DIE AUSLESE
Lob und Würde des Weins
Von Ernst Glaeser
Das Gold des Abendlandes, die Milch der Freiheit — so haben ihn einst die Dichter *nannt. Sie wußten, daß Weintrinken eine männlich-brüderliche Kunst ist. Sie wußten es wie die Römer, die mit der gewaltsamen Ordnung ihres Schwertes gleichzeitig als Sym- ’bol des Friedens die Rebe brachten. In Gallien, in Germanien, im helvetischen Gebiet, immer den Flußläufen und den sonnigen Hügeln entlang, senkten die Legionäre die Wur- ■ ln des Weinstocks, und es entstanden jene urchgegliederten Fluren, die man Weinland- -chaften nennen darf.
Hier, ln den Dörfern und Städten, entwickelte sich die Kunst des Weintrinkens, ■veitergegeben von Generation zu Generation, u einer Philosophie der aufrechten Freude nd des noblen Nachdenkens. Wer den Rhein, ie Mosel und die Pfalz wirklich kennt, und arüber hinaus das Burgund und das Wallis, ,! 'e Champagne, die Loire und das Land um Bordeaux — er wird stets einer freien männlichen Kultur begegnet sein.
Wo Wein wächst, leben offene und gesellige Menschen, und ein Weinberg kann gar wohl, wenn man ihn genau betrachtet, mit einem "eordrteten Gemeinwesen verglichen werden. Zwar steht Rebe neben Rebe, aber jede auf eigenem Grund. Wohl herrscht die Vielfalt, aber wenn die Ernte kommt, wird jede Traube sorgfältig gepflückt. Nicht die gleichmachende Sense regiert, sondern die verständnisvoll prüfende Hand.
Allen diesen Landschaften Ist ein ausgesprochen individualistischer Zug zu eigen. Er entspringt nicht jener falschen Kühnheit, die jeden aufmuntert, das zu tun, was er will. Er entwächst vielmehr der bewußten Bodenständigkeit des Qualitativen, das sich nur zu entwickeln vermag, wenn man ihm vertraut. Denn alles, was nur Effekt macht, verneint die Gestalt. Ein Wein, der betrunken macht, ist schlecht. Ein Wein, der trunken macht, berührt die Seele wie ein Traum.
„In vino veritas“ wird gemeiniglich dahin ausgelegt, daß ein Mensch nach dem Genuß des Weins sein wahres We^en enthülle. Sehr oft sei es ein unglückliches, manchmal ein böses.
Veit Stoß vor Gericht
Es dürfte wenig bekannt sein, daß auf dem Leben des berühmten Nürnberger Bildhauers Veit Stoß ein schwerer Makel gehaftet hat. Der Künstler-machte sich jahrelang vieler 'älschungen schuldig und wurde streng dafür
'straft. Eine Nürnberger Chronik meldet darüber:
„Am Gerichtstage gestern in der Frühe hat man Veit Stoß, den Bildschnitzer, falscher Briefe halber, durch beide Backen gebrannt md schwören lassen, sein Lebtag nicht aus der Stadt zu gehen.“
Veit Stoß lebte nach diesem Vorfall, der im Jahre 1503 stattfand, noch lange genug, um diesen seinen Schandfleck durch seinen mmer wachsenden Ruhm zu tilgen; er starb ;m hohem Ansehen, nahezu vierundachtzig Jahre alt, im Jahre 1533 in Nürnberg.
Das ein wenig schulmeisternde Wort kann jedoch auch dahin verstanden werden, daß ein edler Wein den Nebelschleier des Gewöhnlichen hinwegzustreifen vermag, und den Menschen jene Harmonie erahnen läßt, die hinter den flüchtigen Bildern des Sichtbaren herrscht. Nicht umsonst sagt der Volksmund: ..Man ist in gehobener Stimmung." Diese Er- kenntnis bedeutet nichts anderes, als daß der Wein, würdig genossen, über das Gewimmel erhebt.
Von Balzac wird berichtet, daß er die edlen Weine fast mehr liebte als die Frauen. Seine einsamen Tafeleien sind bekannt. Einst jedoch hatte der große Schriftsteller einen Freund zu sich geladen und eine Flasche des besten Weins entkorkt. Der Freund, auf die erlesene Begegnung erpicht, wollte sofort das Glas zum Munde führen, als Balzac ihm freundlich in den Arm fiel.
