Alles strömt zu den Friedhöfen, um die Toten zu ehren! Im Katholischen Friedhofe drängen sich die Massen, und be- sonders ein Grab, das mit einem einfachen Holzkreuze und schön mit Blumen verziert ist, ist das Ziel Hunderter, sa Tausender von Menschen, besonders weiblichen Ge schlechts. Wer ruht unter diesem unscheinbaren Hügel? Gewiß ein unvergessener Wohlthäter all' der Grabbesucher, ein Manu des Volkes, der sein ganzes Leben, Hab und Gut dem Gemeinwohl geopfert hat? Nichts von alledem! Der Kneißl ruht hier, der bekannte und auch schon iu hundert Romanheften ä, lO Pfennige „verewigte" Raubmörder Matthias Kneißl ist es. Sorge um das Seelenheil Kneiß'ls ist es sicher nicht, die Männlein und Weiblein, Alt und Jung zu dem Grabe zieht, denn die wenigsten sehen wir beten. Diele sehen in dem Raubmörder einen Helden, der unschuldig unter dem Fallbeil endete, die es nicht als Mord betrachten, wenn er zwei Gendarmen tötete, die ihn verhaften wollten. Wären sie weggeblieben! Solche und ähnliche Redensarten waren au diesem Grabe keine Seltenheit.
Frankfurt, 6. Nov. Um den Unbequemlichkeiten und Scherereien beim Empfang von Geldsendungen im Auslände abzuhelfen, hat der holländische Reichsversicherungsbeamte I. D. Mertens in Amsterdam einen sehr praktischen Vorschlag gemacht, der dahin geht: Wer im Ausland reisen will, zahlt an der Poststelle die Summe ein, die er nötig zu haben glaubt und erhält dafür ein Carnet oder Scheckbuch, auf dessen Vorzeigung er bei jeder Poststelle des Auslands Geld erheben kann. Herr Mertens hat seinen Vorschlag bereits dem Weltpostverein unterbreitet und glaubt auf einen Erfolg hoffen zu dürfen.
Berlin, 8. Nov. Wie den Leipz. Neuest. Nachr. von hier gemeldet wird, erschien gestern Nachmittag Dr. Peters im Reichstage, um den Abgeordneten Bebel persönlich aufzufordern, ihm seinen Gewährsmann in Sachen des Tucker- Briefes zu nennen, Bebel weigerte sich aber. Er gebe ja zu, daß er dupirt worden sei, aber er habe sein Wort gegeben, den Namen nicht zu nennen. Im klebrigen habe ja Peters einen bestimmten Verdacht geäußert und vor Gericht würde er ja unter Eid aussagen müssen.
Rom, 8. Nov. Graf Goetzen, der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika erklärte einem Redakteur der „Italic": In Deutsch- Ostafrika seien vor Kurzem Goldminen von unerhörtem Reichtum gesunden worden. Die Mienen seien noch weit reicher als die von Johannesburg. Die letzten Depeschen darüber küngen wahrhaft phantastisch. Selbst der größte Optimismus sei gerechtfertigt.(Berl. Tgbl)
WnLerHrEenöes.
Muttrp Rosin.
Von
Hermine Villinger.
(Schluß.) (Nachdruck verboten.)
„Nur abwarten", sagte die alte Frau, „man lernt alles verstehen, wenn man aufmerkt" — und Lili bei der Hand nehmend, führte sie sie hinaus in den Garten.
„Da Hab' ich einen Rosenstock in voller Blüte; ist's nicht ein Staat und eine Freud', in anzusehen? Was er mir wert ist, ich kann's gar nicht sagen; aber eine, zwei verkommene Blüten hat er doch auch, eine Knospe, die verfault ist, eine, die der Wurm angefressen hat. Ja, glauben Sie denn, daß mir deshalb der Stock weniger lieb ist? Und gerat»' so, denk' ich, ist's mit den Menschen; wir sind auch nichts andres als Gewächse, deuen's da und dort fehlt. Aber danach fragt die Lieb' nicht, denn, sagt der Apostel Paulus, sie erträgt und übersteht alles
„Das war ein gutes Wort,,, rief Lili aus, eines, das ich nie vergessen werde, Mutter Rosin —"
„Nur's Lachen müssen Sie mir noch lernen", meinte die alte Frau, „es thut einem weh, so ein junges, ernstes Gesicht —"
„Es kommt vielleicht noch", beruhigte sie Lili, „denn von Natur bin ich eigentlich heiter, es sind mir nur die Augen über so vieles zu früh aufgegangen. So hatte ich mir's zur Aufgabe gemacht, immer rückhaltlos wahr zu sein, nie in meinem Leben etwas zu verheimlichen. Und nun mußte ich erfahren, daß der Vater, den die kleinste Unredlichkeit empört, der immerfort das Wort Wahrheit im Munde führt, nichts weniger als die Wahrheit ertragen kann. Wird aber dadurch die That meiner Mutter nicht um vieles entschuldbarer, denn ist es unter solchen Verhältnissen nicht begreiflich, daß eine schwache Natur aufs Verheimlichen verfällt?"
