Die barmherzige Schwester.
Weihnachtserzählung von F. v. Lilllpnrg.
Nachdruck verboten.
4 .
„O, so rasch geht es nicht," anwortete Edith, die allmählich vollständig erblich. „Sie müssen, wenn Sie cs dem Doktor nachmachen wollen, mich erst chloroformieren."
Ein flehender Blick ihrerseits bedeutete dem Knaben die Klingel zu ziehen und zwar mit aller Gewalt.
„O, nein; Sie wolle» mir nur davon- laufcn," schrie der Wahnsinnige jetzt wütend, „so haben wir nicht gewettet; rasch kommen Sie her, ich —"
„Was geht hier vor," donnerte plötzlich eine tiefe, wohlbekannte Männerstimme. Der tobsüchtige Holst fühlte sich von nervigen Armen umfaßt und zu Boden geschleudert, während Edith mit einem Seufzer bewußtlos an Doktor Volkmais Brust sank.
Sekundenlang preßte dieser, seiner selbst nicht mächtig, die Geliebte an sich, es war ihm, als müsse er de» schneebleichen Lappen Ediths durch seine Küsse wieder die rosige Farbe wieder zurück bringen und dnrch süße Liebesworte den unheimlichen Vorfall für immer aus Ediths Gedächtnis bannen. Doch kaum stand die treue Schwester Gertrnd sorgenlos vor ihrer jungen Schutzbefohlenen, da sanken Doktor Volkmars Augen zitternd herab und er sagte mit klangloser Stimme: „Welch' ein furchtbarer Vorfall! Schwester Editb, den Wahnsinnigen dürfen Sie nicht in ihrer Obhut behalten, der muß hinter Schloß und Riegel, denn er kan» ein unabsehbares Unglück anrichten."
„Gewiß, Herr Dokter, der Patient soll gleich fortgedracht werden," versicherte die Oberschwester, „doch erst mutz ich dies arme Kind, Schwester Edith, wieder zum Bewußtsein bringen."
„Ich will sie tragen," rief Volkmar hastig, um ohne ans den Einwand der Diakonissin zu hören, nahm er die Leblose in seine Arme und trug sie auf das Bett in ein leeres Zimmer; wie l icht wog sie und doch wie schwer lagS auf seiner Seele, als er das bleiche Gesicht Edith's ansah, das an seiner Schulter ruhte.
Ein heftiger Weinkrampf erschütterte Edith, als sie das Bewußtsein wieder erlangte, doch schon am Nachmittage war sie tvieder wohlaus und nur das eine G-fühl blieb in ihrer Seele: daß Volkmar sie gerettet, sie in seinen Armen vor dem Wahnsinniger geschützt hatte I Volkmars mächtige Stimme Halle sie noch vernommen ehe die schwarzen Schatten der Bewußtlosigkeit über ihr zusammcnwogten und auch jetzt klang st- ihr im Herzen nach, beruhigend und berauschend wie nie zuvor.
Der Vorfall wurde von Niemand im Krankenhanse weiter erwähnt, nur die gütige Oberin sprach zu Edith einige anerkennende Worte über ihre Seelenstärke und am nächsten Tage srug Doktor Volkmar sehr teilnehmend »ach Schwester Ediths Befinden.
„O, ich danke, .Herr Doktor," gab sie freundlich, doch ohne ihn dabei anzusehen, zurück, „mir geht es ganz gut; ich gehöre nicht zu den schwachnervigen Damen u. habe mich sehr geärgert bei dem Austritte mit dem Wahnsinnigen."
Tie Zeit ging hin, das Ende von Ediths Kursus als barmherzige Schwester im Krankcn- hanse kam näher und, wenn auch der Gedanke an das Wiedersehen mit den geliebten Eltern Edith freudig aufjnbeln ließ, so preßte sie doch mitunter, wenn sie allein war, die Hand aufs Herz, weil eS darin so seltsam bei dem Gedanken an den Abschied aus dem Krankenhanse zuckte.
„Es ist im Leben häßlich eingerichtet,"
„Daß bei den Rosen gleich die Dornen stehen,"
„Und was das arme Herz auch sinnt und dichtet,"
„So kommt doch bald ein Auseinandergehen. —"
Ja, es kam heran — und eines TageS war cs da l
„Morgen, mein Kind, sind Sie entlassen," sagte die Oberin eines'Nachmittags zu Edith. „Gehen Sie zurück in ihre Heimat und die Welt, aber vergessen Sie unser stilles Asyl nicht gänzlich, indem wir Ihnen stets «ine freundliche Erinnerung bewahren werden."
Edith hätte beinahe laut aufschluchze» mögen bei diesen Abschicdsworten. Ja, Abschied nehmen war doch bitter und schwer! Sie girng zu den einzelnen Kranken, die sic g,pflegt hatte und sagte ihnen Lebewohl, und dann, als die Zeit der Doklorvisile herannahte , stand sie niedergeschlagenen Auges und mit pochendem Herzen vor dem stattlichen Manne, der sich seinerseits tief und huldigend vor ihr verneigte.
„Leben Sie wohl, Herr Doktor -- ich — muß von hier wieder f-ortgchcn! —" sagte sie gepreßten Herzens.
„Reisen Sic glücklich, gnädigste Gräfin und — vergesse» Sie uns nicht ganz!" erwiderte Dokior Volkmar mit vibrirender Stimme.
