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SCHWÄBISCHES TAGBLATT
18. Juni 1949
S ie wird keinen leisten“, antwortete Charlotte, „Sie hot mir leid getan, das arme Ding, und ich möchte nun bald nach Hause, um ihr Trost zuzusprechen.“
„Mich lassen Sie im Stich?“
„Ich glaube, Lilo braucht mich heute. Sie war gar zu erschüttert. 1
„Hm“, machte er und verzog den Mund, ,am liebsten würde ich mich nun auf die Bordschwelle setzen, auch ein bißchen weinen und erschüttert sein damit ich Sie noch ein Stündchen bei mir behalten darf. Soll ich’s tun?“
Sie lachte ein wenig. „Sie würden mit Ihren Erschütterungen schon allein fertig werden.“ Er wurde unerwartet ernst. „Glauben Sie das? Sind Sie so sicher? Ach, Fräulein Maltitz! Wir sollten uns eigentlich geborgen fühlen hinter unsem Gesetzen und Kommentaren, die wir so gescheit anwenden können. Aber so ein Zusammenbruch, wie Lilo ihn uns eben vorgeführt hat, und ein solches Knäuel von Ungewißheiten, wie Lonne es uns vorsetzt, das bringt unsere Geborgenheit zuweilen — nur selten freilich — ins Wanken. Da ist es angenehm mit einer klugen Frau zu sprechen, die so gar nichts versteht von Gesetzen und ihren Kommentaren und vielleicht doch ein bißchen mehr sieht.“
Sie sah ihn erstaunt an, weil sie spürte, daß ein ehrliches Verlangen nach ihrer Gesellschaft aus seinen Worten sprach.
„Ein andermal“, sagte sie sanft, „heute hat Lilo mich gebeten, sie nicht zu lange warten tu lassen. Wenn Sie Zeit genug haben, bitte, fahren Sie mich-nach Hause!“
Sie stiegen in sein Airto.
„Sie werden mich nicht so leicht wieder los, Fräulein Maltitz. Für die ganze Schinderei und den Aerger um den Fall Lonne habe ich bisher nur eine einzige Entschädigung gehabt: die Bekannschaft mit Ihnen! Und diese Entschädigung lasse ich mir so leicht nicht wieder nehmen, wenn ich Sie auch heute der trostbedürftigen Lilo überlassen will. Besänftigen Sie das, arme Kind, und reden Sie ihr jeden Gedanken an den Meineid aus!“
Als er sich von ihr verabschiedete, küßte er ihr die Hand und nickte ihr mit einem Lächeln zu, das sie nicht zu deuten wagte.
*
Als Charlotte in dieser Nacht grübelnd wach lag, glaubte sie mit jener traumhaften Hellsichtigkeit,. die einen zuweilen im Halbschlaf überkommt, die Ereignisse zu durchschauen und zu erkennen. Sie erinnerte sich des Gespräches, das sie mit Henius während der Mittagspause geführt hatte. Lilo hatte ihn gefragt, ob Lonne auch dann zum Tode verurteilt werden müsse, wenn sich herausstellen sollte, daß er Hartung zwar erschossen hatte, moralisch aber berechtigt gewesen sei, dies zu tun.
Lilos Phantasie erfand sogleich eine passende Erklärung: Lönne hatte die Tat begangen, weil er kein anderes Mittel mehr sah, eine Ehe zu verhindern, die ein gewissenlos verbrecherischer Betrug geworden wäre. Sein warnender Brief an Gabriela war nutzlos gewesen. Nicht e'nmal geantwortet hatte sie. Also war sie Hartung schon gänzlich verfallen. Lönne machte einen- zweiten Versuch, indem er sich bemüh: e, Hartung ins Gewissen zu reden, als er ihn spät abends aufsuchte. Hartung hatte dafür nur ein Gelächter. Er dachte nicht daran, Gabriela aufzugeben. Er hielt seine Beute fest, nicht nur, weil sie so kostbar war, sondern weil er auch wußte, welche Qual er Lonne damit bereitete. Er genoß den Triumph, die Fi;au zu besitzen, die Lönne liebte. Sein irrer Haß sättigte sich nun Lönne unternahm noch einen dritten Versuch und war nun schon zum Aeußersten entschlossen. Hartung lehnte abermals ab, noch frecher, noch höhnischer als zuvor, und Lönne tröstete ihn. Es war der letzte Ausweg und der einzige.
Ein Mord?
