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würden in London nichts unternehmen, um nicht aus ihrem einzigen Asyl vertrieben zu werden, aber da die Herren alle Vorschriften, einschließlich der Vernunft zurückweisen, liegt in solchem Ausspruch eines Einzelnen wenig Tröstliches.
Philadelphia Ein Brand brach am 27. April im Grand-Zentraltheater in Philadelphia kurz vor Beginn der Vorstellung uus. Die Darsteller und das Publikum wurden von Panik ergriffen und stürzten nach den Ausgängen. Einer bahnte sich den Weg mit dem Taschenmesser, die vor rhm stehenden nicderstechend. Sechs Schauspieler sollen tot, gegen 70 Männer und Knaben verletzt sein, darunter viele schwer. Mehrere find infolge der erhaltenen Brandwunden erblindet. Die benachbarten Bureau der „Times" sind mit abgebrannt. Der Schaden wird auf eine Million Dollars geschätzt.
— Nachrichten aus Argentinien zufolge, sind die ,m Vorjahr von Baron Hirsch gegründeten Juden-Kolonien in Auflösung begriffen. Es heißt, die russisch-jüdischen Ansiedler seien nicht zu disziplinieren gewesen, und man giebt die Schuld dem häufigen Wechsel in der Direktion. Die bedeutendste der 3 Kolonien, die Mauricio heiß!, soll der Schauplatz ernster Unruhen gewesen sein. Die Kolonisten, für deren Unterbringung nicht genügend gesorgt werden konnte, äußerten ihren Mißmut in stürmischen Szenen. Der Lokalverwalter war endlich gezwungen, die Hilfe der argentinischen Polizei in Anspruch nehmen zu müssen. Diese wirtschaftete arg unter den Meuterern, tötete und verwundete mehrere. Auch die anderen 2 Kolonien befinden sich in übler Lage. Hirsch soll hiedurch selber in seinem Vertrauen auf die Ausführbarkeit des Planes erschüttert sein. Sein Vollmachthaber, der englische Oberst Goldshmid, erhielt den Auftrag, die Judcnkolonien zu schließen und sämtliche Ansiedler, insgesamt 2000 Personen, nach einem Hafen der Ver. Staaten von Nordamerika zu befördern.
Lnkrhalkndkr.
Dolorosa.
Roman v. A. Wilson. Deutsch v. A Geisel.
(Fortsetzung.)
(Nachdruck verboten)
Unter den Billets, welche heute im Laufe des Vormittags eingelaufen waren und welche samt und sonders ein und dasselbe Thema behandelten — die Bitte, sich der Künstlerin vorstellen und die Schreiber persönlich ihre Bewunderung aussprechen zu lassen, schien eines die Blicke der Schauspielerin mit magnetischer Gewalt zu fesseln. Immer wieder suchten Olivia Orme's Augen das rosenfarbige Papier, welches nur wenige Zeilen in fester, markiger Schrift und die Unterschrift „Jules Duval" zeigte. Ach, nur zu gut kannte die Künstlerin die Schrift, sie wußte, daß der Mann, der sich „Jules Duval" nannte, Robert Douglas hieß, und einem raschen Impulse folgend, öffnete sie ein Fach des Schreibtisches und entnahm demselben einige dünne Briefe. Die Schrift war verblaßt; die Aufschrift der Briefumschläge trug die Bezeichnung „Fräulein Minnie Merle" und als die Künstlerin jetzt das rosenfarbige Billet neben die vergilbten Briefe legte, blieb kein Zweifel, — di? Worte „Minnie Merle" und „Jules Dnval"waren von einer und derselben Hand geschrieben.
„Unwahr — sein Charakter bleibt sich
immer gleich," murmelte die Dame bitter vor sich hin; „zu feige, unter eigenem Namen eine Zusammenkunft zu erbitten, welche seine gestrenge, gewöhnlich aussehende Gemahlin kaum gutheißen dürfte, versucht er sein Heil als „Jules Duval." So wenig als er sich vor Jahren ein Gewissen daraus machte, Minnie Merle zu verstoßen, um die Tochter eines reichen Bankiers heiraten zu können, würde er sich heute besinnen, das Weib, dessen er längst überdrüssig ist, abzuschütteln und eine Dritte, die vielleicht jünger und hübscher ist, an sein falsches Herz zu drücken, aber sie hält ihn fest! Feiger, elender Verräter!"
Jetzt ward leise an die Thür gepocht und auf Frau Orme's „Herein" erschien Frau Walter mit einer Karte in der Hand.
„Der Kellner hat soeben diese Karte gebracht — soll der Herr eintrete»?"
Gleichgültig griff die Künstlerin „ach der Karte, kaum indes hatte sie einen Blick aui dieselbe geworfen, als sie bestürzt aufsprang und in zitternder Erregung rief:
„Nein — nein — um keinen Preis — der Diener soll jagen, Madame Orme be- daure, den Besuch nicht annehmen zu könne» I"
Erschrocken blickte die Kammersrau auf die Gebieterin, deren Gesicht plötzlich wie in eine dunkle Glur getaucht erschien, um im nächsten Moment wieder schneebleich zu werden; als indes Frau Walter der Thüre zuschritt, besann sich die Herrin eines Andern und unsicher flog es von ihren bebenden Lippen:
„Frau Walter — warten sie noch einen Augenblick — ich — ick will —"
„Auf die Gefahr hin, launisch zu erscheinen, widerrufe ich meine erste Entscheidung. Der Diener soll den Herrn nach etwa fünf Minuten eintreten lasten; sobald Sie ihm diesen Auftrag erteilt, Anna, kommen Sie wieder und nehmen Sie den Platz dorr neben dem K'Min am unteren Ende des Salons ein — ich habe meine Gründe dabei. Sie in meiner Nähe zu wissen. Aber halt
— lassen Sie erst noch die Gardinen herab
— ich sehe gar zu bleich aus und der rosige Schimmer kann meiner Erscheinung mir vorteilhast sein."