,,Diesen Wein“, rief er. „liebkost man zuerst mit den Augen, indem man ihn gegen die Sonne hält, der er entstammt.“
Der kranke Säufer fühlte, daß es mit ihm zu Erde ging. Von allen verlassen, lag er fiebernd im Bett und starrte mit großen Augen gegen die Decke, die sich im ungewissen Schein der mondhellen Nacht nach allen Seiten unendlich zu breiten schien. Bis sich ihm der Raum mit Bildern und Gesichten füllte, in denen er sich verlor, wie in einem Wald. Er fand sich wieder am Anfang, im Kindheitswald, im Wald seiner Liebe. Maria saß neben ihm auf dem Baumstamm, Axt und Säge ruhten, Mittag war ur.d eine weite Stille, von Sonne durchflutet. Der Weißdorn blühte wieder, und er sah mit der Geliebten durch die Zweige das kleine Rotkehlchennest mit der brütenden Alten, über dem Moor regten sich die Wollblumen, die im Wind wie eine Herde ganz kleiner Schafe gingen ... . Überwältigt von der Erinnerung an die Zeit seiner großen Liebe raffte er sich mit der letzten gesammelten Fieberkraft seines vergehenden Lebens auf und holfe aus dem Spind die alten, lange vergessenen Briefe seiner Braut hervor. Zuletzt fand er ihr Bild, das sie ihm zum Abschied gegeben hätte, und er las, wie zum erstenmal, die Worte, d : e darunter standen: „Ich habe dich immer lieb, das mußt du nie vergessen!“
Ach, er hatte sie vergessen! Ob sie ihn wirklich noch immer liebte? Der Gedanke daran erfüllte ihn mit Schmerz und Bangen. Und er weinte wie ein Kind und quälte sich mit bitteren Vorwürfen, daß er ihrer Liebe nicht würdig gewesen war. Von Frost und Fieber durchschauert, saß er kraftlos über die vergilbten Briefe gebeugt und versuchte beim schwachen Schein der Kerze die blassen Schriftzüge zu enträtseln. Aber das kleine Licht verlosch, und der Alte verlor sich wieder in den lichten Weiten der Erinnerung, darin sein Geist unterging . . .
Da stand Maria bei ihm. Er brauchte nicht einmal aufzusehen, so deutlich empfand er ihre Gegenwart. Nun fühlte er, wie sie einen Schritt, näher trat. Erschrocken sprang er auf
„Dann stellt man das Glas wieder auf den Tisch, voll Andacht, ohne daran zu nippen.“
„Ja, und weiter . . . ?“
Beruhigend legte Balzac seine Hand auf des Ungeduldigen Arm.
„Dann spricht man von ihm. Man atmet seine Nähe, bevor man ihn besitzt. Man begehrt ihn. Später erst wird man ihn trinken ..."
In dieser Anekdote ruht die Wahrheit, daß das Erlesene auch im Genuß der Achtung bedarf. Denn der Wein besitzt nicht nur Würze und Temperament. Er besitzt auch Weisheit und Geist, und nichts ist verächtlicher als der lallende Rausch.
Ich weiß nicht, ob es ein zufälliger Gleichklang ist, der im Deutschen Wein und Weinen verbindet. Gewiß ist, daß die Rebe viele Seufzer vernahm, Seufzer der Liebe und der Verlassenheit. Ihre lösende Kraft gleicht der Träne, die reinigt und klärt. Sie berauscht nicht die Massen, wie es Bier und Branntwein vermögen. Sie entzückt den einzelnen in Trauer und Glück.
Sie ist wahrlich des Menschen menschlichster Baum.
und hielt abwehrend die Hände vor sich hin. „Hast du mich denn noch immer lieb, nach so vielen Jahren, in denen ich dich vergessen habe?" fragte er.
Maria nickte und trat wieder einen Schritt näher. Ihr Gesicht war ganz weiß vom Mond, der durch die geöffnete Balkontür schien. Soviel Glanz und Reinheit konnte der arme Mann nicht ertragen. Er wich langsam vor der Gestalt zurück, indes seine Augen wie von unten her aus Tiefen von Elend und Verlorenheit flehend zu ihr hinsahen, bis sein Rücken an das Balkongeländer stieß und er halb rückwärts gebeugt zwischen Himmel und Erde hängend mit gespannten Nerven wartete, was geschehen sollte.
Die Gardine der Tür, die zürn Balkon führte, bauschte sich leicht im Wind und umfloß nun gleich dem Mondlicht die Gestalt. Sie lächelt, wie einst, als er bei ihr in der Heimat war Dies Lächeln berührte ihn mit magischer Gewalt — oder waun es ihre weißen Hände, vor deren Reinheit er seinen häßlichen, abgezehrten Leib zurückwarf wie vor etwas unsagbar Heiligem, dessen er nicht würdig war.