Henius hatte diese Frage bejaht. Dem Buchstaben des Gesetzes nach allerdings ein Mord. Er hatte den Wortlaut des Paragraphen zitiert, der für solche Tat' die Todesstrafe forderte. War es richtig, was Lilo gesagt hatte, so hatte Lönne auf dem Wege zu Hartung mit der Absicht zu töten die Pistole mitgenommen — also Vorsatz; er hatte auch einen wohldurchdachten Grund für die Tötung gehabt — also Ueberlegung. Der Wortlaut des Paragraphen war erfüllt: ein Todesurteil, bas Gesetz kannte für den Mord keine mildernden Umstände, allerhöchstens Begnadigung. Es erkannte keine Selbstjustiz an, mochte sie menschlich noch so begründet sein.
Lilo hatte empört Einwände erhoben, sie hatte Henius gefragt, ob er nicht genau so gehandelt hätte, aber er hatte die Achseln gezuckt. Ja, es mochte wohl so sein, daß Lönne ein längst fälliges Urteil an Hartung vollzogen hatte, er hatte ein überflüssiges und schädliches Leben . ausgelöscht; aber dieses Amt stand nur den Richtern zu, nicht einem einzelnen. Leicht möglich, daß sie mit Widerstreben das Todesurteil über Lönne ausspra- <hen und ihn der Begnadigung empfahlen, eher sie hatten keine Wahl.
An alles dies dachte Charlotte, während sie schlaflos lag, und sie glaubte, einer höheren Gerechtigkeit zu dienen, einer ungeschriebenen, die sich sogar Lönnes Richter m diesem Falle wünschen mochten, wenn sie ihnen half, zu einem Freispruch für Lönne zu kommen. Das konnte nur mit einem Mein- geschehen. Das hatte Lilo klar erkannt. Man mußte ein Unrecht begehen, um ein noch größeres zu verhüten.
Warum schlug trotzdem das Gewissen? Wed sie sich klar war, ein Verbrechen zu begehen. Das erkannte sie ebenso klar. Keine Entschuldigung, keine Ausrede und keine Bemäntelung konnte das Verbrechen des Meine : ds entschuld’gen, denn auf dem Eide beruhte jedes Urteil. Aber Lönne durfte nicht verurteilt werden. In ihrer Hand lag es, ein solches Unrecht zu verhindern, und sie war entschlossen, es zu tun, wenn es notwendig werden sollte.
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Als Charlotte am andern Morgen zum Verhandlungssaal hinaufging, benutzte sie eine wu ^ eiten treppen. weil sie es vermeiden wollte, Gabriela Borbeck unversehens zu begegnen. Sie hatte den großen, taubenblauen
DER ANGEKLAGTE SCHWEIGT... 1
9. Fortsetzung
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Wagen, den Lönne einmal den Borbecks verkauft hatte, draußen vor dem Gerichtsgebäude warten sehen. Sie ging langsam dpn Flur hinunter und erblickte vor dem Saalein- gang ein altes Paar, das auf einer der langen Bänke Platz genommen hatte.
Mit heimlichem Erschrecken entsann sie sich, daß heute auch die Eltern Hartungs vernommen werden sollten. Sie warf einen scheuen Blick auf die beiden. Der alte Herr hatte seine auffallend weißen und schmalen Hände über der Elfenbeinkrücke seines Stok- kes gefaltet und blickte darauf nieder. Sem weißes Haar war locker zurückgekämmt und gab eine hohe, edel geformte Stirn frei. Er war klein und mager, von einer knabenhaften Gestalt.
Frau Hartung war in Schwarz gekleidet. Sie hatte den Schleier über den Hut zurück- geschlagen. Ihr faltiges Gesicht war todblaß. Die beiden alten Leute sprachen nichts. Es fiel Charlotte auf, daß das Alter und ein langes, gemeinsames Leben sie einander in wunderlicher Weise ähnlich gemacht hatten. Sie glichen sich wie Geschwister.
Von Gabriela Borbeck keine Spur. Henius trat aus dem Saal und kam auf Charlotte
Wohlfahrt erschien, und Henius brach das Gespräch ab Von der andern Seite tauchte fast im gleichen Augenblick Staatsanwalt Dr. Scheel auf. Wenige Minuten darauf eröffnete Wohlfahrt die Sitzung und ließ die Zeugen hereinrufen. Lönne stand mit einem starren Gesicht, das leblos wirkte, in der Anklagebank. Er blickte kurz auf, als sein Bruder und Gabriela vor den Zeugentisch traten. Ein flüchtiges Zucken glitt um seinen Mund und erlosch sofort wieder.
