(D . . / von Artur Kuüy
Weihnachtsreit! Eigentlich müßte es heißen: O du fröh- Nche Jugendzeit! Aus weiter Ferne steigen Bilder auf. Erinnerungsbilder.
Inmitten des Wohnzimmers steht ein lichterglänzender, Würzig duftender Christbaum. Unter ihm kniet eine prächtige Weiße Gestalt mit langwallendem Schleier und goldgeränderten Fittichen: der Weihnachtsengel. Behutsam brertet er auf dem Weißen Linnen des Weihnachtstisches Gaben aus. Der Silber- Lang des Glöckleins hat uns Geschwister soeben herbeigerufen. Mil offenen Mündern bestaunen wir all die Herrlichkeit und de« schonen Engel, der sich nun in seiner schlanken Größe erbebt und uns freundlich heranwinkt. Es ist das fünfte Christfest, das ich erlebe, und bald wird der Ernst des Daseins in Form eines ABC-Buches an mich herantreten. Darum Hai mich dieses Mal der Weihnachtsengel, sozusagen zum Abschiel Vom sonnigsten Teile des Kinderlandes mit ganz besonder! reicher Bescherung bedacht: einem Schaukelpferd mit echtem Fell, echter Mähne und echtem Schweif, einem lustigen Bajazzo Der trommeln kann, einem prächtigen Baukasten und eine' Schachtel Zinnsoldaten. An all der Pracht lann ich mich nichi sattsehen, und meine älteren Schwestern jubeln über du prächtigen großen Puppen.
Die Schwestern reihen sich vor dem Tannenbaum auf und Argen. Auch ich singe mit, aber Worte, Rhythmus und Töne wollen nirgends so recht stimmen. Weich legt der lächelnden Mutter Hand sich mir auf den Mund, so daß tch nur selten Gelegenheit finde, zwischen den Fingern durch ein wenig zu quietschen. Da fällt plötzlich mein Blick auf die Hand des Weihnachtsengels. Just an der Stelle, wo ich vor einiger Zeit unser Zimmermädchen Lina in die Hand gebissen hatte, sehe ich eine kleine Weiße Narbe.
„Mutti!" rufe ich. „Das ist ja kein Engel. Das ist unsere Lina!"
„Aber was fällt dir ein, dummer Bub!"
„Wenn es wirklich ein Engel ist, dann sag ihm, er soll ein wenig im Zimmer herumfliegen!"
„Hab ich dir nicht schon oft gesagt, daß die Engel nur im Himmel herumfliegen, auf Erden aber zu Fuß wandeln!"
,^Ja, aber-Sag, Mutti, wie ist er dann vom Himmel
auf Erden gekommen?"
Lächelnd droht mir der Vater mit dem Zeigefinger: „Du Naseweis! — Dürfen kleine Kinder so viel fragen? Sei zufrieden, daß dir der Engel so schöne Sachen gebracht hat. Do setze dich mal auf dein herrliches Roß!"
Und er hebt mich auf das Pferd. „Heißa hopp, Reiter im Galopp!" Ich kann mich vor Stolz nicht fassen und fühle mich als General. Aber alles hat ein Ende, und so auch mein Ritt Einer unserer Gäste, ein alter Witzbold, nähert sich den. Schaukelpferd und meint: „Nach der Arbeit schmeckt das Essen! Auch das arme Tier muß etwas bekommen!" Er steckt den, Pferd ein Stück Zucker ins Maul, und im Nu ist es ver- ühwunden. Nun hebt er den Schweif des Schaukelpferdes in nie Höh» und zieht unter ihm das Stück Zucker unversehrt Wieder heraus.
Welche Vorstellungen dieser Hokuspokus in meinem Kops erweckte, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich dem Zauberpferd scheu auswich und mich ihm trotz allen Zuredens nicht mehr näherte. Als man mich darauf setzte, schrie ich Zeter und Mordio.
,^ch will kein Pferd, ich will eine Puppe!" beharrte ich «lf meinem Protest. Als man mir sagte, daß Puppen ja nur tüx Mädchen, nicht aber für stramme JungenZ seien, redete ich mich aus, ich verlange sie nicht für mich, sondern für den Bajazzo, der auch eine Frau haben wolle. Dagegen ließ
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üatz oieje sonst so sanften Wesen zu Furien entarten könnten. Und bei der Heimkehr des Vaters setzte es einige Schlage sur mich ab, doch meinte er beim Mittagsmahl schmunzelnd: „Unser Kleiner hat offenbar Anlagen zum Naturforscher oder zum Chirurgen!"
