Vortrag im Georgenäum. Der Sekretär des Bundes der deutschen Bodenreformer, Herr O. Rüppel, hielt gestern abend seinen angekündigten Vortrag über:Was uns unsre Unkenntnis in volkswirtschaftlichen Dingen kostet." Herr Rüppel wurde von Rektor Dr. Knödel den wenigen An­wesenden vorgestellt. Der Redner ging davon aus, dast der Behandlung volkswirtschaftlicher Dinge in weiten Kreisen aus dem Wege gegangen werde auch in Calw, meinte er, mit gutem Humor auf den schwachen Besuch des Vortrags verweisend, scheine das der Fall zu sein. Dann entrollte er ein inter­essantes, selbst geschautes Bild über eine soziale Nachtseite des wirtschaftlichen Lebens: In Preußen zählte man von 100 Familienvätern nur 4,84 A-, mit einem Einkommen von über 3000 Zl jährlich, mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Preußen, 53,43 A hat ein Einkommen von unter 900 -N jähr­lich und im industriereichen Sachsen gab es 1908 75 A aller Haushaltungsvorstände, die ein Einkom­men von unter 1600 -/st hatten jährlich. In Baden, das 1910 2141862 Einwohner zählte, gab es 1 704 482, die steuerfrei waren, weil ihr Einkommen unter 900 ^,st blieb. Nach der Berufszählung vom Jahre 1907 gab es 9 492 881 erwerbstätiger Frauen, 46,2 A davon waren verheiratet und mußten als Fabrikarbeiterin noch ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter Nachkommen, wo bleibt da die Häus­lichkeit? Und was bedeutet das für die Zukunft unsres deutschen Volkes, für unsre Jugend? Was diese Frauen veranlaßte, auf Erwerb auszugehen, das war in der Mehrzahl die Notlage ihrer An­gehörigen. In der Wohnungsfrage wurzelt die Grundlage für alles gesunde und sittliche Familien­leben. Ein bayrischer Lehrer stellte einmal zusam­men, daß von seinen 60 Knaben nur 14 allein in eienm Bett schlafen durften, 9 davon waren zudem in einem Waisenhaus Zöglinge! Von der Woh­nungsfrage zur Bodenfrage ist nur ein Schritt. Ihr widmete der Vortragende den Hauptteil seiner Aus­führungen. Er ging mit unsremBodenunrecht" scharf ins Gericht und legte an Hand drastischer Bei­spiele die krassen Ungerechtigkeiten desselben ausein­ander, und davon besonders das deutsche Hypotheken­wesen. Die durchschnittliche Behausungsziffer eines Hauses in Deutschland beträgt in Stuttgart 28, Po­sen 49, Breslau 56, Charlottenburg 64, Berlin 77,5 Personen. In Berlin gibt es Mietskasernen, die über 1000 Einwohner beherbergen. Man stelle sich vor, Calws Einwohnerschaft wäre in sechs solcher Mietskasernen untergebracht! Wäre das ein wün­schenswerter Zustand? Wir beklagen uns über den hohen Steuerdruck, und tun doch nichts, um aus die­sen ungesunden Verhältnissen herauszukommen. Da will die deutsche Bodenreform eintreten. Ihr Grund­gedanke ist, daß, was der Mensch für sich erarbeitet, ihm gehören soll, die Arbeit in jeder Form. Da­gegen sollen die durch die Arbeit des gesamten Volks erzeugten Werte, der Grund und Boden, aus sitt­lichen und rechtlichen Gründen, als Produkte der Ge­samtheit, auch dieser Gesamtheit zugutekommen. Diese auf dem Grundsatz der höchsten Gerechtigkeit erhobene Forderung könnte, wenn restlos durchge- führt, reiche Quellen erschließen: Da könnten Mittel gewonnen werden, ohne daß es nötig wäre, In­dustrie, Handel, Fleiß, Sparsamkeit, zu beeinträchti­gen. Man kann annehmen, daß der Gesamtwert des deutschen Bodens heute 200 Milliarden Mark reprä­sentiert. Eine bodenreformerische Grundrentensteuer,

Das Zlngtückshaus.

39.) Roman von Georg Türk.

Pfui Teufel!" sagte er, als er am nächsten Tage wieder in der Bahn saß, um in das Dorf in der Nähe Hohenburgs zurllckzukehren, wo er alle seine Sachen hatte liegen und stehen lassen.