Gabriela kam rasch und mit erhobenem Kopf auf den Zeugentisch zu. Sie war blaß und erregt, nahm sich aber mit großer Kraft zusammen. Ihre Stimme klang fremd und gläsern. Alfred von Lönne bemühte sich, seine Nervosität zu verbergen. Er war sehr groß und hager, sein Kopf fast kahl. Es gab nicht die mindeste Aehnlichkeit zwischen den Brüdern. Dem Vorsitzenden antwortete er mit einer gequetschten, atemlosen Stimme, die zu versagen drohte.
Das Gericht beschloß, das Ehepaar Hartung zuerst zu vernehmen, um sie bald wieder entlassen zu können. Mit Ausnahme des alten Hartung wurden alle wieder hinausgeschickt.
Gabriela kam Hilfe von einer Seite, an die keiner dachte: Lönne sprang auf
zu. Er drückte ihr herzlich die Hand, und seine Augen schienen sie an das Gespräch zu erinnern, das sie gestern zuletzt geführt hatten.
Sie erinnerte sich ihres Entschlusses, Lönne zu helfen, und war jetzt ebenso bereit dazu wie gestern. Sie hatte sich vorgenommen, entweder in der Mittagspause mit Henius über ihre erfundene Geschichte zu sprechen, die den Richtern den Selbstmord Hartungs glaubhaft machen sollte, oder damit bis zum Nachmittag zu warten. Ihre tiefste Sorge war, daß Henius sie durchschauen und erkennen würde, daß sie mit einer falschen Aussage vor den Zeugentisch treten wollte.
Henius wies mit dem Kopf nach links zur Haupttreppe hin; „Unsere Kronzeugin!“ flüsterte er.
Charlotte blickte in die angedeutete Richtung und erkannte Gabrielä Borbeck. Sie stand mit dem Rücken dem Verhandlungssaal zugekehrt und sprach mit Alfred von Lönne, der ihr stumm und zerstreut zuhörte. Er schien überaus nervös und wechselte jede Minute die Haltung.
Gabriela war betont und schlicht gekleidet: ein dunkles, knappes Kostüm von herrenmäßigem Schnitt, ein kleiner, dunkler Hut mit kurzem Schleier. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Sie sprach mit gehemmten, aber lebhaften Gesten auf Alfred von Lönne ein.
„Wenn man denen zuhören könnte!“ murmelte Henius nachdenklich und wandte keinen Blick von ihnen. „Wissen die nun von dem Geheimnis, dessentwegen wir uns die gelehrten Köpfe zerbrechen, oder sind sie ahnungslos wie wir?“ Er seufzte, und plötzlich fiel ihm ein: „Wo haben sie heute Lilo gelassen?“
Charlotte sagte ihm, aus welchen Gründen Lilo der Verhandlung nicht mehr beiwohnen wollte. Er nickte. „Ein gescheites Kind! Hoffentlich entschwindet sie mir damit nicht ganz. Ich habe sie ins Herz geschlossen und möchte sie Wiedersehen, am liebsten bei Ihnen zu Hause!“
Sie sah überrascht auf. „Bei mir? In Grabow etwa?“
„Warum sehen Sie mich so entsetzt an? Ist es fürchterlich unbescheiden, wenn ein armer Großstädter eine Wochenendeinladung auf ein Gut herausschinden möchte?“
„Nein nein, aber..
„Ich bin neugierig auf Grabow und Altenlinden. Um dieses Stück Erde geht ja hier alles. Lönne soll deswegen sogar einen Mord begangen haben. Vielleicht begreife ich alles besser, wenn ich es kennen lernen darf.“
Mit leiser Stimme erklärte der alte Herr, daß er von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, keinen Gebrauch machen werde. Das bedeute nicht etwa, daß er etwas zur Belastung des Angeklagten vorzubringen habe, noch viel weniger, daß er dazu beitragen wolle, den Tod seines Sohnes zu vergelten; vielmehr wolle er, wie der Herr Vorsitzende gesagt habe, der Ermittlung der Wahrheit dienen.
Die schmerzlichen Ereignisse, der Tod seiner Tochter und das noch schmerzlichere, das rätselhafte Ende seines Sohnes, habe er verwunden. Nach einer Schuld frage er nicht und erst recht nicht nach Vergeltung. Als er dies gesagt hatte, wandte er sich zu Lönne hin und nickte ihm zu. Der tat keine Bewegung, sein Gesicht war starr wie zuvor, aber sein blinzelnder Blick verriet, wie bewegt er war.