„Frau Walter erfüllte das Begehren der Herrin; wa rend sie die rotseidenen Vorhänge herabließ, sagte Madame Orme gleichgültig:
„Ich war thöricht, mich so auszuregen, weil unser Gesandter mir schrieb, er sei verhindert zu kommen und sende einen Bekannten, der mir seine Entschuldigungen überbringen solle — es wird ein Pariser Stutzer sein, den er mir schickt."
Frau Walter entfernte sich jetzt, um den Diener anzuweiseu; sobald sich die Künstlerin allein sah, rang sie die Hände und murmelte zwifchen den festgeschlosseiiF» Zähnen:
„In jedes Menschen Leben tritt früher oder später sein Gethsemane oder Golgaiha
— was zage ich denn — einmal muß es ja doch sei»! Gott gebe mir nur die Kraft, mich zu beherrschen — so, nun habe das Schicksal seinen Lauf!'
Sie sank matt in den Sessel und zog den blumengeschmückten Tisch gleichsam als Schutzwehr zu sich heran; als Frau Walter nach kurzer Frist zurückkehrte, saß Madame Orme anscheinend völlig gefaßt hinter der Blumenpyramide und während die Rechte nachlässig mit der Karte des Gesandten spielte, preßte sich die Linke, die das Medaillon mit Rcgina's Bild hielt, auf da^ wildpochende Herz.
Und jetzt klang draußen im Korridor ein elastischer Schritt, den die Künstlerin unter Hunderten heraus immer und überall erkannt hätte; wie oft in vergangenen Tagen hatte Minnie Merle, unter dem Fliedergebüsch versteckt, diesem Schritte gelauscht und wie selig war sie dann, wenn der Schritt vor der kleinen Gartenpforte Halt machte, in die Arme des Liebenden geflogen!
Jetzt öffnete der Diener die Thür, halb bewußtlos schloß Minnie Merle die Augen und dann raffte sie all' ihren Mut zusammen und begrüßte den Eintretens en. der mit ausgestreckter Hand auf sie zutrat, durch ein stolzes Neigen des königlichen Hauvtes, wobei sie sich erbob unv, senie Hanv ig»o- nerend, ihre Rechte auf die Tischplatte stützte. „Herr Douglas, wie mir ver Gesandte mitteilt," sagte sie mit fester Stimme; „der Gesandte schreibt mir, Sie seien unwr Beider Landsmann. Als solchen beg üße ich Sie, Herr Douglas; in der Fremde ist vie Bezeichnung „Landsmann" rin „Sesam öffne Dich" für Jeden, der sich dieser Empfehlung bedient. „Bitte, »eh,ne» S>e Platz — hier diese» Voltaireseffel kann ich Ihnen bestens empfehlen."
Mit unnachahmlicher Grazie wies die Künstlerin auf de» genannte» Sitz, worauf sie ihren eigene» wieder einuahm und die Anrede ihres Gastes erwartete. Kein Zug des schöne» Gesichis veiriet die seelische Erregung, in welcher sie sich befand, und die Stimme klang Hel! und klar wie Glockenton.
Robert Douglas war wie verzaubert; er hättte die Augen schließen und immerdar der Stimme, die ihm so seltsam bekannt dünkte, lauschen möge». Er begriff indes, daß er nicht länger stumm bleiben dürfe, wollte ^er. nicht seinen Ruf als vollendeter Weltmann einbüßen, und so raffte er sich auf und sprach seine Freude aus, die Künstlerin, die ib» doppelt stolz darauf mache, ein Sohn des freien Amerika zu sein, begrüßen zu dürfen. Habe ihm doch der gestrige Abend gezeigt, daß die Lorbeerkränze, die man einst der Rachel gewunden, nicht mit dieser ins Grab gesunken seien, und daß es eine Landsmännin gewesen, die die berühmte Französin überstrahlt, haben ihn mit stolzem Nationalgefühl erfüllt.
„Ah — demnach habe» Sie der gestrigen Vorstellung beigewohut?,, fragte die Schauspielerin , halb fragend und anscheinend überrascht.
Fast bestürzt blickte er sie an — sollte er sich geiäusckt haben — hatte sie ihn wirklich nicht bemerkt?"
„Ich hatte die Ehre, unfern Gesandten in seine Loge begleiten und Zeuge ihres herrlichen Spiels sein zu dürfen, gnädige Frau," sagte er halb verwirrt."
„Ah — wirklich? Ich hatte noch nicht das Vergnüge», unseren Gesandten persönlich kennen zu .lernen; ich erwarte ihn heute zur Erledigung einiger lästigen Formalitäten."
(Fortsetzung folgt.)
Bermisch 1 es.
— Eine sehr interessante Trauung fand dieser Tage in Berlin statt. Ein Chinese heiratete ein Berliner Mädchen. Die Trauung fand in der Kapelle auf dem Johannistische statt, nachdem der Bräutigam vorher schon zum Christentum übergetreten war. Mit dem alten Glauben hat er allerdings die alte Tracht nicht abgelegt. Er schritt zum Traualtar in blauen seidenen Beinkleidern, einem gelben Oberkleid und dem lang herabhängenden.