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Nummer 230 Fernruf 479 Samstag, den 1. Oktober 1932 Fernruf 479 67. Jahrgang
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Unsichtbare Gewalten
Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüts ist es. welche Siege
erkämpft. Fichte.
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Entscheide dich immer für die Liebe. Wenn du dich ein für allemal dazu entschlossen hast, so wirst du die ganze Welt bezwingen. Die dienende Liebe ist eine furchtbare Kraft, sie ist die allergrößte Kraft und ihresgleichen gibt es nicht. Dostojewski.
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Wissen und Gewissen
Wir sind ein kluges Geschlecht geworden. Unsere Gelehrten heben im letzten Jahrhundert in einem unerhörten Triumphzug des Forschens Erkenntnisse auf Erkenntnisse gehäuft. Dunkle Geheimnisse der Natur und des Lebens wurden enthüllt. Medizin, Chemie, Physik, Biologie usw. können auf stolze Errungenschaften Hinweisen. Die Technik vollbrachte großartige Wunderwerke von der Lokomotive bis züm'Rädio und zur vollendeten Präzisionsmaschine. Schon redete man von einem herrlichen Paradies im Zeichen der Technik, da die herrlichen Schöpfungen des menschlichen Geistes zur Sicherung des Lebens, und zur Befriedigung aller Ansprüche eingesetzt werden sollten. Das biblische Wort „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen" schien langsam widerlegt und außer Geltung gesetzt zu werden.
Aber wir sind nüchterner geworden. Ein großer Traum ist ausgeträumt. Wir haben gemerkt, daß in dieser Rechnung etwas nicht stimmt. Im Zeichen des Wissens und der Technik sind nicht nur edle Früchte des Fortschritts und der Wohlfahrt gereift, sondern da wuchsen auch Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, Not, Haß und Entwurzelung. Wo liegt der Fehler? „Wissen ist Macht". Aber alle Macht kann mißbraucht werden. Dann wird das Wissen zum Fluch, nicht zum Segen. Die Technik schenkte uns Mittel, die den Menschen in großartigster Weise zum Herrn der Natur machten. Aber dieselbe Technik schuf auch furchtbare Waffen, mit denen die Menschheit sich selbst zerfleischte und blühende Länder in Wüsteneien umwandelte. Die schmerzvollen Erfahrungen der Vergangenheit bis zum heutigen Tag haben uns gezeigt, daß wichtiger noch als das Wissen das Gewissen ist. Sie haben uns klar gemacht, daß aller Fortschritt nicht von Maschinen und Erfindungen abhängt, sondern von der menschlichen Seele und der Reinheit des Willens. Wir haben einen eingehenden Anschauungsunterricht darüber erhalten, daß der Hebel zur Besserung nicht an den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Forschungen angesetzt werden kann, sondern an einer viel tieferen Stelle: an der Gesinnung. Alte Worte wie „Wiedergeburt", „Beugung unter Gott", „Buhe" bekommen wieder neuen Klang. Und schicksalhaft steht die Gestalt Christi über unserer Gegenwart. Er hat' ihr das Tiefste zu sagen, was ihr überhaupt gesagt werden kann. Ohne ihn sind alle Wunderwerke der Ingenieure unnütz. Nur in seinem Zeichen kann das „Reich Gottes" wachsen. Nachdem wir von Enttäuschung zu Enttäuschung geschritten sind und die Fraglichkeit aller Menschenkunst erfahren haben, sind wir reif, um mit neuen Ohren alte Wahrheiten zu hören.
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Die französischen Minister pflegen in Sonntagsreden ihre politischen Ziele aller Welt zu enthüllen So hat der französische Regierungschef Herrtot am letzten Sonntag in Gramat eine Rede gegen Deutschland losgelassen, die überall viel von sich reden macht. Der italienische „Corriere della Sera" überschreibt seinen Pariser Bericht: „Frankreichs tatsächliche Rüstung und Herriots trügerische Worte". Gewiß, es gibt wohl wenige Reden, die eine solche Fülle von Unrichtigkeiten, Verdrehungen und Heucheleien enthalten, wie diese Herriotsche Flunkerei. Herriot wollte der Welt weismachen: Frankreich habe, wie kein anderes Land, ab- gerüstet: es müsse aber auf seine nationale „Sicherheit" be- dacht sein; es liebe leidenschaftlich den Frieden: es sei ruhig, habe ein gutes Gewissen, achte die gebietsmäßige und politische Unabhängigkeit aller Völker; habe in seinem vorbildlichen Großmut düs besetzte Gebiet vorzeitig geräumt, die schwersten Opfer hinsichtlich der Reparationen gebracht usw. Kurz: 1. Deutschland ist an das Versailler Diktat gebunden! 2. Frankreich wird nicht abrüsten.
