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Are KungersnoL in Ungarn.
20 OVO Mensch«» haben in Ungarn keinen Bissen Brod zu essen, so berichtete der Telegraph aus dem Komitate Arva. Das Arvaer Komitat liegt im Norden Ungarns und wird von Oesterreichisch-Schlesien und Galizien begrenzt. Es ist ein unwirtliches Gebirgsland, das sich von seinen 95 000 Einwohnern nur schwer die zum Leben notwendigen Mittel abzwingen läßt. Von Feldpflanzen gedeihen dort nur Hafer und Kartoffeln. Di« zur größeren Hälfte aus slovak- nischen Bauern bestehende Bevölkerung lebt Jahr aus, Jahr ein von Hafcrbrod und Kartoffeln; damit bescheidet sich dieser genügsame Menschenschlag sein Leben lang. Die letzte Ernte ist jedoch in.diesem ärmsten aller ungarischen Komitate mißraten. Es gab weder Hafer noch Kartoffeln; selbst das Kraut war diesmal nicht gediehen. Unv die armen Slo- vaken der Arva hatten ihre geringen Vorräte bald aufgezehrt. Ihr Vieh aber hatten sie bereits vor 2 Jahren, als sie es wegen Futtermangels nicht erhalten konnten, um wahre Spottpreise losgeschlagen. Bald pochte der Hunger, der grausamste Hunger, an die Thür dieser armen Leute. Geradezu ergreifend sind die Schilderungen, welche der „Magyar Hir- lap" von den Zuständen im Arvaer Komitat entwirft: „Schon nähren sich viele Personen von Holzrinde und Häcksel; in den meisten Gemeinden sterben täglich 4—5 Menschen, da außer Masern und Diphteritis auch Ruhr und Typhus grassieren. Der Preis des hauptsächlichsten Nahrungsmittels der Arvaer Bauern, der Kartoffeln, ist in den einzelnen Gemeinden um das Achtfache gestiegen. Am größten ist das Elend im Nameßtoer Bezirk, im Orte Olah-Dubova. Hier starben sieben Kinder Hungers. Eine Mutter verlor an einem Tage 3 Kinder. In Erdöka leben die meisten Einwohner davon, daß sie eine Hand voll Hafer oder Maismehl mit abgekochter Tannenrinde vermengen oder sie brühen Stroh ab und mischen in die Flüssigkeit etwas Mehl, oder sie zerschneiden die Tannenzapfen und kochen mit Mais gemengt, daraus ein Gemüse. In vielen Gemeinden des Komitats giebt es zahlreiche Bewohner, die überhaupt nichts zu essen haben. Dem genannten Blatt zufolge, sind bis Mitte November im Nameßtoer Bezirk 74 Menschen Hungers gestorben. Auf dem Weg von Also-Kubin nach Nameßto traf der Berichterstatter des Magyar Hirlap zahlreiche Auswanderer — darunter etwa 40 Frauen — die ohne einen Kreuzer Geld die Wanderung nach Pest angetreten hatten, um dort Brot zu suchen. Andere wollten nach der Bacska, nach Slavonien, manche gar nach der Türkei. Ein junger Slovake bettelte mit zwei Kindern auf dem Arm, dis seit 4 Tagen nichts gegessen hatten. Er drohte seine Kinder zu erschlagen, wenn man ihm nichts gebe, sein Weib sei Hungers gestorben, seine Kinder wolle er nicht ebenso sterben sehen. Viele suchen den Hunger durch Branntwein zu betäuben, man sieht 3-, 4jährige Kinder betrunken dahin taumeln. Brot konnten ihnen die Eltern nicht geben, so gaben sie ihnen Branntwein. In Lokeza bereiten sich 80 Personen zur Auswanderung nach Amerika vor. In Nameßto wütet der Hungertyphus, in Badin, Hrustin, Basßilo, Banjaka, Babro, Rabsicze, Hrabsany, Veßele und Zubrohlava fordert der Hunger zahlreiche Opfer. Nicht viel tröstlicher klingen die Berichte, die dem „Neuen Pester Journal" aus den Hungerdistrikten zugegangen sind: Die obersten Be