„Natürlich", erwiderte Mutter Rosin, „wer gleich zuschlägt, muß sich darauf gefaßt machen, daß man ihm nicht mit dem Gesicht entgegenkommt; wenn's regnet, spannt man den Regenschirm auf. sagt der Apostel Paulns. Aber da hat der Steffel geschrieben, jetzt ist er in Amerika mit seinem Fabrikherrn, und überall ifl seine Erfindung gut ausgenommen worden; kommt er zurück, soll er als Werkführer in die Fabrik seines Brotherrn einlreten. Daß er so trocken und kurz schreibt, das meint er im Innern ganz anders. Wenu er nur einmal eine Frau kriegt, die ihn versteht, auch wenn er schweigt. Besser, gut gehenkt, als schlecht verheiratet, sagt der Apostel Paulus; wie man fich's aber einbrockt, so muß man's auseffen; meine einzige Sorg' war nur, daß der Steffel nichts von der rohen Art seines Vaters merkt; einmal ist's aber doch passiert, daß er dazu gekommen, wie mich der Mann mißhandelt hat. ,Vater, Vater/ hat er geschrieen, ,laß die Mutter gehen, bring' mich um —*
„Und so verzweifelt hat er sich angestellt, daß ich. ihn ein paar Rächt' im Bett Hab' halten müssen, so plagte ihn das Phantasieren. Da Hab' ich's erfahren, was für ein goldnes Herz der Bub' hat und wie er an mir hängt. Drum kann's mich auch nicht anfechten, daß er nur wenig' Worte macht, oder zuweilen unfreundlich und grob thut. Er schämt sich, daß rr weich ist, und ich thu' als merk' ich's nicht. Da meint er nun, ich solle zu ihm in die Stadt ziehen und ihm den Haushalt führen — ich simple Frau, die nie einen Hut auf dem Kops gehabt! Ich hoff' zu Gott, er kriegt die Frau, an die
er sein Herz gehängt, denn der Steffel, das ist keiner, der heut' nach einer Blonden schaut, und morgen nach einer Schwarzen, das können Sie mir glauben, Fräulein Lili —"
Diese kam immer in große Verlegenheit, wenn Mutter Rosin von ihrem Sohn anfing; die Augen der alten Frau schienen dann gleichsam die Seele des jungen Mädchens durchbohren zu wollen, daß es sich am liebsten in den Erdboden verkrochen hätte.
„Da schauen sie einmal her", fuhr Mutter Rosin ohne alle Barmherzigkeit zu sprechen fort, indem sie Lili eine Photographie des Sohnes in die Hand legte, „was für ein stattlicher Herr er geworden ist! Groß und breitschulterig, mit dunklem Vollbart — ein Fabrikbub, der er war —"
„Nur die Augen sind noch die gleichen", bemerkte Lili, über das Bild gebeugt, „Ihre Augen, Mutter Rosin —"
Von draußen ließen sich Tritte auf dem Kiesweg des Gärtchens vernehmen. Im nächsten Augenblick flog die Thür auf, und derselbe Mensch wie auf dem Bilde, groß, breitschultrig, mit dunklem Vollbart und einem Paar leuchtenden blauen Augen, stand auf der Schwelle. Er wollte etwas sagen, brachte es aber nicht za stände, — konnte nur die heftig zitternden Hände nach der Mutter ausstrecken. Diese nahm sich mit aller Gewalt zusammen: „Du bist ein wenig lang fortgeblieben", meinte sie in leise bebendem Tone, „säumige Kinder gehören gescholten, sagt der Apostel Paulus."
Aus Steffels Kehle rang sich etwas, das ebenso gut für ein Schluchzen, als für ein Lachen gelten könnte. Plötzlich blickte er in die Höhe: aus dem Halbdunkel der Küche tauchte ein blasses, feines Antlitz auf, ein paar rasche Schritte ließen sich hören, dann öffnete sich die Thür und ward wieder geschlossen.
„Es ist Lili", sagte Mutter Rosin.
„O", rief Steffel aus, „sie soll nicht gehen —"
Er war schon draußen, sah niemand, blickte rechts, blickte links — ja dort, dort im Dunkeln stand eine Gestalt an einen Baumstamm gelehnt und weinte. Er war an ihrer Seite: „Warum weinen Sie?"
Sie schrack zusammen: „Ich — nein, nein, es ist nichts — ich habe nur zum erstenmal — was man Glück nennt — gesehen —"
Er nahm ihren Arm und führte sie auf die mondbeschienene Landstraße.
„Ich weiß nicht, ist es die Nacht, die mir Mut gibt, sind es Ihre Thronen, aber ich fühl's, dies ist der Augenblick, der mir gegeben ist, und ich darf ihn mir nicht entgehen lassen; morgen schon bin ich vielleicht stumm und ungeschickt, nicht im stände, das rechte Wort zu finden. Lili, mir ist, als gehörten wir zusammen; seit Ihre Hand in der meinen gelegen, halt' ich keine andre Sehnsucht mehr, als sie mir zu verdienen. Die Mutter schrieb in jedem Brief von Ihnen, daß mir ist, als kenne ich Sie genau. Sie freilich kennen mich uicht, und die Hand, die ich Ihnen biete, ist hart und derb, eine Arbeiterhand - vielleicht aber — "
„Wer bin ich denn, daß Sie so zu mir sprechen", unterbrach ihn Lili,