Was aber Herriot augenblicklich ganz besonders geniert, das ist der Erlaß vom 13. September über die körperliche Ertüchtigung der Jugend. „Wie könne man Kindern die Kunst des Tötens lehren?" Als ob nicht Frankreich mit fast allen Staaten, ja mehr als jedes andere Volk, die Jugend systematisch von Stufe zu Stufe militärisch ausbilden würde. Man denke an die Bemühungen des „Pazifisten" Painleve und des „Sozialisten" Paul Voncour um die Militarisierung der gesamten Nation. Wird doch gegenwärtig in Paris ein „Gesetz für körperliche Erziehung und militärische Ausbildung" ausgearbeitet. Deutschland wolle sich nicht etwa ein Heer zur Verteidigung des Landes schassen, sondern ein „Angriffsheer", um einen neuen Krieg zu entfachen. Zu diesem Zweck betreibe es „GeHeimrüst u rill e n", wofür er, Herriot, mit Material in Hülle und Fülle aufwarten könne. Alles barer Unsinn! Dennoch steht ganz Frankreich hinter Herriot. Nur der sozialistische „Popu- laire" (Leon Blum) fragt: „Weiß Herriot nicht, daß Frankreichs Kriegsmaterial niemals so vollkommen gewesen ist als heute; weiß er nicht, daß Frankreichs Berufsheer unaufhörlich gewachsen ist; weiß er nicht, daß Frankreichs Kriegs- Haushalt zurzeit den von 1913 und 1914 weit übertrifft?" 600 000 Mann im Frieden, 5 Millionen im Krieg, modernste Waffen zum Angriff, ein ungeheurer Wall von gewaltigen Festungen — und da will der Führer der am stärksten bewaffneten Nation über „mangelnde Sicherheit" klagen!
Bei solch hoffnungsloser Gemütsverfassung Frankreichs, unter dessen Bann seine vielen Vasallen und Freunde gefesselt sind, hat es gar keinen Sinn, an einer Abrüstungskonferenz mitzuarbeiten. Die Reichsregierung hat daher ihre weitere Mitarbeit in der Konferenz bzw. dessen Büro abgesagt. Das wurde in Genf sehr unangenehm empfunden. Denn man sagte sich mit Mussolini: Deutschlands Ausscheiden aus der Abrüstungskonferenz wurde den endgültigen Zerfall oder die unbefristete Vertagung der Abrüstungskonferenz zur Folge haben. Es würde auch dem Völkerbund den Todesstoß versetzen, nachdem dieser ohnehin durch die Haltung Japans und durch die Vorbehalte Italiens schon jetzt nur noch auf schwachen Füßen steht. Man sucht deshalb mit Kompromissen Deutsch
land wieder an den Verhandlungstisch zu locken. Es ist jedoch anzunehmen, daß Berlin sich nicht darauf «i.uäßt. Jetzt heißt es: Entweder Gleichberechtigung oder — wir bleiben weg, auch wenn dadurch der Völkerbund in die Brüche gehen sollte. Viel wäre damit nicht verlor..: Gerade dis gegenwärtige Vollversammlung, aus der nun allen heiklen Fragen wieder peinlich aus dem Weg geben will, zeigt unmißverständlich, wie ohnmächtig dieses Gebüde ist. Jedenfalls hätten wir Deutsche unsere seit sechs Jahren verloren gegangene Handlungsfreiheit wieder.
Bei diesen ungeheuer wichtigen und entscheidenden außenpolitischen Fragen ist es ewig schade, daß w»r uns heute zu Hause ärger denn je in den Haaren liegen. Im Ueberwachung sausschuß des aufgelösten Reicks- tags streitet man sich um die Vorgänge, die sich bei der Ablösung am 12. September abgespielt hatten. Und im preußischen Landtag kann man vor lauter Lärm keine geordnete Sitzung abhalten. Volksvertretung und kommissarische Regierung bekämpfen sich. Wie soll das enden?