Weiche, verschleierte Töne waren es, die an das Ohr des jungen Mädchens drangen, und plötzlich eilte ste, alle bisherige Discip- liii vergessend, zur Thüre hinaus nach ihrem einsamen Stübchen, um sich hier anSzuweinen-
„Liebe, kleine Edith," dachte Schwester Gertrud bewegt, -als die Thür sich Hittier ihr schloß, „es wird ihr wirklich recht schwer, uns zu verlassen."
Voll feinem Takte srug sie später gar nicht nach Ediths geröteten Augen, als diese nach einiger Zeit wieder in dem Kranken- zunmer erschien, aber lief im weltersahrnen Herzen der Schwester Gertrud regle sich eine heimliche Frage — die der Wahrheit rech! nahe kam.
Am nächsten Morgen reiste Edith ab. Schwester Gertrud geleitete sie bis an das Damencoupee der Eisenbahn und sah verwundert, wie im letzten Momente, gerade als der Zug fortsahren sollte, Doktor Volkmar auf den Perron eilte, um noch miizufahren.
„Was soll das werden," rächte die sanfte Schwester, „Sie sind im LedenSrang so himmelweit auseinander, die Gräfin Rhatcn wird niemals die Gemahlin eines bürgerlichen Arztes werden."
An der nächste» Station, wo der Zug hielt, sprang Doktor Volkmar aus tum Conpec und trat an das Damencoupee heran, in welchem Edith saß.
„Ich wollte nur noch einmal von Ihnen Abschied nehmen, Comteß," sagte er hastig und zog Ediths Hand an die bebenden Lippen,
„aber — ich dachte, eS wäre besser — allein als im Beisein , von Andren. Zürnen Sie mir deshalb auch nicht?"
Der warme Strahl, welcher ans ihren Augen glänzte und ihn traf, sagte genug, auch ohne die verwirrten, stammelnden Worte deS jungen Mädchens.
„Wie freundlich von Ihnen, Herr Dr.! Ich danke Ihnen tausendmal dafür!"
„Nun blickten sie sich tief in die Augen und ohne daß ein einziges Wort der Liebe gefallen, wußten sie doch, daß jenes allmächtige Gefühl in ihnen erwacht sei, um nimmermehr zu erlöschen.
„Gott behüte Sie, Edith!" murmelte Volkmar, nochmals die kleine Hand küssend, „der Zug fährt soeben ab."
„Auf Wiedersehen!" flüsterte sie, ihn thränenvoll ansehend und leidenschaftlich neigte er sich zum letzten Male zu ihr hin.
„Aus Wiedersehen I" rief dann auch noch Dvk-or Volkmar.
Dahin brauste der Zug und führte Gräfin Edith in die vornehme Welt zurück. Aber sie lehnte wehmütig in dem Sammetpolster und die Thränen strömten heiß und unauf- haUam aus ihren Augen; eine unsägliche Sehnsucht nach jenen dunklen, ernsten Männcr- augen, die sie so lange täglich gesehen und nun vermissen sollte, vielleicht für immer, erfüllte ihr Herz und sic streckte plötzlich beide Arme weit aus.
„Gieb ihn mir, o mein Gott," murmelte sie flehend, „sein Glück soll meines Lebens reichster Inhalt sein!"
Auf Schloß Nhaden erwarteten die Eltern ungeduldig ihr heimkehrendes Kind.
Guirlanden von grünen Tannenzwcigcn, Vorläufer dcö nahen Christfestes, schmückten die Thüren, Knchenduft durchzog bas Haus und in Ediths Zimmer stand ein ganzer Tisch voll reizender Gaben ansgcbaut, um die geliebte Tochter zu überraschen!
Und da kam auch schon der Wagen, der die sehnsüchtig Erwartete brachte. Leichtfüßig eilte das junge Mädchen vor dem Grasen heraus, welcher Edith an der Station abgeholt hatte, und lag, weinend und lachend, in den Armen der geliebten Mutter.
„Mein Liebling, mein Edith! O, wie froh bin ich, Dich endlich wieder zu haben!" rief freudig erregt die Gräfin.
Das war ein Jubel und eine Freude im Schloß, als Comteß Edith wieder heim- kehrte. Und als nun me Eltern ihre Tochter Hinaufgeleitelen in ihr Zimmer zu dem Tisch mit den Geschenken, da freute sich Edith von Neuem wie ein fröhliches Kind.
Tage und Wochen eilten dahin, Gräfin Edith, die heimgekehrte tapfere Johanniterin wurde von allen Bekannten bewundert und gefeiert. Das vornehme standesgemäße Wesen umgab sie wieder und doch lag in den schönen, braune» Angen Ediths ein ernster sehnsüchtig, r Ausdruck, der früher noch nicht sich darin gespiegelt. Mitunter, wen» ste allein saß, blickte sie sehnsüchtig in die Weite und wie im Traume flüsterten ihre bebenden Lippen: „Arno — auf Wiedersehen!"
Eines TageS kam Graf Rhaden sehr er»lt zu Tisch, er sprach kein Wort, starrte dü>nr vor sich hin und als man sich von dem ziemlich schweigsame» Mahle endlich erhob, wandte er sich mit gerunzelter Stirn zu Edith und sagte: -- ^Schluß folgt.)
-jKranlworlUcher pievaltenr; Bernhard Hosmann.) Pruck und -Verlag von Bernhard Hosmann in Midbad,