amten schildern die Lage als sehr ernst, wenngleich manche Nachrichten übertrieben sind. Die Auswanderung nimmt täglich zu. Vom Notstand am härtesten betroffen ist der Stuhlbezirk Nameßto, besonders 5—6 Ortschaften in demselben. In dem kaum 1500 Einwohner zählenden Erdödka fanden um Weihnachten herum täglich 4—5 Begräbnisse statt. Die Erwachsenen wurden durch die Influenza, die Kinder durch die Ruhr dezimiert. Diese Krankheiten nahmen in Folge schlechter Nah- rungs- und Wohnungsverhältnisse einen rötlichen Verlauf. Ler Nameßtoer Stuhlrichter berichtet, daß die Einwohner der erwähnten Ortschaften von Kräutern, Baumrinde und Haferstroh sich nähren. Halbwüchsige Kinder werden von den Eltern auf die Straße gestoßen, da man sie zu Hause nicht halten kann. Die Landstraße wimmelt von kleinen Bettlern, denen gegenüber die Behörde, die durch die Verhältnisse gebotene Milde übt. Der Obergespan erzählt, daß die Hungernden bereits das Saatgetreide aufgezebrt haben, für das nächste Jahr also noch größere Not in Aussicht steht. Uebrigens erstreckt sich die traurige Situation auch auf einzelne Gegenden der Komitate Trcncsin, Turoc; und Saros. Ein ähnlicher Notstand ist, wie der Vizegespan erwähnte, seit dem Jahr 1846 nicht dagewesen. Jeder Zweifel an der wahren Lage der Dinge wird jedoch durch folgendes Telegramm benommen: Auf die Nachricht, daß im oberungarischen Komitat Arva die Hungersnot ausgebrochen sei, begab sich Ihr Korrespondent an Ort und Stelle um Erkundigungen einzuziehen. Ich besuchte die Hauptorte des Komitats. Der Notstand der slovakffchen Landbevölkerung spottet jeder Beschreibung, da die letzte Kartoffelernte mißraten, haben mehr als 20000 Bauern buchstäblich keinen Bisse» zu essen Die einzige Nahrung der Glücklicheren ist Maisbrot. In Nameßto und Erdödka leben Menschen von Baumrinde und Wurzeln. Dabei herrschen im ganzen Komitate die Masern. Ueber 13 000 Kinder sind masernkrank. Die meisten sterben an der Ruhr in Folge von Entkräftung und schlechter Nahrung während der Rekonvaleszenz. Man befürchtet für das Frühjahr den Ausbruch des Hungertyphus. Die Sterblichkeit ist ungeheuer. Die ungarische Regierung und die Gesellschaft haben eine Hilfsaktion cingeleitet, die sich bisher als völlig ungenügend erwiesen hat.
TiitkchMndkS.
^ Dolorosa.
Roman v. A. Wilson. Deutsch v. A. Geisel.
(Nachdruck verboten.)
(Fortsetzung.)
„Und wo ist Ihre Heimat?" fragte der Geistliche, als die Fremde der Thüre zuschritt.
„Heimat? Ich habe keine Heimat! Ich schweife unstät und flüchtig von Ort zu Ort.
„Haben Sie keine Verwandten?"
„Nur einen Onkel, doch lebt er in Kalifornien."
„Sorgt der General Douglas für Sie?"
„Nein; vor drei Jahren ließ er mir durch seinen Agenten freie Fahrt nach San Franziska und 10,000 Dollars anbieten, wenn ich mich verpflichten wolle, keinerlei Ansprüche an meinen Gatten zu erheben und die Familie Douglas überhaupt nie wieder zu „belästigen!" Wäre ich ein Mann gewesen, dann hätte ich den Agenten erdrosselt! Seitdem hat jede Verbindung zwischen uns auf-
gehört und meine Briefe an meinen Gatten kamen uneröffnet zurück."
