und alles ging gut von statten. Gegen Mittag war ohne alle Hindernisse die Arbeit schon bis zu 120 Ctm. Höhe gediehen. Da, um Uhr als eben an den Hebemaschinen die letzten Drehungen gemacht wurden, stürzte das ganze große 2stockige Gebäude, das erst anfangs der 50er Jahre des 19. Jahrh., nachdem der alte Bau abgebrannt war, neu errichtet worden ist. in sich zusammen. Neuerdings heißt es, daß sich in dem Gasthof insgesamt 200 Personen, nämlich 130 Gäste und 70 Arbeiter befanden, welch letztere teils Mitglieder des Liederkranzes und des Turnvereins waren und an den Winden arbeiteten. In dem Augenblick, als dir Einsturz erfolgte, herrschte wie iw Laufe des Vormittags in den Wirtschaftsräumen voller Betrieb. Gerade als Mitglieder des Gesangvereins ein Lied ««stimmen wollten, bemerkte man beim Hebungsgeschäft einen kleinen Riß, worauf sofort das Kommando Halt! ertönte. Allein es war zu spät, in demselben Augenblick stürzte das Haus in sich zusammen und begrub alle die fröhlichen Gäste unter seinen Trümmern. Die Ursache des Einsturzes ist »och nicht geklärt. Nach den einen hat das Kellergewölbe nachgegeben, nach Ansicht anderer war das Haus innen morsch und wurden von den Nichtfachleuten die Winden ungleichmäßig gehandhabt, eine weitere Ansicht geht dahin, daß der Zusammenbruch erfolgte, weil das Haus an der ans Nachbargebäude angebauten Seite bei der Hebung Widerstand fand. Die Techniker werden das entscheiden. Mit einem Mißerfolg muß die Unternehmung einer solchen Hebung stets rechnen, selbst wen» sie nüchtern und umsichtig vorgeht und statt Freiwilligen Fachleute zur Arbeit verwendet. Aber so umfangreich wie hier durften die Menschenverlnste nicht werden. Auf keinen Fall dürfte während derartiger Hebungsarbeiten ein Haus bewohnt, geschweige überfüllt sein. Es heißt das Schicksal herausfordern, wenn während der gefährlichen Arbeit die Leute im Uebermut und Leichtsinn sich unter das gefährdete Dach setzen. Wenn noch extra zu solchen Anlässen eingela- den wird, sei cs um Geld zu verdienen oder aus sonstigen Gründen, so ist das unverzeihlich. Daran wird auch nichts geändert durch die Erzählung, daß im vorigen Jahr im benachbarten Altensteig cs bei der Hebung des Gasthauses zum grünen Baum, dessen Besitzer übrigens heute ebenfalls verunglückt ist und dem beide Beine abgeschlagen wurden, noch viel lebhafter zuging; es wurde damals sogar getanzt, ohne daß das Geringste geschah.
Die Verletzungen Einzelner waren schrecklich, einer Leiche fehlte der Kopf, andern die Gliedmaßen. Dagegen fand man wieder zwei Dienstmädchen wenig verletzt am Herd. Sie waren anscheinend erstickt. Es gab wohl ebensoviel Erstickte als Erschlagene. Alle Toten und die meisten Verletzten waren zuerst unkenntlich vor Schutt und Staub. Die Feuerwehren von Nagold (u. später von Haiterbach) arbeiteten mit Bravour trotz des erstickenden Kalkstaubcs; wäre aber nicht beim Herausziehen von Balken immer wieder Staub und Schutt auf die unten Begrabenen herabgesunken, oder wären Pioniere zur Stelle gewe- sen, man hätte vielleicht noch Menschen retten können. Noch bis 4 und 5 Uhr hörte man die Sterbenden unten nach Wasser stöhnen.
— Se. Maj. der König sandte folgendes Beileidstelegramm an Stadlschultheiß Brodbeck: Seine königliche Majestät sind tief erschüttert durch die Nachricht von dem schweren Unglück, welches die Bürgerschaft der Stadt Nagold betroffen hat und lassen Ihnen auftragen, dieser Allerhöchst Ihre wärmste und aufrichtigste Teilnahme kundzugeben. Kabinettschef Griesin. ger.
— An das K. Oberami: Se. Majestät der König empfindet die aufrichtigste und schmerz- lichfte Teilnahme an dem schweren Unglück der Stadt. KabinelSchef Griesinger. ^
Se. Exzellenz Herr Slaatsminister Dr. v. Pischek: Tief erschüttert durch das furchtbare Unglück, bitte ich Sie, der Stadt, den Hinterbliebenen, den Verletzten meine innigste Herz- lichste Teilnahme auszusprechen und ehebaldigst zu berichten, wie und wo ich helfen kann.
