eiliM zur Wil-ba-er Chrouik.

Nr. 148. I

Samstag, den 19. Dezember 1908-

44- Jahrgang.

Atnter:Hcll.'tendes.

Der schwarze Koffer.

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Emmtz Becher.

(Nachdruck verboten.) (Forts.)

So gut wie nichts, wird man sagen, und doch sür einen Mann von meinem damaligen Beruf ziemlich viel.

Ich wußte, um das vorauszuschicken, erstens, wie sie hießen, oder wenigstens, wie sie sich nannten, Mrs. Orr-Simpkinson, von London nach Paris, hatte ich schon aus einer Koffer­adresse gelesen. Orr-Simpkinson war also der Name der alten Dame, und ob sie ihn wirk­lich führte oder nicht, jedenfalls war sie unter diesem von London abgereist. Ferner wußte ich, woher sie kamen, zum mindesten, woher sie gerade jetzt kamen beide Damen, der Koffer und der Leichnam waren heute vormit­tag noch in London gewesen.

Des weiteren waren mir alle Einzelheiten der Entdeckung bekannt und ich ging sie in Gedanken aufs sorgfältigste wieder durch. Die Frage gestaltete sich für mich folgender­maßen: Es ist natürlich vorderhand ein Ding der Unmöglichkeit, den Mörder zu be­zeichnen, ist es aber wohl der Mühe wert, eine dieser beiden Frauen vorzunehmen und sie sich zu einem möglichenFall" auszuarbeiten. Für den Augenblick stellte ich mir einmal die alte Dame in den Vordergrund. Ihr Ver­halten während des Auftritts, ihre ganze Per­sönlichkeit schienen die Möglichkeit, daß sie einen Mord begangen habe, völlig auszu­schließen.

Nur ein erschwerender Umstand lag gegen sie vor, und zwar war das nicht ihr Wider­streben, den Koffer zu öffnen der stark ver­knotete Strick bot hinlänglich Grund dafür sondern die Tatsache, daß ich mit eigenen Ohren die Tochter halblaut hatte sagen hören: ich habe dir's ja gesagt, aber du wolltest durchaus in London diesen Strick herumlegen lassen, als ob das nicht das beste Mittel wäre, Verdacht zu erregen." Allein selbst diese Aeußerung konnte in allgemeinem, harmlosem Sinn gemeint sein, und es schien höchst un­wahrscheinlich, daß die Mutter, wenn über­haupt beteiligt, - mehr als eine Hehlerin der Tat war.

Aber die Tochter? Ihr zu mißtrauen, lag entschieden bedeutend mehr Grund vor. Sie war, wie ich schon erzählte, ein dunkeläugiges, bedeutend aussehendes Mädchen mit einem charaktervollen Gösicht und machte den Eindruck einer Person, die vor kleinen Hindernissen nicht znrückschreckt. Immerhin zeiht man eine harmlose junge Dame, die mit ihrer Mutter reist, nicht gern des entsetzlichsten aller Ver­brechen, des Mords, freilich pflegen andrer­seits auch junge Damen keine Leichen in ihrem Koffer mitzuführen.

Die Furcht vor dem Oeffnen gerade die­ses Koffers war bei dem jungen Mädchen un- gemein deutlich zu Tage getreten, und wenn diese an sich auch gang erklärlich gewesen wäre, so wurde sie doch unter diesen Umstän­den verdächtig. Noch ein andrer Umstand kam dazu und erschien mir von noch größerer Wichtigkeit als man ihr den Schlüssel ab­verlangte, hatte sie den Gehorsam verweigert.

Dafür gab es keine andre Erklärung, als daß sie das Oeffnen um jeden Preis hatte vermeiden wollen und darauf rechnete, die Beamten werden nachgeben und sich mit der Untersuchung eines andern Gepäckstücks be­gnügen. Sie hatte wiederholt versichert, dieser Schlüssel sei der richtige; er war es nicht sie hatte also eine Lüge ausgesprochen.