Freilich hätte er der Wirtin schreiben können, sie solle ihm alles einpacken und schicken. Aber es reizte ihn gerade noch einmal dorthin zu fahren, wo er Elisabeths Brief erhalten hatte. Ja, er hatte es sich sogar in den Kopf gesetzt, nach Hohenburg selbst zu gehen, sich in der Nähe ihrer Wohnung herumzu­treiben, sie vielleicht zu sehen ... sie recht fröhlich zu begrüßen . . . und dabei recht höhnisch anzusehen.

Mit solchen Gedanken saß er im Zug.

Doch die Fahrt machte ihn mehr und mehr apa­thisch. Es war ihm, als habe er Blei in den Gliedern

Müde schleppte er sich von der Bahnstation die Stunde Wegs zum Dorfe.

Am dreizehnten früh war er fortgefahren.

Am fünfzehnten gegen Mittag kam er zurück.

Als er sein Zimmer betrat, lag auf dem Tisch ein Brief.

Der dritte Brief!

Er hatte schwarze Ränder.

Aber Hans Ringer war alles so gleichgiltig, daß er ihn ohne weitere Erregung öffnete und las:

Erlenstadt, den dreizehnten August. Entsetz­liches hat sich ereignet. Maria ist gestorben.

auf den nackten Bodenwert gelegt, in Höhe von 1 für das Tausend würde alle Jahre 200 Millionen ergeben, ohne daß man die Lebenshaltung des Vol­kes zu erschweren brauchte. Als ein glänzendes prak­tisches Beispiel für die Durchführbarkeit nicht nur, sondren für die Berechtigung und Notwendigkeit der Bodenreformgedanken gilt das Blühen und die gedeihliche wirtschaftliche Verfassung unsres Pacht­gebietes Kiautschou. Im Zusammenhang damit gab der Redner eine orientierende Kritik des Wertzu­wachssteuergesetzes, insbesondere mit Bezug auf Württemberg und sein Parlament und gelangte dann zur eindrucksvollen, sachkundigen Darstellung der Folgen des heutigenBodenrechts". Er schloß mit dem Gedanken, daß von der Durchführung der Bodenreform Auf- und Niedergang des deutschen Volkes abhänge und wer das erkannt habe, der müsse zum Freund und Förderer der Bodenreformbe­wegung werden. Des Redners Verdienst ist, auch unter seinen wenigen Zuhörern Anhänger seiner Sache gewonnen zu haben überzeugt von der durchschlagenden Wahrheit seiner Worte waren alle Anwesenden. Es wäre sehr zu wünschen, daß die Calwer Bevölkerung mehr und mehr aus ihrer Zu­rückhaltung den Eeorgenäumsvorträgen gegenüber heraustritt, denn der Besuch des gestrigen stellte ih­rem Interesse an volkswirtschaftlichen Dingen, an Lebensfragen, kein günstiges Zeugnis aus.

Eine der D a m e n, die den Vortrag anhörte, wurde von ihm unbewegt, daß sie uns, noch unter seinem unmittelbaren Eind-Wh folgende Epistel an die, die es angeht, schreibt:

