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Ar. 83.
Menstaig, Donnerstag den 19. Juli.
1883.
§ Der Zwischenfall von Madagaskar.
Die Politik spielt sich wie ein Sensations- reman mit immer neuen Ueberraschungen und Verwicklungen ab. So wie die Haupthandlung, die alles Interesse für sich in Anspruch nimmt, zu lange auf einen gewissen Abschluß warten läßt, stellt sich ein neuer Zwischenfall ein, der geeignet ist, das Publikum zu fesseln und in Spannung zu halten. Die Tovkinfrage, der deutsche Kirchenstreit, die Cholera — alles wichtige und aufregende Dinge — sie lassen zu lange auf einen Abschluß warten; da kommt eine neue Meldung von der Insel Madagaskar und ihr wendet sich flugs das ganze Interesse zu.
Der französische Admiral Pierre besetzte nemlich die Hafenstadt Tamatave und befahl dem dortigen britischen Konsul, die Stadt binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen. Vor Aufregung über diese ungeheuerliche Verletzung des Völkerrechts starb der Konsul noch vor Ablauf der ihm gestellten Frist. Der französische Admiral soll darauf die in Tamatave befindlichen Engländer aufgefordert haben, der Beerdigung des englischen Konsuls beizuwohnen, und eS hätten auch viele Engländer, ingleichen viele Offiziere und Matrosen des englischen Kriegsschiffes „Dryad" an dem Letchen- degängniß theilgenommen, auch mehrere französische Offiziere seien dabet zugegen gewesen. Inzwischen habe der französische Admiral die Verbindung zwischen den am Lande befindlichen Engländern und dem englischen Kriegsschiffe abgeschnitten und dem englischen Kapitän sei nur gestattet worden, mündlich zu protestiren. Die Flaggen aller auswärtigen Konsulate seien von dm Franzosen eingezogen worden.
So schilderte Gladstone im englischen Unterhause den Hergang der Sache; die englische Presse führt eine sehr erregte Sprache — ja einigen Blättern scheint die Spannung zwischen England und Frankreich einen genügend hohen Grad erreicht zu haben, um selbst die Möglichkeit eines Krieges aus diesem Anlaß inS Auge zu fassen.
Indessen keine Suppe wird so heiß gegessen, >vie sie gekocht wird. Die Erbitterung zwischen den beiden Westwächten ist ja eine bedeutende; von den stmpathischen Beziehungen zwischen beiden, die Gambetta auf der einen, der Prinz von Wales auf der andern Seite pflegten, ist auch mcht die Spur mehr vorhanden. Frankreich hat durch seinen heftigen Drang nach kolonialer Bereicherung den Neid und die Eifersucht Englands wachgerufen — aber zu einem Kriege ist doch uoch kein zwingender Anlaß vorhanden und weder Frankreich noch England werden so thöricht seilst einen solchen zu beginnen. Beide können auch nicht gut aneinander. England kann ge- Hen Frankreich nicht viel zu Lande, umgekehrt Frankreich gegen England nicht viel zur See Ausrichten; der Welthandel aber würde durch Mn Krieg zwischen beiden Mächten einen ungeheuren Stoß erleiden.
Englands Nationalstolz ist durch die Vorgänge in Tamatave erklärlicherweise aufs Tiefste verletzt. Die Regierung hat sogleich in Paris u>e nothtgen Schritte gethan, um volle Genug- Wug zu erlangen. Der französische Minister
Auswärtigen Challemel-Lacour, hat auf A Vorhaltungen des englischen Botschafters «vrd Lyons erwiedert, er habe noch keine ge- Nachrichten; aber er könne sich keine ^vhaltuisse denken, welche die Entfernung des Er^vn Konsuls Hütten rechtfertigen können. L-n vorläufige Erklärung läßt darauf schlie- °u, daß Frankreich bereit ist, den etwaigen
Uebergriff seines Admirals energisch zurückzuweisen und England zu versöhnen.
