Zur Eröffnung des Reichstags.

Berlin, 3. Juli. Die Dienstag im weißen Saale des königlichen Schlosses erfolgende Eröffnung des Reichstags lenkt den Blick auf jene feierliche Eröffnung des Parlaments vor fünf Jahren zurück, wo Kaiser Wilhelm II zehn Tage nach dem Heimgänge seines Vaters znerlt mit dem Reichstage in Berühr­ung trat. Anion von Werner hat jenes denkwürdige Ereignis in einem figurenreichen, historisch-treuen Gemälde Verewigt. Wieviel veränderte sich in diesen fünf Jahren! Damals standen Graf Mvltke und Fürst Bismarck zur Seite des jungen Kaisers. Der eine ist abverufen zur großen Armee, der andere lebt fern von den Siaaisgeschäften im fernen Sachseuwalde. Ebenso hat die größte Zahl der damaligen Ministern neuen Män­nern Piatz machen müssen. Nicht wenige ehemalige Abgeordnete fehlen diesmal, dar­unter diekleine Excellenz", Windhorst, der vor fünf Jahren in der ersten Reihe der Parlamentarier stand.

Der Kaiser hat in diesem Zeiträume seinen ehrlichen Willen und seine hervorragend- Thatkraft darangesetzt, nach außen und im Innern den Frieden zu bewahren und die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. Wenn trotzdem die Verhältnisse seit jenem denk­würdigen 25. Juni 1888 sich nicht ent­scheidend gewandelt haben, so sind eben die Verhältnisse stärker als der stärkste Wille. Noch ist die soziale Frage erst zum kleinsten Teile gelöst; der Partikularismus hat neue Kraft gewonnen; Bestrebungen treten auf, die mit der gesunden Entwicklung des Reiches unvereinbar sind. Unter diesen Umständen bedarf eS einer ruhigen und stätigcn Politik seitens der Regierung, des Standhaltens ge­gen andringende Wogen. Ebensowenig aber kann die von außen drohende Gefahr über­sehen werden. Zn Frankreich ist der Re- v -nchegedanke znrückg, drängt, jedoch nicht über­wunden. Frankreich ist unermüdlich in seinen Rüstungen bis zum letzten Mann; was es an Volkezahl uns nächst, ht, das vermag cs zu ersetz, n durch seinen größeren nationalen Wohlstand und seinen Eifer in der Vervoll- köinmung des HeercS. Rußland hat unter schweren Mißständen zu leiden; gleichwohl bleibt Rußland bei dem Uebergrwicht in der Zahl ein nicht zu unterschätzender Gegner.

Der neue Reichstag steht vor schweren Aufgaben. Er soll dem Reiche den Frieden erhalten helfen gegen die äußer,» Feinde. Er soll die Unzufriedenheit im Innern zu mindern versuchen, nicht mit Grwatlmiüetn, sondern aus dem Wcge der ausgleicheudeu sozialen Reform. Schutz des Ruches nach außen und innen: das ist die ihm durch die Verhältnisse gebotene Parole. Mögen diese Aufgaben mit Verständnis und voller Hin­gebung erfaßt werden I

Die Thron rede.

Berlin, 4. Juli. Der Reichstag wurde durch den Kaiser mil folgender Thronrede eröffne!:

Geehrle Herren I

Nachdem Sie zu gemeinsamer Arbeit mit den verbündeten Regierungen berufen worden sind, ist cs mir Bcdürsnis, Sie beim Ein­tritt in Ihre B raiungen zu begrüßen und willkommen zu heißen. Der dem vorigen Reichstag vorgelegte Enlwurf eines G sttzes über die FricdenSpräsenzstärke des deutschen Heere«, durch welchen ein« stärkere Ausnutz­

ung unserer Whr kraft ermöglicht werden sollte, hat zu meinem Bedauern die Zustimm­ung der Volksvertretung nicht gefunden. Die von meinen hohen Verbündeten einmütig ge­teilte Ueberzeugung, daß das Reich.gegenüber der Entwickelung der militärischen Einricht­ungen anderer Mächte auf eine, seine Sicher­heit und seine Zukunft verbürgende Fortbild­ung unseres Heerwesens nicht länger verzich­ten dürfe, muhte zu dem Entschlüsse führen, den Reichslag aufzulösen und durch die An­ordnung von Renwsdlen daS für nolwendig erkannle Ziel zu verfolgen.