„Könnte ich noch einmal beginnen!“ dachte er. Tonlos bewegten sich seine Lippen. „Ich möchte gut machen, was ich an dir getan habe, Maria. Es tut mir so leid! — Gott sei meiner armen Seele gnädig!“ Zugleich fühlte er sich von ihrer Hand berührt, er verlor das Gefühl aller Gebundenheit und fiel und sank . . . Ein großer Wind scholl ihm gleich einer brausenden Orgelfuge in die Ohren. Fern sang es — Sekunden-Ewigkeit-
„Unglück oder Selbstmord?“ überschrieben die Zeitungen am anderen Tage die kurze Notiz vom tödlichen Absturz des Säufers. Wer aber weiß den Sinn dieser kleinen Geschichten des täglichen Lebens, wer weiß, daß noch immer Engel mit großen mondblauen Augen umhergehen, die Sünder zu besuchen in der Stunde ihrer Einkehr, da aus der letzten, dunkelsten Verlorenheit die Gnade erblüht?
Der Philosoph Rembrandt
Weisheit des Alltags
Jeder meint, er brauch^ nur fein oder grob seinen Mund aufzusperren, um seinen Willen zu kriegen. Ein Glück ist’s, daß wir schon von un-aern Vorfahren wissen, was es damit auf sich hat. Die haben es uns von Urzeiten an hinterlassen: jeder für den Mist vor seiner Kellertür, und unser' Herrgott fürs Ganze ...
Kein Mensch will gern einsehen. daß er auch mit Haut und Haaren in den ganzen Zusammenhang gehört, und daß die Nachbar schaft gerr.de so gut das Recht hat, uns über den Zaun zu gucken, wie wir.
*
Wer aus armen, niederen Häusern kommt, dem darf man es nicht vorwerfen, wenn er die erste Strecke seines Weges nur scheu und zögernd zurücklegt, wenn ihn Nichtigkeiten blenden, wenn ihn falsche Trugbilder verwirren, wenn ihn Irrlichter verlocken. Wer unter so niederem Dach hervortritt, der muß im Guten oder im Bösen ein starkes Herz haben, um nicht nach den ersten Schritten aufwärts wieder umzukehren und iii der Tiefe sein dunkles Leben weiterzuführen; die ersten Kenntnisse und Erfahrungen selbst, welche er erwirbt, dienen dazu, den Einklang/-seines Wesens zu zerstören; sie machen ihn nicht • glücklich; zu allen anderen Zweifeln erwecken sie ihm noch den Zweifel an sich selber. Es ist schwer, ein rechter Mensch zu sein, und jedem Dinge sein rechtes Maß zu geben; wer aber mit der Sehnsucht danach in der Tiefe geboren wird, der wird doch eher dazu kommen als jene, welche zwischen Gipfel und Niederung erwachen, und welchen das Oben wie das Unten gleich unbekannt und gleichgültig bleibt. Aus der Tiefe steigen die Befreier der Menschheit, und wie die Quellen aus der Tiefe kommen, das Land fruchtbar zu machen, so wird der Acker der Menschheit ewig aus der Tiefe erfrischt. Der Mensch hat doch nichts Besseres als dies schmerzliche Streben nach oben, ohne dasselbe bleibt er immer Erde von Erde genommen, in ihm und durch es richtet er sich aus aller Leibeigenschaft des Staubes auf; in ihm reicht er, wie wenig es auch sei, was er erlange, allen himmlischen Mächten die Hand; in ihm steht er auf der winzigsten Scholle in dem engsten Kreise als Herrscher des unendlichsten Gebietes da, als Herrscher seiner selbst.
Aus Wilhelm Raabes „Lebensregeln“
Der Ende! mit den mondblauen Augen
Eine kleine Geschichte, die das Leben schrieb
Die Smtzin
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Eine Hnndegeschichte Von Marie v. Ebner-Eschenbach
... Im Hol/.verschlag neben dem Ziegenstall auf einer Handvoll Stroh lag zusammengeringelt die schwarze Spitzin, und unter ihr und um sie herum krabbelten ihre Kleinen und winselten und suchten mit blinden Augen und tasteten mit weichen, hilflosen Pfötchen.
Die Spitzin hob den Kopf, als die Knaben sich ihr näherten, ließ ein feindseliges Knurren vernehmen und fletschte die Zähne.