Immer war eS ein Lieblingswunsch niemes Vaters gewesen, in mir einen tüchtigen Arzt aroßzuziehen und meinen Ehrgeiz in dieser Richtung zu Wecken, indem er nur stets Lebensgeschichten großer Anatomen, Chirurgen und Internisten erzählte. Dies mag ein Grund sein, daß ich in meinen Kinderjahren großes Interesse für Naturkunde hatte und später, als ich schon zur Schule ging, dem Pfarrer im katechetr- chen Unterricht auf seine Frage, woraus der Mensch bestehe, feierlich erklärte: „Der Mensch besteht aus Knochen, Fleisch, Blut und Haut; die wichtigsten Organe sind Herz, Magen, Lunge..."
Weiter kam ich allerdings nicht. Die Buben und Madels um mich herum jauchzen vor Vergnügen. Der Herr Pfarrer aber winkte mir halb erzürnt, halb ergötzt ab und ries einen anderen Knaben auf, der ganz unkompliziert meinte: „Der Mensch besteht aus Leib und Seele."
Das hätte freilich auch ich gewußt-
Die nächsten Weihnachten waren bescheidener. Die Lina war noch bei uns. aber sie waltete nur ihres irdischen Amtes and schien jede Lust zu Himmelsbotschaften verloren zu haben. Kein Engel kniete mehr neben dem strahlenden Chris» bäum, und auf dem Gabentisch lagen für mich nur schöne Märchenbücher mit Bildern und wieder eine große Schachtel Zinnsoldaten aller Waffengattungen, denn meine frühere Armee war in verschiedenen Kriegen schon längst aufgerieben, ohne daß ich an ihr meine ärztliche Kunst erproben konnte. Zum Forscher, Anatomen oder Chirurgen habe ich es später auch me mehr gebracht, und längst, längst schlafen schon alle im Mutterschoß der Erde, die meine Kindheit froh umgaben.
Winter im Schwarzwald
Anno Domini k»d«ig SSt-
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den Feiertagen war das jchone Schaukelpferd verschwüMil, UnV ich erhielt die gewünschte Puppe, eine dralle Tirolerin, die weder die Augen schließen noch Mama sagen konnte. Jedenfalls hatte sie qber den Vorteil einer längeren Lebensdauer als die aristokratischen Puppen meiner Schwestern. Nämlich eines Tages, als die Mädchen in der Schule saßen, war ich sehr neugierig, wieso gerade diese Puppen die Augen schließen konnten. Um dem Diätsel aus die Spur zu kommen, schlug ich ihnen die Köpfe «m. Zu meiner Enttäuschung gewahrte ich nur einen ganz einfachen Mechanismus. Meine Schwestern waren außer sich, als sie .mein Werk erblickten. Ich hätte nie zuvor gedacht,
Der Apotheker Heinrich Ameldung stand vor dem Fenster seiner Offizin am Markt der alten Stadt Osnabrück. Es war am Nachunttag des Heiligen Abends 1648. Der Schnee fiel dicht. Das gegenüberliegende Rathaus, von dessen Freitreppe vor gerade zwei Monaten der Westfälische Friede verkündet worden war, war kaum zu erkennen, und auch die benachbarte, Marienkirche versank fast ganz im Wirbel der Weißen Flocken.
Er stützte die Hand auf das Fensterkreuz. War das eine böse Zeit gewesen! Fast fünf Jahre lang waren die Herren hier und in Münster aus- und eingegangen. Währenddessen lief der Krieg ungehindert weiter, und als endlich der Friede kam, lag das Vaterland zerrissen und geschmäht am Boden. Die Menschen waren bettelarm geworben, die Dörfer verwüstet, die Wölfe weit in die leeren Gebiete eingedrungen.
Me Herren hatten selbst auch keine gute Zeit gehabt. Me ehemals reiche Stadt war durch den langen Krieg arg heruntergekommen, es fehlte an bequemen Quartieren, die Post blieb oft stecken, und die Franzosen in Münster versuchten alles, den Krieg in die Länge zu ziehen. Manche der vornehmen Ambassadeure waren oftmals in seiner Offizin eingekehrt, um einen Aquavit oder ein Glas Malvasier zu trinken, sein Provisor Etschenreuter hatte die Gelegenheit benutzt, die bekanntesten Gesandten um eine Eintragung in sein ehemaliges Stu-
weihnachten
Markt und Straßen stehn verlasse»,
.j Still erleuchtet jedes Hgus, - ' ?
Sinnend geh' ich durch die Gassen, 8
Alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein.stehn und schaue».
Sind so wunderstill beglückt.
Und ich wand're aus den Mauern Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
dentenatvum zu bitten, was gern und zum Teil sogar mit trefflichen Sprüchen geschehen war.