Während meiner kurzen Tätigkeit als Fahnder habe ich die Beobachtung gemacht und Kollegen von weit mehr Erfahrung haben mir

diese wiederholt bestätigt, daß bei einem Men­schen, der bewußt und willig mir kühner Stirne in Worten oder Handlungen lügt, man immer die Möglichkeit natürlich annehmen darf, daß er auch jeden andern Verbrechens fähig ist. Der Lügner kann alle Zeit zum Mörder werden.

Alles drängte zu der Annahme, daß die junge Dame vermutlich Fräulein Simpkin­son von dem seltsamen Inhalt ihres Koffers Kenntnis hatte, und das war an sich schon merkwürdig genug. Auf Grund Dieser Voraus­setzung erschien alles Weitere glaublich.

Und trotzdem gelangte ich nicht zu der in­neren Ueberzeugung, daß Fräulein Simpkin- son tatsächlich die Mörderin sei. Zum guten Fahnder gehören unfehlbar Ahnungsvermögen und Instinkt nur daß beides in richtiger Weise beherrscht und geleitet werden muß, da sitzt der Haken! Ich hatte unumstößlich das Gefühl, daß Fräulein Simpkinson wohl zu der Tat in Beziehung stehen müsse, sie aber nicht persönlich vollzogen haben könne. Wel­cher Art dieser Zusammenhang war, mußte die Zeit lehren.

Das ganze Geheimnis, so wird ein jeder sagen, ging mich nichts an, und ich gebe das unbedingt zu. Ich hatte kein Recht, danach zu fragen, und sehr wenig Gelegenheit, darin einzudringen, aber trotzdem fühlte ich mich in unerklärlicher Weise dazu hingezogeu und konnte mich von der Erinnerung an den Auftritt im Zollamt nicht losreißen. Aus allen Schaufen­stern schien das schmale, alte Gesicht mit den starren Augen mir entgegenzublicken wer war es, der die arme alte Fran getötet hatte, und weshalb hatte er es getan? Ob ich wollte oder nicht, ich mußte mich mit der Sache beschäftigen, so viel empfaud ich klar.

Viertes Kapitel.

Die beiden Düberts.

Ich sagte, daß ich nur sehr wenig Gelegen­heit hatte, der Sache nachzuspüren, in Wirk­lichkeit bot sich mir dazu überhaupt nur ein Weg, und auch dieser nur, wenn der Zufall mir günstig sein wollte.

Vor einigen Monaten war ich in meiner geschäftlichen Tätigkeit mit einem Pariser Poli­zeikommissär in Berührung gekommen. Meine Auftraggeber teilten mir stets die Arbeit auf dem Kontinent zu, weil ich in meiner Jugend gründlich französisch gelernt hatte. Und so war ich in Sachen eines Vertrauensbruchs nach Paris geschickt worden, hatte ich dort mit einem französischen Polizisten, einem Herrn Dübert, zu tun gehabt und war im Verlauf der Dinge in die Lage gekommen, ihm einen unbedeutenden Dienst zu leisten. Serther hatte ich ihn nicht wiedergesehen, beschloß aber nun, ihn aufzusuchen; möglich war es ja, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, daß er mir in diesem Fall von Nutzen sein konnte.

Ich fand ihn in seinem kleinen Büreau in der Nähe des Pantheons, das zu seinem Distrikt gehörte. Er war offenbar hocherfreut, mich zu sehen, nnd gab diesem Gefühl einen für englischen Geschmack etwas zu wortreichen Ausdruck. Von dem Vorfall am Nordbahn­hof wußte er noch nichts, und ich sagte ihm offen, daß mir viel daran liege, die Sache zn vexfolgen, setzte auch hinzu, daß die französische Regierung möglicherweise aus meiner zufälligen Anwesenheit in Paris Nutzen ziehen könnte.

Und nim war mir das Glück günstig, oder vielleicht ist das etwas zu viel gesagt, denn in dem Umstand, daß Herr Dübert, obwohl er selbst gänzlich außerhalb der Sache stand, doch genau wußte, lag ja nichts Auffallende?. Der Zufall wollte nur, daß der Polizeikom­missär, in dessen Bezirk der Fall gehörte, ein Verwandter von ihm war, ich weiß übrigens nicht, ob dieser wirklich für mich von großer Bedeutung gewesen. Ob er sein Druder oder sein Vetter war, habe ich vergessen, ich glaube.

er war ein Vetter, jedenfalls führten sie den­selben Namen. Mein Herr Dübert hieß Löon, und der Kommissär des Bahnhofbezirks Francois.