„Dummes Viech, grausliches!“ schrie Anton und streckte halb zornig, halb ängstlich die Hand nach einem der Hündchen aus. „Halt sie, halt sie, daß sie mi net beißt!“
Schon recht, wenn’s di beißt, dachte Provi. Es fiel ihm nicht ein, sich um Antons willen in einen gefährlichen Kampf mit der Hündin einzulassen; nur um die eigene Sicherheit war ihm zu tun. Und so nahm er Zuflucht zu einer Kriegslist, kauerte auf dem Boden nieder und hob mit kläglicher Stimme an: „O die orme Spitzin, no jo, no jo! Ruhig, orme Spitzin, so so . . . Ma tut ihr ja nix, ma nimmt ihr ja nur ihre Jungen, no jo, no jo!“ *
Die Spitzin zauderte, knurrte noch ein wenig, doch mehr behaglich jetzt als bösartig. Die Worte, die Provi zu ihr sprach, verstand sie nicht; aber ihren sanften, beschwichtigenden Ton verstand sie, und dem glaubte sie. Was wußte die Spitzin von Arglist und Heuchelei? Ein Mensch sprach einmal gütig zu ihr, so war auch seine Meinung gütig. Sie legte sich wieder hin, ließ sich streicheln, schloß bei der ungewohnt wohltuenden Berührung wie zu wonnigem Schlaf ihr Auge. Die Schnauze steckte sie in Provis hohle Hand und leckte sie ihm dankbar und zärtlich.
„No — also no!“ rief der den Kameraden an: „Pack’s z’samm'- Mach g’schwind!“
Anton griff zu, und im nächsten Augenblick sprang er auch schon mit drei Hündchen auf f'en Armen aus dem Verschlag, in großen, r -»blichen Sätz-n •"''•'r d ! ? Straß", die Uferböschung zum See hinab. Provi folgte ihm
eiligst nach. Den Hauptspaß mit anzusehen, wie die Hündchen ertränkt wurden, konnte er sich nicht entgehen lassen.
Es war merkwürdig, daß von nun an die Nachbarschaft der Spitzin dem Provi widerwärtig zu werden begann. Nur schlecht gefügte Bretter trennten seine Schlafstätte von der ihren, und jede Nacht störte sie ihn mit ihrem Gewinsel. Im Kopf der Alten war ein „Radel laufet“ worden; sonst hätte sie doch nach einiger Zeit begriffen: die Jungen sind fort, und nie, nie mehr zu finden, und man muß endlich aufhören, nach ihnen zu suchen.
Dieses Mal hörte sie nicht auf. Sie mußte von einem Tag zum anderen immer wieder vergessen, daß sie gestern schon alle Winkel umsonst durchsucht hatte. Sie schnüffelte, sie kratzte an der Tür, scharrte ihr bißchen Stroh auseinander und nieder zusammen, kroch hinter, den Holzstoß, drängte sich in die Ecke, in der die Werkzeuge lehnten, warf einmal ein paar Schaufeln um und flüchtete voll Entsetzen. Eine Zeitlang war Ruhe, dann trippelte sie wieder herum und suchte und suchte. Und ihr Trippeln weckte ihn, an dem früher die brüllenden Rinderherden vorüber gezogen, ohne ihn im Schlafe zu stören. Wenn er schlief, schlief er, verschlief Hunger und Müdigkeit. Dazu vor allem brauchte er den bombenfesten Schlaf, um den er plötzlich gekommen war; denn jetzt schrak er auf beim Herumgehen und Schnüffeln der Alten. Und kalte Schweißtropfen .liefen ihm über die Stirn in der „Baracken“, der den ganzen Tag die Sonne aufs Dach schien und in der es so heiß war, daß es in der Hölle nicht heißer sein kann ... Ob das auch mit rechten Dingen zuging, ob nicht etwas Übernatürliches dahintersteckte? . . .
Eine Woche verging. Immer noch hatte die Spitzin sich nicht ganz beruhigt, suchte und schnüffelte immer noch, besonders bei Nacht, •in ihrem Verschlag herum So' geschah es. daß sie den Provi zu besonders unglücklicher
Stunde weckte. Er hatte sich so spät erst auf seiner Lagerstätte aus Hobelspänen und schmutzigen Heu hinstrecken können, weil er nach beendigtem Arbeitstag die Ziegen, die der Wegemacher ins nächste Dorf verkauft, dahin hatte treiben müssen. Und auch jetzt noch kein Ende der verfluchten Plackerei, nicht wenigstens ein paar Stunden ungestörten Schlafes! Die Spitzin scharrte und suchte und suchte, und Provi drohte und polterte mit den Füßen gegen die.Bretterwand. Diese gab nach, ein Stück von ihr fiel krachend hinüber ins Bereich der Spitzin. Sie stieß ein erschrockenes Gebell hervor, das Kleine winselte, dann war alles still. „Teixel über- anander, wirst jetzt an Fried’ geben, Rabenviech!“ murmelte Provi und legte sich zurecht und zog die Knie bis zum Kinn herauf, denn so schlief es sich am besten . . .