— Se. Exzellenz Staatsminister v. Pischek
kam gestern abend 9 Uhr 39 Min. hier an und begab sich nach Empfang durch die Spitzen der staatlichen und städtischen Behörden sofort auf das Rathaus und nahm Einsicht von der To- tenliste. Der Herr Minister sprach im Namen der Regierung sein tiefstes Beileid über das Unglück aus, das er als das schwerste und schrecklichste in Württemberg, das je vorkai», be- zeichnete. Er sicherte die Unterstützung der Regierung zu und gab Ratschläge. Se. Exzellenz besichtigte hierauf eingehend das Trümmerfeld.
Von wunderbaren Rettungen ist zu berichten: Zahntechniker Holzinger hörte unten im Erd- geschoß plötzlich einen scharfen Krach und augenblicklich war er mit 8 anderen verschüttet. Das Kellergewölbe hielt die Balken von ihm ab, nach Verziehen des Staubes drang Lichtschimmer durch und nach 10 qualvollen Minuten, umgeben vom entsetzlichen Jammern und Stöhnen fanden sie noch einen Ausschlupf. — Spinnereibesitzer Rentschler saß beim Ofen im Wirtschaftszimmer, Lammwirt Widmaier neben ihm. Plötzlich verschwand vor ihm alles in die Tiefe und dann sah er nichts mehr, hörte aber schreien: „Ich verbrenne." — Lammwirt Widmaier lag auf dem Ofen!! Er wurde nachher tot gefunden — mit verkohltem Rücken! Herr Rentschler bekam bald darauf frische Luft und konnte sich unverletzt herausarbeitcn.
Eine amtliche Kommission, an der Beamte des Ministeriums des Innern, der Kreisregierung und der Staatsanwaltschaft teilnahmen, untersuchte auf den Trümmern des Hauses die Ursache des Unglücks. Der allgemeine Eindruck ist der, daß von der Bauleitung mit unverantwortlichem Leichtsinn vorgegangen worden sei, insofern sie das Haus nicht nur nicht nach außen absperren ließ, sondern eigens noch zahlreiche Personen hineinlud. Es war wohl ein Verbot gegen das Betreten des Bauplatzes an den Gerüsten angebracht, aber tatsächlich wurde es von Niemandem beachtet, auch nicht von dem die Bauführung leitenden Unternehmer. Auch den Aufsichtsbehörden werden von der Bevölkerung schwere Vorwürfe gemacht. Minister von Pischek, der heute früh wieder nach Stuttgart zurückgekehrt ist, sprach den An- gehörigen das Beileid der Regierung aus, drückte aber im Gespräch sein Erstaunen über den ungeheuren Leichtsinn aus, mit dem bei der Ausführung des Baues vorgegangen worden war. — lieber die Ursache des Unglücks hört man noch verschiedene Mutmaßungen. Et wird auch schwer fallen, die Ursache überhaupt festzustellen. Das Gebäude wurde lm Jahr 1862 erbaut, litt bei Bränden vielfach durch Wasser und wurde öfters i-n Innern umgebcut; es ist also leicht möglich, daß die eingebauten Teile keine starke Verbindung mehr unter sich hatten. Der Unternehmer äußerte sich über die Ursache dahin, er könne sich den Einsturz nicht erklären, es sei nur anzunehmen, daß der obere Stock eine zu starke Belastung gehabt und dadurch eine Verschiebung veranlaßt habe. — Groß ist der Jammer der vielen Familien und es eröffnet sich hier für die Nächstenliebe ein großes Feld der Tätigkeit.
— Außer den bereits Gemeldeten wurden getötet: Gottlieb Drescher, Maurer, ledig, (Bodelshausen) Andreas Kann, Lehrling von Nagold, Adam Rentschler, Taglöhncr, von Nagold. Wilhelm Zimmermann, Schlosser, ledig, von Nagold. Martin Weitbrecht, Maurermeister, Emmingen, Ferdinand Bulmer, Maurer, Emmingen. Johannes Bachofer, Maurer, Plattenhardt. Johs. Kalmbach, Maurer, Mindersbach. Dorothea Ohngemach, 19 I., Gültlingen. Christian Volz, ledig, Mindersbach. Johs. Roller, Kettenmacherslehrling, von Mindersbach. Gottfried Roth, Schreiner, Ebhausen. Ohngemach, Maurerlehrling, Gültlingen. Walz, Zimmermann, Oberschwandorf. Georg Niethammer, Totengräber, von Unterjettingen. Hans Roller, Flaschner, Bondorf. Jakob Wegenast. Bauer, Nellingsheim. Jakob Sting, Oeschelbronn. Michael Egeler, Zimmermeister, Oeschelbronn. Jakob Weippert, Oberjettingen. Jakob Leber, Kaufmann und Wirt, Calw. Josef Zugermaier, Zimmermann, Stuttgart-Gaisburg. Julius Hil- senbeck, Zimmermann, ledig, Stuttgart. Diese
beide letzteren sind Arbeiter RückgauerS. Infolge Verletzungen gestorben: Gottlob Brezing, Mechaniker, Nagold. Monanni, Bäcker, Nagold. Andreas Nesch, Maurer, Vollmaringen, Alexander Nesch, Maurermeister, Vollmaringen,
Nach amtlicher Feststellung beträgt die Zahl der Getöteten 50, die der Schwerverwundeten 40. Von letzteren schweben mehrere in Lebensgefahr. Die Frau des Pfarrers Riedinger, deren Zustand allerdings sehr ernst ist, befindet sich noch am Leben. Die Beerdigung der Opfer findet Samstag Nachmittag 5 Uhr statt. - Die Zentralleitung des Wohl- tätrgkeitsvereins wird zur Sammlung von Gaben für die bedürftigen Hinte.bliebenen der Verunglückten einen Aufruf erlassen.
