Me Abgründe.

Novelle von F. Stöckert-

12) (Nachdruck verboten.)

Ach Wie recht hatte der Herr. Mit einem fast irren Blick sah die junge Frau zu ihm auf. Sie befand sich in grenzenloser Auf­regung. Daß Staufen keinen Glauben mehr hatte, das wußte sie ja längst, aber dieses sein Glaubensbekenntnis öffentlich mit aller Gewalt der Rede aussprechen zu hören, war von erschütternder Wirkung für sie gewesen- Wie eine Träumende schwenkte sie zur Logen, thür hinaus, der alte Herr schaute ihr ver­wundert nach.

Und solch ein nervöses junges Ding kommt ganz allein hierher, solch ein Schau­spiel zu sehen," murmelte er kopfschüttelnd, während unter ihm das erregte Publikum lärmte, und die Künstler und den Dichter des Stückes heraus rief.

Auch Erica vernahm diese Ruhe noch, als sie jetzt ihren Mantel umhing und das Gesicht, wie ihr Balentine geraten hatte, mit einem dichten Schleier verhüllte, damit sie Niemand erkennen sollte. Dann eilte sie die Treppen hinunter, bestieg eine Droschke, und befand sich nach kaum einer halben Stunde wieder In ihrer behaglichen Wohnung.

Wäre es nicht besser gewesen, sie hätte diesen stillen, trauten Raum heute nicht ver­lassen ? So fragte sie sich und wie würde Staufen es aufnehmen, wenn er erfuhr, daß sie sein Stück gesehen. Erfahren aber mußte er eS heute noch I Sie wollte seine Rückkehr abwarten, und wenn sie Stunden­lang hier sitzen sollte, dann wollte sie ihm alles beichten und ihn bestürmen, das Stück nie wieder aufführen zu lassen. Diese böse Saat, wie der alte Herr sich ausgedrückt, durfte nicht weiter ausgestreut werden. Ihre ganze Beredsamkeit wollte sie aufbieten, Stau­fen dazu zu bestimmen. Was konnte ihm auch an diesem lauten, jubelnden Beifall liegen, in welchen die Meisten doch nur ge­dankenlos mit eingestimmt hatten. Ach, sie hatte keine Ahnung, wie berauschend ein sol­cher Beifall, auch von der gedankenlosen Menge auf einen ehrgeizigen Menschen wirkt, und wie ernüchternd es für ihn sein mußte, wenn sie heute noch eine derartige Bitte an ihn richten würde.

Die Zeit schien keine Flügel am heutigen Abend für Eric« zu haben, träge und lang» sam schlich sie dahin. Sie hatte ein wenig Klavier gespielt, und ging nun hinüber nach dem Zimmer ihres ManneS; vielleicht waren in ihrer Abwesenheit noch Briefe angekommen; feit einigen Tagen schon erwartete sie einen von ihrer Mutter, die Postsachen wurden stets hinein gelegt, suchend schaute sie sich um, richtig da stand ein Packet auf dem Schreibtisch, das kam aus der Heimat, so sorgfältig verschnürte und versiegelte nur ihre Mama nach alter Sitte. Sie löste den Bindfaden ab und öffnete den leichten Deckel, in Moos und Tannenzweigen gebettet lagen da die ersten Frühlingsboten Schnee­glöckchen und Anemonen, Sie starrte darauf, als hätte sie dergleichen noch nie gesehn, als wären sie ein Gruß aus einer andern bessern Welt.

Ein Frühlingsgruß aus der Heimat! schrieb ihre Mutter in dem Begleitschreiben der Sendung, und erzählte dann von ihrem stillen Leben, wie sie jede Stunde des Tages

ihrer fernen Kinder gedächte. Auch der Aufführung derAbgründe" gedachte sie, sie hätte in der Zeitung davon gelesen, und würde nun wohl den ganzen Abend mit ihren Gedanken bei ihnen weilen.

Wenn die Blumen noch zur rechten Zeit anlangen sollten, möchte Erica sie Benno geben, es wären freilich keine Loor- beeren für die Dichterstirn, aber dafür würden schon andere sorgen.

Sie hatte natürlich keine Ahnung, die gute Mama, was für ein Stück diese Ab» gründe waren, und glaubte sicher, es sei ein Schauspiel wie hundert andere, in welchen schließlich das Gute über das Böse siegt.

Erica kam sich so welterfahren vor, der Mutter gegenüber, als wären Jahre ver­gangen und sie eine ganz andere geworden, seit sie von ihr geschieden, und doch waren eS nur Stunden, die sie so verändert hatten.

O das Schauspiel, das unselige Slück l wie die Gestalten daraus sie quälten und verfolgten, wie lebendig, wie naturwahr waren sie alle, so aus dem vollen Leben gegriffen, aber aus einem bösen, häßlichen Leben, wo die Leidenschaften, die Sünde regierten, dem der Sonnenglanz der Religion und der Liebe fehlte. Abgründe des Daseins gähnten überall, doch den einen großen Ab­grund der zur ewigen Verdammnis führte, den wollte man nicht kennen, nur in dem AuSdrück, in welchem der Held des StückcS dos Wortsterben" ausgesprochen, da hatte es hindurch geklungen, wie ein leises, banges Ahnen, daß doch wohl mit dem Tode nicht alles aus sei, und von solchen Gedanken kann sich wohl keine Menschenseele ganz frei machen.