Die Tochter trat ein. Er hörte ihren leisen Schritt urü» wandte sich um. Sie war ein stilles blasses Mädchen von fas siebzehn Jahren, viel zu scheu und zurückhaltend für dies fröhlichen Jahre.
Er küßte ihren blonden Scheitel: ,Laß nur", sagte er still, „ich möchte bis nach der Abendkirche damit warten. Aber iß du!"
Sie schmiegte sich eng an ihn. Ein Weinen würgte, er schluckte es rasch hinunter. Der Schnee trieb dichter, die Laterne an der Haustur zerrte mißtönend an ihrer Kette. In der Kirche begannen die Fenster hell zu werden, man hatte Wohl schon das Licht angezundet.
„Nein", erwiderte sie. „Ich esse dann mit dir zusammen. Weißt du übrigens, daß heute abend zum erstenmal wieder Me Glocken läuten sollen? Bei der Friedensverkündigung waren es nur die beiden großen."
Er zuckte jäh zusammen und sah sie starr an. Sie verstand. Da hing ganz oben im Turme eine kleine Glocke, die nur geläutet wuü>e, wenn Aufruhr, Brand oder Mord war und wenn ein armer Sünder den letzten Weg ging. Sie war lange nicht gebraucht worden, der Rat hatte während der Ver-
Jedern statt Tannenbäume / von Elisabeth wed-rmd
Es'war genau fünf Wochen vor dem vierten Weihnachten l« Weltkrieg. Alan schrieb den 20. November 1917. Da Wurden etwa 70 Deutsche mit ebenso vielen vaterländisch «sinuten Griechen, die zu den Besten ihrer Nation gehörten, « die Verbannung aus die Insel Skyros geschickt. Der Weltkrieg tobte um Hellas. Wohl gegen den Willen der meiste:'. Griechen war die Kriegserklärung an Deutschland erfolgt...
Es war damals ein harter und kalter Winter, und auf lwr Insel Skyros. die M den nördlichen Sporaden gehört, schneite es tagelang. Höchst selten kam das vor. Die Tele- «vapheudrähte zerrissen unter den Schneelasten, und der Sturm Wütete so, daß die Segler, die Post und Zeitungen für die Weltvergessene Insel bringen wollten, nicht landen konnten.
Wenn man die Gäßchen der Jnselstadt, deren Häuser terrassenförmig an den steilen Berg angeklebt sind, bis zu dem «lte« venezianischen Kastell Hinanstieg, hatte man an klaren Doge« einen unermeßlich weiten Blick: unzählige Eilande Wuchten aus der blauen Flut empor. Wohl feder der Deutwar einmal durch die griechische Inselwelt gefahren, lebte man hier auf der einsamen Insel in der Ver- nung, fern von dem gemütlichen Heim in Athen, fern der roergeprüften Heimat. Man hätte auf Skyros glücklich sein wunen, wenn nicht die bangen Sorgen gewesen wären... Das Weihnachtsfest kam heran. Gerüchte gingen damals um; von einer großen Revolution rn Rußland wurde gesprochen, von Siegen und Niederlagen an den Fronten. Genaues war »icht zu erfahren. Me Verbannten durften das feste Vertraue« auf die Heimat nicht verlieren, und sie fingen an, ^Vorbereitungen zum Weihnachtsfest zu treffen, denn sie wollten M «ach alter deutscher Sitte feierlich und fröhlich begehen. Vie verschafften sich Getreide und brachten es in Rucksäcken zu den Mühlen am Meere, deren Flügel sich im Wintersturm drehten. Ein Weihnachtsfest ohne Stollen und Gebäck sollte es nicht werden. Andere versuchten, einen Weihnachtsbraten
zu erstehen, und schließlich mußte man auch an me Beschaffung der Weihnachtsbäuine denken. Tannen gab es auf der bergigen Insel nicht, und so wurde der Tannenbaum durch schön gewachsene Zedern ersetzt. Abends saß man am Herdfeuer uni machte aus buntem Papier den Christbaumschmuck, und bei dem Kramer der kleinen Jnselstadt wurden alle Kerzen und Lichtchen ansgekauft, die aufzutreiben waren.
Der Heilige Abend kam heran. Es war eine klare, wundervolle Nacht, als die deutsche Zwangskolonie auf dei Insel Skyros ihr Weihnachtsfest feierte: alleinstehende Lands- leute waren, bei denen zu Gaste, die eine Feier gemeinsani veranstalteten, und die jüngeren Leute zogen als Kurrende- Sänger vor die Häuser der deutschen Volksgenossen. Dü Griechen feierten damals das Weihnachtsfest dreier Tag, ivater.