Sofort erbot sich mein Freund, mich zu dem Vetter hin zu führen angenommen, daß es ein Vetter war nur hatte er noch eine halbe Stunde Dienst. Ich mußte also während der Zeit meine Ungeduld bezähmen, so gut es gehen wollte, und es blieb mir unbenommen, mich über die zahllosen kleinen Förmlichkeiten und die übertriebene Pünktlichkeit des französischen Polizeidienstes zu belustigen. Dabei haben sie übrigens treffliche Polizisten, besonders unter den Schutzleuten und im servieo cko 8ürots.

Die halbe Stunde ging zu Ende und Herr Dübert verschloß sein Pult. Wir nahmen eine Droschke und fuhren nach dem weit entfernten Norden der Stadt, wo wir Herrn Francois in einem ähnlichen kleinen Büreau antrafen.

Er wußte um die Entdeckung, und zwar genau! Den ganzen Abend hatte er von inchts andrem gehört, nichts andrem gesprochen, (an nichts andres gedacht. Er war ein äußerst prächtiger, erregbarer kleiner Mann, just nicht das Holz, aus dem man Polizeibeamte schnitzt, sollte ich denken, aber man irrt sich in solchen Dingen manchmal gründlich.

Bei diesem Anlaß mag er wohl aucb auf­geregter gewesen sein als sonst, denn die Be­deutung und Schwierigkeit des zur Hälfte im Ausland spielenden Falls war groß. Selbst­verständlich sprach er nur französisch in Frankreich wie in England sind die Beamten selten einer fremden Sprache mächtig und da die in Haft genommenen Damen Aus­länderinnen waren, der in Frage stehende Koffer vom Ausland kam, war die ganze Untersuchung erschwert. Sein Dolmetscher hatte sich, wie er mir klagte, ganz unfähig erwiesen, und er war daher umsomehr geneigt, nach dem Beistand zu greifen, den ich ihm leisten konnte. Es zeigte sich aber bald, daß ich weniger vermochte, als ich gehofft hatte.

Er sing damit an, uns genau zu berichten, wie die Dinge im Augenblick standen. Die ältere Dame hatte allem Anschein nach ihr klares Bewußtsein noch nicht wieder erlangt, sie redete irr und war auf Anraten des beim Polizeiamt angestellten Arztes ins Krankenhaus gebracht worden. Nach Ansicht des Kommissärs war sie jedenfalls nicht tief in die Angelegenheit verwickelt.

Mit der jungen Dame und ihrer Jungfer hatte man ein vorläufiges Verhör angestellt. Die Dienerin wußte offenbar von der ganzen Sache nichts, das Fräulein wußte offenbar vieles.

Die Jungfer war nicht einmal im stand gewesen, die Persönlichkeit der Verstorbenen festzustellen, denn sie versicherte nachdrücklich, daß sie die Dame nie im Leben gesehen habe. Trotzdem verschaffte uns ihre Aussage über zwei Punkte Klarheit.

Erstens: Die Verstorbene hatte sich in der Zeit unmittelbar vor dem Mord nicht in Ge­sellschaft von Frau Simpkinson und ihrer Tochter befunden, sonst würde die Jungfer sie gekannt haben.

Zweitens: Der schwarze Koffer war wirklich Fräulein Simpkinsons Eigentum; das Mädchen hatte ihn als solches wiedererkannt.

Das Verhör der jungen Dame selbst war natürlich ungleich interessanter gewesen, und Herr Francois Dübert gab mir in zuvor­kommendster Weise das Protokoll zu lesen. Ob das gerade vorschriftsmäßig war, lasse ich un- erörtert, der Mann war nun eben einmal erfreut, auf meine Hilfe rechnen zu dürfen.

Das Verhalten des Fräulein Simpkinson war entschieden auffällig und schloß jede Mög­lichkeit ihrer gänzlichen Unschuld aus. Die eine Hälfte der an sie gerichteten Fragen hatte sie beantwortet, bei der andern Hälfte hatte sie