Auch Du nicht, auch Du nicht, Benno," flüsterte Erica.

Wie deutlich er jetzt im Geiste vor ihr stand, das Antlitz so stolz, so glücklich, vor ihm das erregte Publikum und unter all diesen Menschen heimlich verborgen, sie, sein- Frau, voll Trauer und Entsetzen über das Werk ihres Mannes, in dessen Angen sich die Welt so ganz anders spiegelte wie in den ihren. Ach, daß sie nur ein einzigmal die rechten Worte fände ihm gegenüber, und nicht wieder verstummte wie schon so ost, wenn er mit all seiner Gelehrsamkeit seinen schrecklichen Beweisen gegen sie zu Felde zog. Ueberzeugt hatte er sie ja noch nie damit, aber in den meisten Fällen doch stumm ge­macht.

Nur neulich war auch er einmal ver­stummt, als sie ihn gefragt, ob ihm, wenn er hinaufschaue zum Sternenhimmel, nicht ein Gedanke komme von der Größe und Allmacht dessen, der ihre Bahnen lenkt, ob nicht ein Ton an seine Ohren klänge von dieser hehren Sprache der Gestirne, da hatte er sie nur sinnend angesehen, und keine Antwort gefunden.

Ach, nicht nur die Gestirne, die ganze Natur redete eine solche Sprache, auch diese kleinen Frühlingsblumen hier, sie erzählte von den Wundern des Frühlings, wie er alle Jahr in neuer Schönheit erscheint, gleich einem Abglanz des verlorenen Paradieses, das den armen Erdenbewohner nicht wieder erstehen soll.

Vor Ericas Blicken erstand jetzt die Heimat, so schön, so lockend, als wäre dies ihr verlornes Paradies. Sie sah den Wald durch welchen die Frühlingsstürme brausten,

und wie aus dem dunklen MooS die weißen Sterne der Anemonen hervorlugtcn, sah den kleinen Garten, die alte Mauer, an welcher die Schneeglöckchen stets In reicher Fülle blühten. Thräne auf Thräne fiel äuf die Blumen, die Sehnsucht nach der Heimat hatte sie auf einmal ganz und gar über­mannt.

So fand sie Staufen, der in der glück­lichsten angeregtesten Stimmung jetzt heim­kehrte. Einen solchen Erfolg seines Stückes hatte kaum erwartet. Nun galt es weiter zu schreiten auf der einmal eingschlagenen Bahn, um immer mehr und immer Größeres erreichen!

Strahlenden Antlitzes trat er in das Zimmer, und eilt auf Erica zu, um sie in der Freude seines Herzens in die Arme zu schließen. Nun wollte er sie auch nicht länger fern halten von dem Theater, sie mußte teil­nehmen an seinen Triumphen. Erst als er vor ihr stand, sah er die Thränen in ihren Augen.

Du weinst, und das heute an einem Tage, wo ich, Dein Mann, so glücklich bin, wie lange, lange nicht!"

(Fortsetzung folgt.)

Verschiedenes.

22 Jahre unschuldig in Haft. Aus New-Aork wird berichtet: Aus dem Zucht­hause von Anamosa Staat Iowa wurde kürzlich Cornelius Moelchen entlasten. Sein Fall war höchst seltsam. Er kam im Jahre 1877 aus Deutschland zu seinem Onkel John Moelchen, der in Dubuque County als Junggeselle lebte. Bald darauf kam der ältere M. zu Tode, anscheinend durch ein Unglück mit dem Perde, da die Leiche mit einem Fuß im Steigbügel hängend ge­funden wurde. Der Neffe, welcher der ge­setzliche Erbe war und kein Wort englisch verstand, geriet in den Verdacht, seinen Onkel ermordet zu haben. Es lag nichts weiter gegen ihn vor als eben blos der Verdacht, und es wird zugegeben, daß der Prozeß gegen ihn keinen gesetzlichen Verlauf nahm. Nunmehr, nach 22 Jahren, nahm die Legis­latur einen Beschluß zu seinen Gunsten an, werauf er begnadigt wurde. Der Mann ist 82 Jahre alt und trotz eines 23jährtgen Aufenthaltes im Lande ein Fremder, da er nur sechs Monate in Freiheit verbracht hat. Er ist nach Montezumä gegangen, wo ein alter Freund von ihm wohnt, der ihm Be­schäftigung geben will.

Ein heiteres Stückchen spielte sich am Dienstag in Schwetzingen zwischen einem jungen Brautpaare ab. Der Bräutigam wollte sich am Dienstag die Fesseln der heiligen Ehe anlegen, die Braut aber erst Samstag. Gesagt gethan I Beide wollten ihr Recht behaupten I Als aber der Bräutigam in vollem Wichs am Hause der Braut vor­fuhr, erfuhr er zu seiner Ueberraschung, daß diese ihr Wort auch gehalten, denn sie war im Felde beschäftigt und kam nicht einmal über Mittag nach Hause. Er mußte unverrichteter Sache wieder abziehen und sich an dem bercitgestellten FestschmauS allein gütlich thun.

Merks.

Mancher ist insofern anspruchslos, als er höchst bescheidene Anforderungen an die Achtung seiner Mitmenschen stellt.

Siebakitou, Druck und Verlag von Beruh. H ° fm « nu in Wldbad.