Verfluchtes Rabenviech! Die Spitzin nebenan fing wieder an zu stöhnen und zu kratzen und riß ihn aus seinen Träumen, die so wonnig gewesen waren. Voll Zorn richtete er sich auf. nahm einen Scheit Holz, trat über die niedergeworfenen Bretter in den Verschlag des Hundes und führte 'knirschend wuchtige Schläge gegen den Boden, auf dem die Spitzin im Dunkeln ängstlich herumschoß. Er sah nicht, wohin er traf; er schlug zu, nach rechts und nach links, vorwärts und rückwärts und endlich — da hatte er sie erwischt, da zuckte etwas Weiches, Lebendiges unter seinem wütend geführten Hieb. Ein kurzes, klägliches, anklagendes Geheul ertönte, gellte grell und förmlich schmerzhaft an Provis Ohr. Es überrieselte ihn. Was für ein seltsames Geheul das gewesen war . . .1 „No jo — das Rabenviech hat jetzt genug, wird Ruh geben, eine Weile wenigstens.“ Er kehrte zu seiner Lagerstätte zurück, kauerte sich zusammen und schlief gleich wieder ein.
Nach ein paar Stunden erwachte er plötzlich. Die aufgehende Sonne sandte einen feurigen Strahl aus. der ihm durch eine Lücke in der Tür des Verschlages und durch die Bresche in der Wand leuchtend rot ins Gesicht blitzte. Er öffnete die Augen und stand auf. Die Spitzin kam ihm rc-hi unbehaglich ins Gedächtnis. Wenn er sie totgeschlagen
haben sollte heute nacht, würde der Wegemacher, der keinen Eingriff in sein Eigentum duldete, schwerlich versäumen, ihn selbst halbtot zu schlagen. „No jo!“ dachte er und fuhr mit den zehn Fingern durch seine staubigen Haare, um die Heustengel zu entfernen, die sich in ihnen verfangen hatten.
Da rührte sich etwas zwischen den Brettern, da kroch es langsam heran. Die Spitzin kroch heran und schleppte ihr Junges im Maule herbei. Sie hatte es an der Nackenhaut gefaßt und benetzte es mit ihrem Blute; denn es floß Blut aus ihrem Maul, ein dünner Faden die Brust entlang. Zu Provi schleppte sie ihr Junges, legte es vor ihm nieder, drückte es mit ihrer Schnauze an seine nackten Füße und sah zu ihm hinauf.
Und ihr Auge hatte eine Sprache, beredter als jide Sprache, die die schönsten Worte bilden kann. Siq äußerte ein grenzenloses Vertrauen, eine flehentliche Bitte, und man mußte sie verstehen. Wie das Sonnenlicht durch die geschlossenen Lider Provis gedrungen war, so drang der Ausdruck dieses Auges durch den Panzer, der bisher jede gute Regung von der Seele des Buben ferngehalten hatte.
Ein Dichter und trotzdem vernünftig. Welches Aufsehen Kiopstocks Messiade bei ihrem ersten Erscheinen in Deutschland hervorrief, davon kann man sich heutzutage kaum mehr einen Begriff machen. Die einen strömten über im Lob, die andern, die den dichterischen Schwung des neuen Werkes nicht zu fassen vermochten, nannten es ein „verrücktes Buch“. — Eines Morgens befand sich Klop- stock im Vorzimmer seines Gönners, des Grafen Bernstorff. Ein General gesellte sich zu ihm, ohne ihn zu kennen. Im Laufe einer angeregten Unterhaltung fand er großen Gefallen an dem Dichter. Als der General nun zur Audienz gerufen wurde, fragte er den Dichter: „Darf ich Ihren Namen erfahren?“ — „Gewiß, ich heiße Klopstock.“ — „Haben Sie etwa die Messiade geschrieben?“ — „In der Tat.!“ — „Wie ist das möglich?“, rief der General au3. „Sie reden ja ganz vernünftig!“
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