— Die Ursache des Unglücks war nach dem „Schw. B." eine grenzenlose Gleichgültigkeit. In erster Linie war von einer Absperrung des Platzes absolut nichts bemerkbar. Ferner hätte der Betrieb ver Wirtschaft während des Hebens eingestellt werden sollen, denn durch die große Menschenmenge (ca. 150 -200 Personen) wurde bas Gebäude ungleich stark belastet. Sodann war die Absprießung des ganzen Gebäudes durchaus ungenügend. Die Sprieße weiche die seitliche Verschiebung verhüten sollten, waren durchaus zu kurz. Dieselben reichten nur noch 40 bis 50 Ctm. an dem gehobenen Gebäudeteil herauf. Infolge des großen Menschenau- drangs in den WirtschafiZlokalitäten, sowie infolge ungleicher Hebung konnte daher das Gebäude in südwestlicher Richtung schieben und stürzte zusammen. Gegen Rückgauer macht sich eine sehr erregte Stimmung geltend. Er ist nach dem Unfall in seinem Automobil abgefahren, ohne Angabe seines Reiseziels. (Es heißt, er sei in die Schweiz geflüchtet.)
Unterhaltendes.
„Herz und Ehre"
Erzählung von Arthur Zapp.
LS) (Nachdruck verboten.)
Sie bewegte verneinend ihr Haupt.
„Nein. Papa ist schon vor mehr als drei Jahren gestorben."
„Und nun tragen Sie immernoch Trauer?" hatte sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängen wollen. Aber er unterdrückte noch rechtzeitig diese Aeußerung, um nicht schmerzliche Erinnerung in ihr wachzurufen.
„Sie leben ziemlich einfach?" fragte er weiter, von seinem Interesse für die beiden Damen geleitet, deren Gastfreundschaft er seit Wochen genoß.
„Ja. Wir leben ganz für uns," entgegnete sie, wie es ihm schien mit einem Anflug von Melancholie und Bitterkeit. „Mama liebte Verkehr nicht."
„Ja, diesen Eindruck habe ich von allem Anfang an gehabt," gestand er. „Ihre Mama hat gewiß schlimme Erfahrungen gemacht und großen Kummer gehabt?"
Sie antwortete nicht. Er sah, wie sie errötete und dann plötzlich jäh erblaßte. Sie wandte den Blick von ihm ab und eine peinliche Empfindung spiegelte sich in ihren zuckenden Mienen. Augenscheinlich war seine Bemerkung die Ursache, daß nun eine heftige Gemütsbewegung über sie kam.
„Verzeihung," sagte er erschrocken. „Ich sehe, daß ich indiskret gewesen, daß ich Sie verletzt habe. Es war nicht meine Absicht und ich be- daure es herzlich. Verzeihen Sie mir."
Sie konnte ihre Fassung noch nicht wieder gewinnen. Mit allen Anzeichen peinlicher Befangenheit erhob sie sich. Aber bevor sie ging, reichte sie ihm ihre Haud. Augenscheinlich war sie zu bewegt, um zu sprechen; ihr Händedruck sollte ihm wohl sagen, daß sie ihm nicht zürne.
Erstaunt, erschrocken und in tiefstem Grade unzufrieden mit sich, starrte er ihr nach. Was hatte sie? Hatte er an irgend einer Saite in ihrem Innern gerührt, die nun schmerzlich ni- brierte? Was war es? Warum diese klösterliche Abgeschiedenheit, in der die beiden Frauen tro- ten? Warum hatte Frau Schräder sich und ihre jugendfrijche Tochter, die ja doch gewiß mit allen Sinnen der neugierigen, weltfrohen