Seit der Vorlage jenes Gesetzentwurfes hat dje politischen Lage Enropa's keine Aender- nng erfahren; die Beziehungen des Reichs zu den auswärtigen Staaten sind zu meiner großen Befriedigung nach wie vor durchaus freundlich und frei von jeder Trübung. Das Verhältnis der organisierten militärischen Kraft Deuischlands zu derjenigen unserer Nachbarn hat sich ind,ssen noch günstiger ge­staltet, als im verfloss.run Jahr. Wenn schon stink geographische Lage und seine ge­schichtliche Entwicklung Deutschland dre Pflicht auferlegt, auf den Bestand eines Verhältnis mäßig großen HeereS Bedacht zu nehmen, so wird die weitere Ausbildung und Wehr­kraft mit Rücksicht auf die Fortschritte dcS Auslandes zu einer zwingenden Nolwendig- keit. Um den mir verfassungsmäßig ob­liegenden Pflichten genügen zu können, er­achte ich es für unumgänglich, daß mit allen zu Gebote stehenden Mitteln auf die Her­stellung einer ausreichenden und wirksamen Verteidigung der Vaterländische» Erde hinge« wirkt wird. Es wird Ihnen deshalb unver­züglich ein neuer Gesetz-Entwurf über die Friedenspräscnzstärke des Heeres vorgelegt werden. Darin sind die bei der Beratung des früheren Entwurfs lau! gewordenen Wünsche, soweit dies angängtich erschien, be­rücksichtigt und demgemäß die Aufforderungen an die persönliche Leistungsfähigkeit und an Steuerkraft des Volkes, soweit dies ohne Ge­fährdung des Zwecks geschehen konnte, her­abgemindert. Das Interesse des Reichs er­heischt es, zumal im Hinblick auf den im nächsten Frühjahr bevorstehenden Ablauf des Seplenats, daß der Gesetzentwurf mit thun- lickster Beschleunigung verabschiedet wird, damit die diesjährige RekruIen-EinstcUnng schon auf der neuen Grundlage vorgenommen werden kann. Eine Versäumnis des Termins di ser Einstellung würde sich auf mehr als zwei Jahrzehnte zum Nachteil unserer Wehr­kraft fühlbar machen. Um cS Ihnen z» er­möglichen, Ihre Arbeitskraft ungeteilt der Bercuung der Vorlage zuzuwenden, werden die verbündeten R gterungen davon Absehen, die Session mit anderen umfassenden Vor­lagen zu beschweren.

Wenngleich bei mir und meinen hohen Verbündeten die U- berz?ugung fortbesteht, daß die durch die Gestaltung unserer Heercsein- richtnngen bedingter Mittel zweckmäßig und ohne Ueberlastnng auf dem Wege beschafft werden können, welcher in den im verfloss-nen Herbst vorgelegte» Steuer Gesetzentwürfen in Vorschlag gebracht war, so bildet doch die Deckungsfragc den Gegenstand fortgesetzter Erwägungen. Ich gebe mich der Erwartung diu, daß Ihnen bei Beginn der nächsten Winter-Saison Vorlagen zugehen werden, in welchen der Grundsatz, daß die Bereit­stellung jener Mittel nach Maßgabe der Leist­ungsfähigkeit und unter thunlichster Schon­