In den Gatzchdu der Jnselstadt herrschte am 24. Dezember 1917 ein Leben, wie Skyros es nur selten kannte. Hell und feierlich klangen die Weihnachtslieder: „Stille Nacht, heilige Nacht" — „O du fröhliche" — „Es ist ein Ros' entsprungen" zum sternenfunkelnden Himmel auf. Die erstaunten Insulaner, die übrigens die „feindlichen Ausländer^ sehr freundlich ausgenommen hatten, sahen zum erstenmal ein deutsches Weihnachtsfest, sahen jenen geheimnisvollen, zu Herze» gehenden Glanz, der von Deutschland erzählte, das weit von hier um sein Leben kämpfte und Plötzlich mitten unter die Skyrioten gekommen war. Neugierig schauten sie von außen durch die Fenster, um einen Schimmer des brennenden Baumes zu erhaschen.
Als dann die Lichtstümpfchen auf den hohen Zedern am letzten Tag des alten Jahres noch einmal angezündet wurden, drängten sich die griechischen Freunde zur deutschen Sylvesterfeier, und für das Häuflein Verbannter auf einsamer Insel war es wohl die schönste Neujahrsgabe, daß die griechischen Einwohner von Skyros ihnen immer wieder mit fester Zuversicht sagten: „Deutschland wird niemals untergeben!"
Weichen. Doch einmal war sie angeschlagen Mädchen noch ganz klein gewesen war, hätte man ihre Mutter zrm Richtblock geführt. Böses Geschwätz hatte sie als Hexe verdächtigt, bald darauf war ihr Haupt gefallen. Sie hatte auch brennen sollen, genau so wie die greise Mutter des ehemaligen Bürgermeisters Modemann. Der Vater aber hatte eine hohe Summe an die Armenkasse gezahlt, worauf die Gnade der heimlichen Hinrichtung gewährt worden war. Die Schweden, die damals die Stadt besetzt hielten, hatten gegen beide Urteile protestiert und ihre Ausführung verboten. Dev Rat aber, erbost über einen vermeintlichen Eingriff in seine verbrieften Rechte, war unnachgiebig geworden.' Me Frauen mußten es büßen. Ihr Opfer aber war dennoch nicht vergebens. Von dem grauenvollen Schicksal ergriffen, hatte die Stadt für die Zukunft jede weitere Exekution eingestellt.
Heinrich Ameldung trat in das Zimmer zurück. Er schloß den breiten Wandschrank auf. Die Tochter sah ihn ungewiß an. Er öffnete ihn selten und zumeist nur, wenn er allein, war; er bewahrte wohl seine Papiere darin auf. Jetzt aber griff er nach dem eng zugeschnurten Kästchen, das hinten a» der Rückenwand stand. Er öffnete es. Ein schwerer, mit funkelnden Edelsteinen besetzter Ring blitzte golden auf.
„Er gehörte einst deiner Mutter", sagte der Mann. ,^Jch steckte ihn ihr am letzten Weihnachtsabend vor dem Kriege an die Hand, ein halbes Jahr darauf haben wir geheiratet. Das ist nun dreißig Jahre her. Trag ihn in Ehren. Und im Glück!" fügte er schmerzlich an. — „Vater!" sagte sie.
Er antwortete nicht und strich ihr nur sanft über die glühenden Wangen. Sie schien sich noch freuen zu können, trotz allem. Wie wäre auch das Leben sonst zu ertragen! „Mißgönne mir doch nicht dein liebliches Geschenk!" hatte er dieser Tage in einem Gedicht gelesen, das der gekrönte Poet Andreas Gryphius in Schlesien auf den Friedensschluß von Osnabrück und Münster geschrieben. Draußen fingen plötzlich die Glocken zu dröhnen an. Me Luft bebte. Me Armsünderglocke oben un Turm aber klang nicht mit.
Der 'Provisor trat herein. „Der Gottesdienst beginnt etwas später", erzählte er. „Es ist ein Unglück geschehen, die kleine Glocke oben in der Luke ist zerborsten und durch den Boden geschlagen. Es ist keiner verletzt, nur das Dach ist beschädigt worden."
Ameldung gab ihm die Hand: „Es ist Friede geworden"^ sagte er, „die reinen großen Glocken klingen wieder, die sündigen Stimmen sind verstummt. Auch die, welche die Welt dafür hält. Möchte sie das bedenken und nicht wieder in solch großes Elend hinabsinken!"
„Das walte Gott!" entgegnete Etschenreuter. Die Tochter fuhr leise mit der Hand über die Augen.
Draußen rollten-die Glocken nach dreißig Jahren zum erstenmal wieder in friedliches Weihnachtstand.