Das Papensche Wirtschaftsprogramm bat inzwischen eine wichtige Ergänzung erfahren. Während ins ersten Maßnahmen mehr der Industrie und der Arbeitsbeschaffung galten, soll jetzt auch die Landwirtschaft belebende Berücksichtigung erfahren. Und so hat der Reichs- ernährungsminister v. Braun bei der Tagung des Bann. Landwirtschaftsrats Maßnahmen in Aussicht gestelü. bi: eine Kontingentierung, d. h. eine mengenmäß^; Einschränkung der Einfuhr und eine Senkung des Zinses in Aussicht nehmen. Es sollen, was das letzte » betrifft, die Zinszahlungen der landwirtschaftlichen Hypotheken in den nächsten beiden Jahren um je 2 Prozent erleichtert werden. So sehr sich die Landwirtschaft nun a:>,h über beides freut, so sehr bedauert die Industrie den Plan, weil er nach ihrer Ansicht die Ausfuhr schädige und die Hypothekengläubiger beeinträchtige. Auch hier wieder der alte Interessengegensatz zwischen Landwirtschaft und Industrie — und doch sind beide lebensnotwendige Teile einer und derselben Gesamtwirtschaft und auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. In einigen Betrieben wurde wegen der. neuen Lohnregulierung gestreikt. Der Arbeitgeber durfte nämlich bei Mehreinstellungen für die 31. bis 40. Arbeitsstunde den Lohn um 2X bis 2n Pfennige kürzen. Hiegegen wandten sich die Gewerkschaften, die jede Lohnsenkung ablehnen. Ohne Opfer von alle» Seiten läßt sich aber das Wirtschaftsprogramm, wenn es wirklich aus der Krise und der furchtbaren Arbeitslosigkeit herausführen soll, nicht durchsetzen. Und daß das Programm im Grundsatz richtig ist, wird nun fast allgemein anerkannt, tatsächlich sind auch auf Grund der Notverordn mg in den wenigen Tagen seit ihrer Inkraftsetzung bereits mere Tausende von Erwerbslosen zu Arbeitsverdienst gekommen. Aber freilich, nachdem man in der bedrängten Lage des Reichs schon so lange die schwersten Opfer gebracht hat — manchmal auch ganz nutzlos —, fallen neue Opfer schwer, mögen sie auch noch so notwendig sein. So hat auch di« Schlacht- und Fleisch st euer, die neuerdings auch in Württemberg eingeführt worden ist, um den gewaltigen Fehlbetrag von 25 Millionen im Staatshaushalt decken zu helfen, viele Aufregung hervorgerufen. Der Landtag bzw. dessen Finanzausschuß vermochte keine besseren Deckungsmittel vorzuschlagen und so mußte die Regierung den Weg der Notverordnung beschreiten. Wir müssen wofst oder übel die Zähne noch einmal zusammenbeißen in der Hoffnung, daß dies nicht noch oft nötig sein wird — sonst könnten wir uns am Ende noch die Zähn« ausbeißsn, und was dann? V/. ftk.
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Roman von Erich Kunter.
LS. Fortsetzung Nachdruck verboten.
„Halten wir uns nicht lange auf!" fuhr Andermatt unbeirrt fort. „Entweder Sie erfüllen meinen Wunsch oder ich werde Ihrem Chef melden, daß er weniger tölpelhafte Spitzel einstellt, die sich nicht schon durch die talentlose Wahl ihrer Kleidung etiquettieren. Wenn Sie aber tun, was ich wünsche und was sehr wohl mit den Funktionen Ihres wenig beneidenswerten Berufes vereinbar ist, so sollen Sie an mir einen sehr leicht zu behandelnden Klienten haben. Melden Sie sich jeden Morgen um 7 Uhr bei mir im Hotel Excelsior, 2. Stock, Zimmer 43. Da werde ich Ihnen jeweils genaue Aufstellung meines Tagesprogramms geben, wodurch Ihre Aufgabe wesentlich vereinfacht werden dürfte. Adieu!"