„Aber mein Gott — wovon leben Sie denn?" frug Doktor Hargowe.
Minnie Douglas richtete sich stolz auf lind versetzte:
»Das, Herr Pfarrer ist mem Geheimnis."
»Frau Douglas," sagte der Pfarrer sauft, ich wollte Sie nicht verletzen. Sie sind so auffallend schön und so innig, daß Ihne» mancherlei Versuchungen nahe treten müssen und —"
„O, fürchten Sie nicht für mich," rief Minnie schnell besänftigt; „der Gedanke an mein Kind hat mich gefeit gegen Alles, was mir entgegentret'n könnte! Es ist schlimm genug für meine arme Kleine, daß sie des Vaters sich schämen muß — ihrer Mutter Ehrenfeld soll dafür um so reiner bleiben, jo wahr mir Gott helfe!"
„So bitte ich Sie um Ihres Kindes willen, eine kleine Beihilfe von mir annehmrn zu wollen," sagte der Pfarrer fast schüchtern, indem er der jungen Frau einen altmodischen Geldbeutel, den er aus einem Schubfach genommen, bot — durch die Mascde» des seidenen Gewebes blitzten Goldstücke. Anstatt indes den Beutel zu ergreifen, schlug Minnie beide Hände vor's Gesicht und brach in Thiäuen aus Schon fürchtete der Pfarrer, sie gekränkt zu haben, aber als sie jetzt aufiab und ihre zuckenden Lippen hastig aus seine Rechte drückte, war er beruhigt.
„Verzeihen Sie nw," bat sie da n, „es ist so lange her, daß Jen. and gütig gegen mich war und so Hai Ihre Fieundlickkeit mich überwältigt. Das Geld kann ich nicht aunehmen, aber eine Bitte möchte ich dennoch an Sie richte». Ich bin über meine Zukunft »och nicht ini Klaren, es könnte ab r kommen, daß ich mein Töchterchen auf längere Zeit verlassen müßte. Tarf ich, wem, dieser Fall cintreteii sollte. Ihnen meine Kleine schicken? Kosten würde sie Ihnen nicht verursachen, nur Liebe und Pflege würde sie von Ihnen erbitten unv ich weiß, Sie würden Sie hüten, wie Ihren Augapfel!"
„Wie flehend die dunklen Augen ihn aublickten — dennoch antwortete der Pfarrer nickt sofort. — „War ich zu kühn?" frug Minnie unsicher und leise.
„Nein — Frau Douglas — ich habe nur die Gewohnheit, jeden Entschluß reiflich zu überlegen — hätte ich dies vor vier Jahren gethan, dann wäre Ihnen viel Kummer erspart worden. Ich kann mich von dem Vorwurf, Ihr Unglück mit verschuldet zu haben, nicht sreisprechen; was ich thun kann, um Ihnen dasselbe tragen zu helfen, thue ich gern und freudig, und so bitte ich Sie, mir Ihr Kind zu schicken, wann es Ihnen wünschenswert erscheinen sollte, — so Gott mir helfe, will ich es treulich hüten."
„Tausend Dank und nun noch Eins — Niemand darf erfahren, was wir soeben besprochen."
„Niemandsagte der Pfarrer feierlich.
„Ich führe eben einen anderen Namen — ich muß es um unserer Sicherheit willen thun und auch mein Kind darf einstweilen nicht erfahren, wer sie ist und wie sie heißt."
„Auch dem Kinde gegenüber werde ich schweigen."
Der Pfarrer begleitete seinen Gast durch das stille Haus und das Vorgärtchen bis zum Thor, wo ein Wagen hielt; bevor Minnie Douglas indes denselben bestieg, sagte sie nochmals innig und leise:
„Tausend Dank für Ihre Güte und wenn ich sterbensollte sorgen Sie für mein Kind.
I"
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