Die französische Presse steht einstweilen der Angelegenheit noch befangen gegenüber. Der „Terrips", dem man Beziehungen zu dem Ministerium nachsagt, bespricht die Sache ruhig, aber nicht ohne einen gewissen Trotz. Die zu erwartenden näheren Mittheilungen, meint das Blatt, würden wahrscheinlich beweisen, daß eng- lischerseits ein unbedeutender Zwischenfall durch das Vergrößerungsglas betrachtet werde. Der Tod des erkrankten Konsuls könne ja möglicherweise durch die kriegerischen Ereignisse beschleunigt worden sein, aber ähnliche Zwischenfälle hätten gewiß zahlreich auch bei der Belagerung von Paris und bet der Beschießung von Alexandrien stattgefunden; die hat aber niemand an die große Glocke gehängt oder die Kriegführenden dafür verantwortlich gemacht.
Die nächsten Tage werden hoffentlich diesen neuesten Zwischenfall klären.
Laudesnachrichteu.
Altenstaig, 18. Juli. (Vom Wetter.) Das Wetter ist nun seit einiger Zeit höchst veränderlich, indem Sonnenschein und Platzregen in kurzen Pausen abwechseld aus einander folgen. Der Samstag brachte anhaltende Niederschläge und auch am Sonntag, Montag, Dienstag, ebenso heute regnete es mit wenigen Unterbrechungen. Dabei ist die Temperatur bis auf 7° R. gesunken und es muß, um die Zimmer wohnlicher zu machen, der Ofen wieder ins Mittel 1?Gn und die nöthige Wärme liefern. Hoffentlich hat der Himmel so viel Einsicht u. hört bet Zeiten wieder auf mit seinen Wasserspenden, damit die der Reife entgegengehenden und diesmal so vielversprechenden Halmfrüchte unbeschädigt unter Dach gebracht werden können.
Calw, 16. Juli. Am nächsten Samstag wird hier ein seltenes Fest stattfinden, indem der in Stadt und Land wohlbekannte Herr Kaminfeger Eberhardt mit seiner Frau, ihre goldene Hochzeit feiern. Das Jubelpaar, das noch geistig und körperlich frisch ist, begeht das Fest mit Kirchgang und im Kreise ihrer sämmt- lichen Kinder. 9 an der Zahl, davon sind bereits zwei Söhne, eine Tochter und eine Schwiegertochter mit 2 Enkeln, zur größten Freude der betagten Eltern, aus Amerika eingetroffen, ein weiterer Sohn, der ebenfalls diese große Reise unternommen hat, wird dieser Tage erwartet. Die Theilnahme an dieser Feier ist eine allgemeine.
Stuttgart, 15. Juli. Ein Theil unseres Publikums fürchtet noch immer, daß sich der Raubmörder Hetze! in unserer Gegend herumtreibe. Allein bis in die letzten Tage wurden die Streifen von Landjägern, Forst- und Feldschutzwächtern fortgesetzt und Wälder und Felder vergeblich abgesucht. Nachdem Hetze! hier zugestandenermaßen zweimal bei Schwester und Verwandten war und sich Geld und Kleider zu verschaffen wußte, wird er sich wohl davon gemacht haben. Er war früher Kellner, auch Schiffskellner, Matrose, Heizer, Großuhrmacher, Mechaniker u. s. w., so daß es ihm nicht schwer werden dürfte, in einer dieser verschiedenen Eigenschaften auf einem Rhein- oder Seeschiff unterzukommen.