Cr drehte sich um und ging an seinen Tisch zurück. Eben wollte er sich wieder setzen, als er die Dame, die er erwartete, am Eingang erblickte. Er eilte ihr entgegen und half ihr ablegen.
Sie war eine stattliche Dreißigerin, eine aparte, imponierende Erscheinung.
Er hatte sie im Schnellzug Stuttgart—Berlin kennen gelernt und sie hatten sich angefreundet. Er, der „Geschäftsreisende" aus Amerika, wie er angab, und sie, die arme Waise, deren Eltern aus dem Elsaß vertrieben worden und aus Gram gleich nach dem Krieg gestorben waren.
„Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind" jagte er zu ihr. „Ich freue mich und danke Ihnen. Um offen
zu sein: Ich hatte damit gerechnet, daß Sie nicht kommen würden, Fräulein Crusius."
„Wie konnten Sie daran zweifeln? Ich hatte es Ihnen doch versprochen."
„Gewiß," lächelte er, „aber ich hatte Ihnen das Versprechen im Zug beinahe mit Gewalt abgenommen, und da wäre es kein Wunder gewesen, wenn Sie sich nicht daran gebunden gefühlt hätten."
„Versprechen ist Versprechen. So oder so. Wenn ich etwas verspreche, so halte ich es auch."
Sie sahen eine gute Stunde beieinander und plauderten. Da sie neulich während der langen, gemeinsamen Fahrt über die ersten Förmlichkeiten hinweg und einander näher gekommen waren, nahm der Ton ihrer Unterhaltung bald Wärme und Vertraulichkeit an.
Eine Welle von Sympathie schlug von einem zum andern hinüber; sie hatten beide bisher noch nicht geahnt, wie sehr sie zusammen harmonierten.
Es war, als kannten sie sich schon lange und Anne Crusius gab diesem Gefühl auch unverhohlen Ausdruck.
„Ich meine immer, in Ihnen einen alten Jugendfreund wiederzuerkennen: es ist mir, als ob wir uns nur lange nicht gesehen und uns nun, eine alte Freundschaft auffrischend, viel zu erzählen hätten."
Das Herz des Junggesellen blühte auf bei diesen Worten. Sollte ihm nach zwanzig Jahren Fremde der Herbst in der Heimat den Frühling bringen?
Aber er sagte etwas bedrückt: „Wie können wir Jugendfreunde gewesen sein, Fräulein Crusius? Wie ich ein Jüngling war, konnten Sie noch nicht Papa und Mama sagen. Ich werde nächsten Monat fünfzig Jahre alt."
Anne Crusius betrachtete wohlgefällig seine starke, ela
stische Figur. Kein Zweifel, er sah gut aus in seiner gesunden und sonngebräunten Männlichkeit. Die Augen blickten offen und treuherzig: die etwas wulstigen Wangen warfen tiefe Furchen in dem glattrassierten, scharfgeschnittenen Gesicht.
„Sie sind jetzt noch jung und waren immer jung", meinte sie freundlich. „Es ist also sicher kein Gefühlsirrtum, wenn ich vorhin von einer Jugendfreundschaft zwischen uns sprach."
Julius Andermatt verlebte in diesem simplen Caferaum eine der köstlichsten Stunden seines Lebens. Voll Genugtuung stellte er mit einem gelegentlichen Blick nach hinten auch fest, daß der lächerliche Mensch in dem grauen Anzug und dem steifen schwarzen Hut seinen Anordnungen Folge geleistet hatte. Seine Freude war vollkommen. So glücklich hatte er sich seit seiner ersten Verliebtheit als Primaner nicht mehr gefühlt.
Umsomehr wurde er aus seinen Himmeln gerissen, als er gewahrte, daß es sich plötzlich wie eine düstere Wolke über die weiße Stirne seiner schönen blonden Freundin legw.
Besorgt fragte er sie nach dem Grund ihrer unverhofften Verstimmung, aber sie gab nur noch einsilbig Antworu
Nach kurzer Zeit brach sie hastig auf; alle Bitten und alles Drängen, sie möge bleiben, halfen nichts. Sie ließ sich nicht halten.
Kaum, daß er sie noch zu dem Zugeständnis brachte, ihm eine Zusammenkunft zu gewähren, die auf den kommenden Sonntag vereinbart wurde. Am Brandenburger Tor trennten sie sich.
(Fortsetzung folgt.^