Ueber die Geschehnisse, die dem Tod seines Sohnes unmittelbar vorausgegangen waren, wußte der alte Hartung nichts auszusagen. Es ergab sich, daß während der letzten Jahre nur eine sehr lockere Verbindung zwischen ihm und seinem Sohn bestanden hatte. Am ehesten bekam er noch von Lönne Nachrichten, und in diesen Briefen hatte wohl manchmal Ungünstiges über Hartung gestanden, aber Haß, Rachsucht, unversöhnliche Feindschaft oder Schmähungen — nein, davon hatte nie etwas in Lönnes Briefen gestanden, auch in den letzten nicht.
Ueber die Frage, ob sein Sohn einen Grund gehabt haben könnte, sich das Leben zu nehmen, dachte der Alte lange nach.
„Darüber habe ich mir selber den Kopf müde gedacht“, antwortete er schließlich. „Nein, ich kenne keinen Grund, aber das soll nicht bedeuten, daß ich an den Selbstmord nicht glaube; sagen will ich damit nur, daß mein Sohn mir ja fremd geworden war. Aber wenn Sie mich gefragt hätten, Herr Vorsitzender, ob Ernst so geartet war, daß ein besonders schlimmer Anlaß ihn in den Tod treiben konnte, so muß ich antworten: Ja, das halte ich für möglich.“
„Und warum?“
„Er war ein Mensch des Ueberschwanges, ein Maßloser, ein Phantast. Solche Menschen können ebenso hoch emporsteigen, wie sie tief stürzen können. Er ist gestürzt. Und ich kann mir denken, daß er sich freiwillig stürzen ließ, weil er nicht die Höhen erklimmen konnte.“
Der Vorsitzende blickte zu den medizinischen Sachverständigen hinüber, als erwarte er von denen eine Frage. Professor Degener
schüttelte den Kopf. Er mischte sich erst in das Verhör ein, als Frau Hartung ihre Aussagen machte.
Ihre Hände zitterten, als sie an den Zeugentisch trat. Ihre Stimme war von Tränen verschleiert. Auf einen Wink Wohlfahrts brachte ihr ein Wachtmeister einen Stuhl, auf dem sie Platz nahm.
In ihrer Erinnerung hatte sich das Andenken ihres Sohnes verklärt. Sie 1 sprach von seinen glänzenden Begabungen, mußte dann aber zugeben, daß er niemals ein erfolgreicher Schüler gewesen war und auch sonst nie besondere Erfolge gehabt hatte. Ihr Mann fügte hinzu, daß Ernst sich keinem Lehrplan und keiner strengen Ordnung Aabe anpassen können. Die schwärmerische Liebe, die zwischen den Geschwistern bestanden hatte, bestätigte die Mutter. Daß Ernst zu solcher Liebe fähig gewesen war, nahm sie als Beweis dafür, daß er zutiefst ein guter Mensch gewesen sei, denn Irene war die Güte selbst gewesen.
Der Sachverständige erkundigte sich noch nach den Anfällen geistiger und körperlicher Benommenheit, an denen Hartung früher gelitten haben sollte. Die alte Frau bestätigte das. Ihr Hausarzt, der inzwischen verstorben war, hatte den Nerven die Schuld gegeben und Brom oder Baldrian, zuweilen auch Eisen oder Arsen verordnet, denn in seiner Knabenzeit war Emst ein schwächliches Kind gewesen. Man hatte um seine Lunge gefürchtet. An Epilepsie hatte er nicht gelitten, auch in der Familie gab -es diese Krankheit nicht.
Das war alles, was Hartungs Eltern auszusagen hatten. Sie wurden'entlassen, nachdem auf ihre Vereidigung verzichtet worden war. Bevor der alte Hartung den Saal verließ, wandte er sich Lönne zu. Es schien, ais wolle er ihm etwas sagen, aber dann neigte er nur schweigend den Kopf und machte mit der Rechten eine scheue Bewegung der Ermutigung und Versöhnlichkeit. Darauf ging er neben seiner Frau hinaus.
