Im Strome des Lebens.
Roman von Jenny Piorkowska.
(Nachdruck verboten.)
2 .
„Der Fall hier ist nicht so schlimm/ sagte letzterer „Sie können außer Sorge sein, das Fieder ist sichtlich im Abnehmen begriffen."
«So können wir wohl wagen, ihr ein bequemeres Unterkommen zu schaffen?"
«Wenn solches sich finden läßt," entgeg- nete der Arzt in bedenklichem Tone; „wir haben schon Mühe gehabt, alle Verunglückten überhaupt unterzubringen. Beide Gasthäuser, die wir haben, sind voll, und ein großer Teil der Bewohner ist in liebenswürdigster Weise bereit gewesen, einen oder ein paar der Unglücklichen bei sich aufzunehmen."
„Dann ist es wohl das Beste, wir bringen sie gleich nach meiner Besitzung; — in gutem Wagen, b>quem gebettet, wird ihr die dreistündige Fahrt nicht schaden. Hier in dem elenden Ort können wir doch unmöglich zwei bis drei Wochen bleiben — eher wird sie wohl nicht reisen können, und mein Arm wird, fürchte ich, die unruhige Bewegung des Eisenbahnsahrens auch sobald nicht vertragen können."
Rodeggs Arm lag in einer Binde, und hin und wieder glitt ein Ausdruck physischen Schmerzes über sein Gesicht.
Der Arzt gab, wenn auch scheinbar widerwillig, seine Zustimmung und noch an demselben Abende langten wir auf Schloß Rodegg an.
Ich verbrachte eine unruhige, fast schlaflose Nacht; überhaupt schon in höchster krankhafter Erregung, machte das große düst-re Zimmer einen geradezu unheimlichen Eindruck auf mich. Nein, hier konnte, hier wollte ich nicht bleiben I Ich wollte den Dvclor bitten, daß er mich hier fortnähme, oder an Tante Aurelie schreibe, daß sie komme und mich hole — oder besser noch, ich floh, floh so schnell als möglich aus diesem stillen, düsteren Hause, wo ich sicher sterben würde, wenn ich länger bliebe. Voll Verzweiflung ballte ich die Hände und begrub mein lhrä- nenüberströmtes G> sicht in den Kissen. Da that sich die Thüre auf, und der Arzt mit Rodegg trat ein.
Elfterer fühlte mir den Puls, stellte verschiedene Fragen an Frau Altener, Rodeggs Haushälterin, und verabschiedete sich darauf wieder. Rodegg gab ihm das Geleite, kehrte dann aber zurück und sagte mir, er habe gleich gestern an Tante Aurcli telegraphiert, damit sie, wenn sie von dem Eisenbahnunglücke höre, nicht erschrecke. Heute habe er ihr ausführlich geschrieben und sie über meinen Zustand beruhigt, ihr auch versichert, eS sei durchaus nicht nötig, daß sie herkomme, ich sei in besten Händen. „In zwei bis drei Wochen," fuhr er fort, „hoffe ich, sind Sie völlig wieder hergestellt, daß wir reisen können."
Zwei bis drei Wochen hier bleiben I — Dieser Gedanke war mir so entsetzlich daß ich, in ditleie Thränen ausbrechend, rief: „O, ich bin j'tzt schon wohl genug! Ich will gleich zu Tante Aurelie reisen I"
Rodegg setzte sich an mein Bett, und meine Hand in die seine nehmend, sprach er wie zu einem Kinde: „Sie würden sich sehr schaden, wenn Sie jetzt reisen wollten. Viel
leicht sind Sie aber viel schneller wieder gesund, als der Doetor glaubt. Haben Sie nur ein klein wenig Geduld, und seien Sie versichert, daß wir reisen, sobald Ihr Befinden es zuläßt."
Ich aber schüttelte den Kopf und schluchzte krampfhaft.
„Mein liebes Kind," fuhr er in fast väterlichem Tone fort, „so hören Sie doch auf mit Weinen, das regt Sie ja nur unnütz auf. — Sie haben gewiß noch Kopfweh ?"
„Ach ja, schreckliches Kopfweh I — wenn ich nur schlafen könnte I"
„Ich gebe Ihnen etwas Beruhigendes, dann werden Sie schlafen können," entgeg- nete er. Darauf nahm er ein Glas Wasser, schüttete ein weißes Pulver hinein und reichte es mir. Ich trank und ließ dann, seinem Rate folgend, meinen heißen Kopf in die Kissen zurücksinken, während er sich wieder niedersetzie und in freundlichem Tone fortfuhr, mir zuzureden, als wäre ich ein Kind von acht Jahren.
„Morgen werden Sie auch umgebettet in das blaue Zimmer," tröstete er mich; „da wird es Ihnen besser gefallen ; es ist an und für sich freundlicher und behaglicher als hier und hat die Fenster nach dem Park. Und wenn es Ihnen allein zu einsam ist, soll Frau Altener in in Ihrem Zimmer schlafen."
Der Ausdruck auf meinem Gesicht war wohl nicht mißzuverstehen, denn schnell fuhr er fort: „Vielleicht ist es auch besser, ich gebe Ihnen Lisette, Frau Alteners Nichte, zur Bedienung ; daS ist ein frisches munteres Mädchen, die Ihnen gewiß besser gefallen wird als die ernste Frau Altener."