Stuttgart, 15. Juli. Das Ende des Schreinerstreiks ist noch nicht abzusehen, da die Prinzipale auf die ihnen von den Arbeitern neuerdings gestellten Bedingungen nicht eingehen wollen. Gegen die 9Vr ständige Arbeitszeit wenden erstere ein, daß jetzt schon bet zehnstündiger Arbeitszeit nach Abrechnung der Vesperzeit u. s. w. nicht länger als neun Stunden
gearbeitet werde. Die Firma Epple u. Ege hat allerdings wieder ihre Fabrik geöffnet, dürste aber bald genug wieder schließen. Die hiesigen Möbelfabrikanien haben sich nach auswärts zur Heranziehung von Arbeitskräften gewandt. Die Fabrikanten von Mainz, wo bekanntlich auch eine große Möbelfabrikation besteht, erklärten, sie würden keinen Arbeiter aus den gesperrten Stuttgarter Etablissements aufnehmen. Nach Acußerungen der Arbeiter-Agitatoren besteht ernstlich die Absicht, die bei den Schreinern begonnene Lohnbewegung auch auf andere Branchen auszudehnen. Die Schneider halten schon morgen eine Versammlung ab; andere Gewerkschaften werden ohne Zweifel bald folgen.
Stuttgart, 16. Juli. Die strikenden Schreiner empfangen auch aus England und Frankreich Unterstützungen, ein Beweis, daß die sozialistischen Internationalen der Bewegung Vorschub leisten, denn es ist kaum anzunehmen, daß englische, ganz besonders aber französische Arbeiter aus eigenem Antriebe strikenden deutschen Arbeitern unter die Arme greifen werden.
Stuttgart, 16. Juli. Die Abfahrt der Heuer für die Ferienkolonien ausgewählten armen und kränklichen Schulkinder fand heute Vormittag statt. Zwischen 5.35 und 10 Uhr führten 6 Bahnzüge die kleinen Schaaren, denen die Helle Freude über den bevorstehenden Landaufenthalt auf den Gestchlchen geschrieben stand, ihren Kolonieorten zu. Als neue Orte sind Dank den stets reichlicher fließenden Gaben zu den 10 vorjährigen bewährten Kolonien noch Blaubeuren und Hößlinswarth hinzugetreten, so daß dieses Jahr 144 Kindern die Wohlthat eines 3—wöchentlichen Aufenthaltes in gesunder, reiner Luft gewährt werden konnte. Mit dieser Ziffer überragt unser Stuttgart mehrere weit größere und reichere Städte. Möge das segensreiche Unternehmen, das vor fünf Jahren mit der Aussendung von 55 Kindern begann, künftig von demselben Wachsthum begleitet sein!
Stuttgart, 16. Juli. Heute Vormittags 11 Uhr trat die volkswirthschöstliche Commission unserer Abgeordnetenkammer unter dem Vorsitz von Frhr. v. Varnbüler zu einer ersten Sitzung während der Vertagungszeit zusammen, um den Berichterstatter für den kürzlich beim ständischen Ausschuß eingckommenen Gcsetzes- entwurf betreff, die Errichtung einer Postspar- Kaffe in Württemberg zu ernennen. Die Commission einigte sich auf Kanzler v. Rümelin als Referenten und Abg. v. Luz (Nagold) als Korreferenten für die Angelegenheit. Da sich die Herren Berichterstatter alsbald an ihre Aufgabe m-chen werden, wird die Commission vorausju'tlich schon im Oktober den Entwurf in Ber I), ng nehmen können, so daß die Postsparkassen - Frage jedenfalls einer der ersten Gegenstände sein wird, mit dem sich die höchst wahrscheinlich im Monat Novbr. d. I. wieder zusammentretende Kammer zu beschäftigen haben dürfte.
Stuttgart, 16. Juli. Im Zentrum der Stadt ist dieses Jahr die Baurhätigkeit eine ausnahmsweise rege. Besonders sind es die Hotels in der Nähe des Bahnhofes, au welchem umfassende bauliche Veränderungen und Vergrößerungen vorgenommen werden.
Eßlingen, 16. Juli. Die am letzten Samstag im Schwanen stattgehabte Arbeiterversammlung nahm nach einer Rede des Agitators Cloß, Vorstands des Stuttgarter Fachvereins, folgende Resolution an: „Nach den Ausführungen des Vorstandes vom Fachvereiu der Schreiner in Stuttgart erklärt die heute zahlreich im Schwanensaale besuchte Arbeiter- Versammlung, mit allen gesetzlichen Mitteln die