Nach ihnen betrat Gabriela Borbeck den Saal. Als sie die Neugier und Spannung bemerkte, mit der sie empfangen wurde, verzog sich ihr Mund vor Zorn und Verachtung. Sie erkannte Charlotte und stutzte eine Sekunde. Die beiden starrten sich an. Ein feindselig argwöhnisches Glitzern zuckte in Gabrielas Augen auf, dann kniff sie die Lider zusammen, warf den Kopf zurück und setzte ihren Weg fort.
Ehe ihr Verhör begann, kam es zu einem Zwischenfall. Henius erhob sich von seinem P!atz und wandte sich, von den mißtrauischen Blicken des Staatsanwaltes beobachtet, an den Vorsitzenden. Er gab seiner Stimme einen betont harmlosen Klang, aber gerade dies verlieh ihr einen verdächtige^ Beigeschmack. Er bat Wohlfahrt, die Zeugin zu befragen, ob sie über den bisherigen Verlauf der Verhandlung und ihr Ergebnis auf irgendeine Weise unterrichtet worden sei.
Mit einem jähen Ruck fuhr Gabriela zu ihm herum. Sie witterte eine Faiie. Im Saal spitzte man die Ohren. Man erinnerte sich, daß Lönne alle Aussagen über sein Verhältnis zu Gabriela verweigert hatte. Wußte sie dies, so würde auch sie vielleicht schwe'gen; hatte sie es jedoch nicht erfahren, und nahm sie aiiT'daß Lönne sich zu Bekenntnissen bereit gefunden hatte, so würde sie nun mit ihren eigenen Aussagen im Dunkeln tappen. Sie mußte fürchten, daß bereits Dinge zur Sprache gekommen waren, die ihr peinlich oder gar gefährlich werden mußten.
. „Sie haben gehört, Frau Zeugin“, sagte Wohlfahrt, „welche Frage der Herr Verteidiger gestellt hat...“
„Aber ich weiß nicht, was er damit meint“, antwortete Gabriela mit merklicher Unruhe.
„Genau das, was ich gesagt habe“, erklärte Henius freundlich. „Sind Sie von irgendeiner Seite über den Gang der Verhandlung unterrichtet worden?“
Sie war auf der Hut wie vor einem Fa nd. „Wer sollte mich unterrichtet haben? In den Zeitungen standen keine Berichte ...“
„Das weiß ich. Aber die Verhandlung ist öffentlich, und jedermann hat hier Zui itt. Es wäre also denkbar, daß jemand aus dem Zuschauerraum ...“
„Ich habe .keinen Horcher hergeschickt!“ rief sie entrüstet.
„Das habe ich auch nicht behauptet, aber es könnten zufällig Bekannte von Ihnen ...“
Ehe er aussprechen konnte, kam Gabriela Hilfe von einer Seite, an die keiner dachte: Lönne sprang auf. Niemand hatte in den letzten Minuten auf ihn geachtet, jveil aiie auf Gabriela blickten. „Ich habe nichts ausgesagt!“ rief er laut zu ihr hinüber. „Nicht mehr als im Vorverfahren... Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich..
Weiter kam er nicht. „Schweigen Sie!“ befahl Wohlfahrt in hellem Zorn und schiug mit der Faust auf den Tisch, daß Protokollführer und Geschworene zusammenzuck: en. Henius hatte sich wütend zu Lönne herumgedreht. Der zuckte die Achseln und starrte ebenso wütend seinen Verteidiger an. Sein Gesicht war fahl. Gabriela schwieg und senkte den Kopf.
„Es ist unerhört, Angeklagter“, rief Wohlfahrt, „daß Sie in dieser Weise in die Vernehmung der Zeugin eingreifen. Ich warne Sie! Sollten Sie noch ein einziges Mal versuchen, ungefragt zu reden; so werde ich Sie abführen lassen. Haben Sie mich verstanden?“
Lönne verbeugte sich stumm und nahm wieder Platz. Er hatte seine Absicht erreicht: Gabriela würde keine Aussagen machen, die ihr schaden konnten oder ihr pe nlich waren. Sie wußte nun, daß er auch jetzt noch geschwiegen hatte.
Nach einem neuerlichen, warnenden Blick zu Lönne hinüber begann Wohlfahrt mit der Vernehmung. Er ging behutsam vor. um Gabrielas Verstörung zu besänftigen und ihi Vertrauen zu erlangen. Es halte sich ergeben, daß Gabriela als Mädchen einen deu neben Familiennamen geführt hatte. Ihr Vater hatte Steinert geheißen Wohlfahrt knüpfte daran an und erkundigte sich, ob ihre Eltern Deutsche gewesen seien. (Fortsetzung loigt)