Dieses freundliche Zureden that mir so wohl, daß der böse Schmerz in meinem Kopfe bald ganz erträglich ward und und ich allmählich in einen leichten Schlaf verfiel.
II.
Das freundliche blaue Zimmer undLiset- tes munteres Geplauder wirkten Wunder. Am dritten Tage konnte ich schon aufstehen und, in einen bequemen Armstuhl gebettet, eine Stunde am Fenster sitzen und hinausschauen auf den schönen Park.
Ich glaube, Lisette hat strengen Befehl von ihrem Herrn, mir so viel als thunlichst Gesellschaft zu leisten. Sie ging selten von mir und erzählte mir allerhand über Rodegg und seine Familie. Er war der einzige noch Lebende von drei Geschwistern. Er hatte noch einen älteren Bruder und eine Schwester gehabt.
„Diese sind so früh gestorben?" fragte ich mitleidig.
Lisette, offenbar nicht recht wissend, was sie antworten sollte, wurde sehr verlegen, aber so wenig wie ihre treuherzigen Augen lügen konnten, so wenig vermochten ihre roten Lippen eine Unwahrheit zu sagerkt
„Nein," entgegnete sie endlich zaghaft; „vielleicht wäre es besser gewesen, Fräulein Marianne von Rodegg wäre gestorben, ehe sie Sünde und Schande über dieses HauS brachte."
Und wie ich in meiner Neugier weiter in sie drang erzählte sie mir, soviel sie selbst von dem traurigen Ereignis wußte, das sich lange vor ihrer Zeit auf dem Schlosse zugetragen halte. Marianne von Rvdegg mit ihrer schönen Gestalt, ihrem aschblonden Haar, ihren rehbraunen Augen war nicht
nur der Vorzug ihres Vaters gewesen, son- de»n auch der Liebling Aller, die sie kannten, und als sie erwachsen war, fanden die Gesellschaften , die Diners und Soupers, die Bälle und Festlichkeiten, auf dem Schlosse kein Ende. Die Damen bewunderten, die alten Herren verwöhnten und die jungen Herren vergötterten sie. Unter letzteren befand sich auch ein junger Franzose, dem es mit seinem schönen Gesicht, mit seinen schwarzen Augen und seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit nicht schwer ward, der schönen Marianne ganzes Herz zu gewinnen. Er warb um sie bei dem Vater, und als dieser ihm als Antwort für immer verbot, sein HauS je wieder zu betreten, war der junge Mann am andern Tage verschwunden, aber mit ihm auch Marianne. Seitdem ist das Schloß hier wie umgewandelt: dem Vater brach bald darauf vor Kummer und Scham über die Schande, welche die Tochter durch ihre Flucht über sein Haus gebracht, daS Herz, und auch Herr Arthur von Rodegg ist seitdem ein Anderer geworden. Kaum daß ei» Fremder je das Haus betritt, mit den Festlichkeiten ist es vorbei, kein frohes Lachen, keine munteren Stimmen Hallen mehr wie einst in diesen Räumen wieder. Drei- Viertel des Jahres steht das Schloß gewöhnlich leer. Herr Rodegg weilt immer nur kurze Zeit hier; cS läßt ihm selten lange Ruhe, dann geht er wieder fort auf weite Reisen. Die zwei Zimmer, die spcciell Fräulein Marianne gehörten, sind überhaupt stets verschlossen, kein fremder Fuß darf sie je betreten.
Lisette wurde abgcrufcn, während ich, mit meinen Gedanken noch ganz bei dem so eben Gehörten, weiter darüber grübelte.
„Das also ist daS Geheimnis," dachte ich, „weshalb er immer so ernst und düster dreinschaut, weshalb seine Stirn in so tiefen Falten liegt und seine Lippen meist so fest aufeinander gepreßt sind, als bedrücke ihn ein schwerer Kummer." — Wo nur Lisette blieb?" — Es wurde immer dunkler um mich her, kein Laut tönte aus den unteren Räume» zu mir herauf; so allein mit mir und meinen ernsten Gedanken, ward eS mir allmählich ganz ängstlich zu Mute. Da klopfte cs leise an die Thüre.
„Gut, daß Sie endlich wiederkommen, Lisette, ich fing wirklich an, mich zu fürchten," rief ich ihr entgegen, aber cs war nicht Lisette, sondern Rodegg,
„Ich mußte Lisette zur Post schicken, — sie wird nicht lange bleiben. Aber das Feuer ist aus, es ist kalt hier," fuhr er mit einem mitleidigen Blick aus meine bleichen Wangen fort, „wollen Sie nicht mit hinunter in mein Zimmer kommen und mir beim Thee Gesellschaft leisten?"
„Gern," erwiderte ich, alles Andere nach längerem Alleinsein vorziehend, und mich in ein warmes Tuch hüllend, folgte ich ihm die Treppe hinab.
„Was für ein reizend behagliches Zimmer I" rief ich unwillkürlich aus, als meine bewundernden Blicke über die hohen mit Büchern besetzten Regale glitten.
„Das heißt, für Jemand, der Bücher liebt," entgegnete Rodegg lächelnd. „Lesen Sie gern?"
„O ja, wenn es etwas hübsches ist."
(Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von Bernh. Hofmann in Wildbad.