ung der Steuerkrafl erfolgen muß, noch voll­ständiger als in jenen Vorlagen znm Aus­druck gelangt. Bis zum Ablauf des g-gen- mänigen ElatSjahres werden für die Deckung des Mehrbedarfs die Mairckularbeiträge her- anzuzieheu sein. Geehrte Herren! Unter schweren Opfern ist cS gelungen, die deutschen Stämme durch ein fettes Band zu einigen. Die Nation ehrl liest,iigen, welche für dieses Werk Gut und Blut eingesetzt und das Vater­land einen politischen und wirtschaftlichen Aufschwung zugeführl haben, welcher, wie er den Zeitgei offen zum Stolz und zur Freude gereicht, den uachkommenden Geschlechtern, wenn sie im Geist der Väter weiter bauen, des Reiches Größe und Glück verbürgt. Tie glorreichen Errungenschafieu zu wahren, mit denen Gott uns in dem Kampfe um unsere Unabhängigkeit gesegnet hat, ist unsere heiligste Pflicht. Solcher Pflicht gegen das Vaterland werden wir aber nur dann ge­nügen, wenn wir uns stark und wehrhaft genug machen, um ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens bleib, n zu können.

Ich vertraue, das mir und meinen hohen Verbündeten Ihre patriotische und opferbereite Unterstützung bei der Verfolgung dieses Zieles nicht fehlen wird I

Der Kaiser schloß die von ihm verlesene Thronrede, welche auch zum Schluffe zwei­mal mit Beifall bedacht wurde, mit folgen­den freigesprochenen Worten:Gehen Sie hin, meine Herren. Unser aller Gott, er leihe Ihnen seinen Segen zum Zustande- bringen eines ehrenvollen Werkes für das Wohl unseres Vaterlandes. Amen I" (Tiefe Bewegung in der Versammlung.)

Berlin, 4. Juli. Der Elöffnungsfeier- lichkeit im Weißen Saale wohnten etwa 300 Personen bei. Anwesend waren sämtliche Mitglieder der prcuß. Regierung und des Bundesrats, Caprivi, die Staatssekretäre Böt­ticher, Marschall und Stephan, Maltzan. Der Kaiser verlaß die Thronrede bedeckten HaupicS. Nach Beendigung der Rede er­klärte der Reichskanzler den Reichstag für eröffnet. In der Diplomatenloge waren mit den Mitgliedern des diplomatischen Korps auch zahlreiche Damen anwesend.

Berlin , 4. Juli. Erste Sitzung des Reichstags. Alterspräsident Dieben eröffnet die Sitzung. Er beruft die provisorischen Schriftführer. Der Namensaufruf ergiebt die Anwesenheit von 291 Mitgliedern. DaS Haus ist also beschlußfähig. Eingegangcn ist der Gesetzentwurf betr. die Friedcnsprä- senzstärke.

Berlin, 5. Juti. Reichstag. Das Haus wählt mit 310 von 319 abgegebenen Stim­men v. L-vetzom (kons.) zum Präsidenten. 4 Stimmen wurden für Lieber (Zentr.) eine für Ahlwardl abgegeben, v. Ledetzow nimmt das Präsidium mit einer Ansprache an, worin er sagt:Halten Sie mich für das, was ich vor allem sein möchte, für einen aufrichtigen, unparteiischen, unabhängigen Mann, der be­strebt ist, auch an dieser Stelle dem Vater­lande zu dienen." DaS Haus erhebt sich von den Plätzen zum Dank für die Mühe­wallung des Alterspräsidenten. Mit 300 von 3l3 Stimmen wähl! das Haus sodann v. Buol (Zentr ) zum 1. Vizepräsidenten. Znm 2. Vizepräsidenten wählt das Haus mit 226 von 285 Stimmen Bürklin snat.-lib.) (Somit sind 2 Süddeutsche ins Präsidium berufen.) Zu Schriftführern werden durch zurufe gewählt; Braun, Cegielski, Hermes,