Können un­ter Beweis gestellt. Er war seiner Fähigkeiten sicher und schaute trotz der allgemein schlech­ten Lage nicht hoffnungslos in die Zukunft.

Am 17. April geschah etwas Unvorherge­sehenes. Niels wurde weit vom Sanatorium entfernt von einem sintflutartigen Platz­regen überrascht, der ihn bis auf die Haut durchnäßte. Auf dem eiligen Heimweg fror er entsetzlich. Am Abend hatte er bereits den ersten Schüttelfrost, und in der Nacht stieg das Fieber stündlich. Am Mittag des andern Tages zeigte des Thermometer 40,4 Grad. Merck fühlte beim Atmen stechende Schmer­zen und ein merkwürdiges Rasseln im Brust­korb, das ihn beunruhigte. Eisbeutel schaff­ten ihm eine kleine Linderung, im ganzen aber fühlte er sich denkbar schlecht. Der Schweiß floß in Strömen über sein glühendes Gesicht, und das Haar klebte an seiner Kopfhaut.

Der Arzt kannte Merck gut genug, um zu wissen, daß es keinen Zweck hatte, ihm die Diagnose zu verschweigen. Die schwere Er­kältung hatte eine Rippenfellentzündung hervorgerufen. Am zweiten Tag begann sich ein Exsudat zu bilden, und Merck hörte das Wasser in seinem Brustkorb schwappen, wenn er sich bewegte.

Acht Tage lang lag er mit röchelndem Atem in der schweren Benommenheit seines hohen Fiebers; als sein Kopf wieder etwas klarer wurde, fragte er nach dem Datum: es war der 26. April, ein Tag nach seiner ge­planten Heimreise. Als er dies erfuhr, ver­schloß sich sein erschöpftes Gesicht, und die Kiefer traten hart hervor. Danach sprach er tagelang kein Wort mehr, ohne daß er ge­fragt wurde.

Alles im Leben hat seine Zeit, auch die Freude. Als schönste Blume des mensch­lichen Herzens blüht sie auf und entfaltet sich prächtig, jedoch alle Tage ein wenig

glanzloser, ein wenig müder, bis sie am ster­benden Glauben an ihre Berechtigung stirbt. So erging es auch Andry. Tag für Tag hatte sie ihr kleines Heim auf Hochglanz poliert, den Jungen und sich festlich geschmückt, Niels Lieblingsspeisen in Bereitschaft gehalten und immer umsonst. Mehr als zehnmal am Tage war sie rasch bis zur Straßenecke gelaufen, von wo sie den Dobben übersehen konnte, sie kannte die Ankunftszeit aller Züge, die für ihn in Betracht kamen, sie verfehlte es bei keiner Postzustellung, vor dem Hause bereitzustehen. Es drückte dem guten alten Briefträger förmlich das Herz ab, wenn er immer wieder den Kopf schütteln mußte, und seine Vertröstung auf das nächste Mal klang farblos und ohne rechten Glauben.

Andrea wurde schmal und blaß und ver­lernte das Lachen. Mechanisch fütterte sie den Jungen und starrte auf den eigenen Teller, dessen Speisen sie anwiderten. Sie weinte nie, sie konnte nicht weinen. Eine glühende Angst hielt ihr Herz umkrallt. Am Sonntag ging sie in die Kirche, aber sie konnte auch nicht beten. Ihr armer Kopf hämmerte nur noch diese wenigen Worte, Tag und Nacht: Wo bist Du, Niels?

Auch Syamken wartete auf ihn, nicht so ausschließlich, nicht so voller Qual, aber doch mit einer gewissen Unruhe. Seit Ulrickes Besuch war er nicht mehr in Mölln gewesen, er hatte größere Geschäfte getätigt als sonst, die seine volle Aufmerksamkeit erforderten, und erst abends oder spät nachts beim Schlafengehen an den kranken Freund ge­dacht.

Anfang April war Signor Bolla, der oft für Tage verschwand, aber immer wieder auftauchte, verhaftet worden. Er stand im Mittelpunkt einer Diamantenschmuggelaffäre, seine Papiere waren falsch, sein Hotel in Nervi, das er angeblich jetzt wieder eröff­nen wollte, ein Schloß im Mond. Syamken hatte Grund zur Befürchtung, daß er in die Sache hineingezogen würde, er hatte der Ver­

suchung, mühelos großzuverdienen, nicht wi­derstehen können. Zwar hatte er die wirk­lichen Hintergründe dieser Sache nicht ge­kannt, daß sie aber nicht ganz sauber war, war mit Händen zu greifen gewesen. Er si­cherte sich den geschicktesten Rechtsanwalt Hamburgs und wartete mit erheblicher Ner­vosität die Entwicklung der Dinge ab.

Eines Tages erschien Andrea unangemeldet in seinem Büro. Er erschrak, als er ihr ver­härmtes, bleiches Gesichtchen sah. Obwohl sie weder weinte, noch sich in lauten Klagen er­ging, merkte er doch, daß sie am Rande ihrer Kraft war. Nach aller unaussprechlicher Freu­de war diese Enttäuschung zu furchtbar ge­wesen.

Als Syamken Andrea eintreten sah, machte er sich die bittersten Vorwürfe, daß er über seinen eigenen beträchtlichen Sorgen verab­säumt hatte, sich um Niels zu kümmern. Daß etwas geschehen war, lag auf der Hand. An­drea wollte wissen, ob sie die Polizei benach­richtigen solle. Freiwillig würde sie Niel* nicht ohne ein Wort der Beruhigung derart im Stich lassen. Sie hatte in den letzten beiden Wochen Bücher über die UdSSR ge­lesen, schreckliche Bücher. Sicher wurde Niels Zwang angetan.

Angesichts dieser tödlich geängstigten Frau mußte Syamken sich gewaltsam beherrschen, um nicht das ganze Geheimnis zu verraten. Er beruhigte sie, so gut er konnte, und brach­te sie ins Esplanade, nachdem er ihr ver­sprochen hatte, mit der russischen Botschaft in Berlin Fühlung aufzunehmen.

Andrea wartete in ihrem Hotelzimmer auf den Bescheid, unfähig, etwas anderes zu tun. Von Zeit zu Zeit klopfte es, und einer der ihr bekannten Hotelangestellten kam, um sie zu begrüßen. Sie gingen nach einer Weile alle mit verlegenen, ratlosen Gesich­tern wieder hinaus. Frau Merck war im We­sen nicht wiederzuerkennen.

(Fortsetzung folgt)