Äer heutige Abend brachte uns im Saal des George- näuitzMtn dem schon so viele schöne Vorträge gehalten wur­den, Wy wo schon so oft beherzigenswerte Worte an unser Ohr ÜM aen. einen ganz besonders interessanten Vortrag. Lei­der hHMas etwas wenig bekannte Thema, das schlechte Wetter und wohl auch der Umstand, daß nichts zu sehen war, (keine Lichtbilder usw), die sehr geringe Zahl von Zuhörern ver­schuldet. Es ist dies umsomehr zu bedauern, als der Vortrag so allgemein verständlich, nicht rein wissenschaftlich wie wohl manche glaubten, gehalten wurde und deutlich in seinem Ver­lauf zeigte, daß das behandelte Thema wirklich das Interesse eines jeden verdient und verdienen muß, der es gut mit sei­nem Volk und Vaterlande und mit dem sozialen Aufschwung desselben meint. Ich möchte, noch ganz unter dem Eindruck stehend, den das heute abend Gehörte auf mich gemacht hat, meine Mitbürger und -bürgerinnen, die es leider versäumt haben, selbst zu kommen, bitten: macht Euch doch, auf welche Art es immer sei, damit bekannt, was die Bodenreformer wollen, und wie das Ziel zu erreichen, das sie verfolgen, un­serem Volke bitter not tut, wenn es aus den ungesunden Fi­nanz- und Wirtschaftsverhältnissen, in denen es sich gegen­wärtig befindet, herauskommen will. Und dann, wenn wjeder irgend ein Vortrag im Georgenäum gehalten wird, auch wenn ihm ein allgemein geläufiges Thema zu Grunde liegt: laßt Euch nicht durch alle möglichen Gründe, auch nicht durch die Furcht, das Gebotene vielleicht nicht zu verstehen, abhalten, herzukommen u. zu hören. Gerade um Unverständliches verständlich, Unbekanntes bekannt und Wissenswertes zur all­gemeinen Kenntnis zu bringen, werden solche Vorträge ge­halten und dazu wurde die Georgenäumsstiftung gemacht, uni den Einwohnern Calws Gelegenheit zu geben, ihre Kenntnisse und ihre Bildung zu erweitern. Auch der Gebildetste wird immer noch etwas finden, was er nicht w ei-ß, aberwissensollte. Ehren wir doch den hoch- herzWUl Stifter des Georgenäums auch dadurch, daß wir von seinWtztiftung recht oft und gerne Gebrauch machen. Das värö'Mm sicher der liebste u. schönste Dank für seine edle Tat!

. ' - '

Heüke' Mittag zwölf Uhr . . . Am fünfzehnten! nachmittag vier Uhr wird sie beerdigt. O, daß Dein ElEeine solche Nachricht trüben muß. O komme doch! Ich bitte Dich! Meinhart."-

Der Brief entfiel seiner Hand.

Ist denn das alles wahr, oder ist es ein wüster, wirrer Traum?" Kann denn das.sein? Maria tot?"

Er starrte vor sich hin.

Dann hob er den Brief wieder auf, las ihn noch einmal und sah auf die Uhr.

Elf Uhr!

Er rief die Wirtin.

Sie kam und erschrak über sein verstörtes Aus­sehen.

Was ist Ihnen?" fragte sie besorgt.Sie haben eine Trauernachricht erhalten? Ich habe es an den schwarzen Rändern gesehen. Gestern ist der Brief ge­kommen. Ich habe ihn aber nicht nachschicken kön­nen. Ich habe ja nicht gewußt, wohin Sie gefahren sind."

Liebe Frau!" antwortete er.Sorgen Sie da­für, daß meine Sachen zusammengepackt und mir nachgeschickt werden. Und dann besorgen Sie mir gleich einen Wagen. Ich muß mit dem nächsten Zug fort."

Sie müssen zuerst etwas essen!"

Nein, Nein! Es ist höchste Zeit . . ."

Wieder mit dem Fuhrwerk zur Bahn, so schnell die Pferde laufen konnten.

iwb. Mutmaßliches Wetter. Für Donnerstag und Freitag ist neuerdings veränderliches, wenn auch noch vorherrschend trockenes Wetter zu erwarten.

Württemberg.

Der Kandidat des Zentrums.

Tuttlingen, 12. Nov. In einer gut besuchten Vertrauens­männerversammlung der Zentrumspartei wurde einstimmig be­schlossen, die Kandidatur zur bevorstehenden Landtagsersatz­wahl dem Schultheißen Heinkele in Wurmlingen O. A. Tutt­lingen anzutragen. Heinkele hat die Kandidatur angenom­men.

Mordprozeß Mack und Genossen.

II.

Stuttgart, 11. Nov. In der Zeugenvernehmung wurde fortgefahren. Zunächst wurden zwei Leu­mundszeugen für Klingler vernommen. Sein frühe­rer Hauptmann bezeugte, daß er sich als Unteroffizier vorzüglich geführt habe. Er sei das Gegenteil von brutal gewesen. Ein früherer Meister schilderte ihn als friedfertigen Menschen, der sich beherrschen konnte. Dann wurden Zeugen gehört über das Be­nehmen des Forstwarts Klingler im Dienst. Die Zeugen soll er bei Begegnungen im Wald grob an­gefahren haben und einmal in einer Wirtschaft ae- sagt haben, wenn er einen Wilderer treffe, dann sei er sein. Stationskommandant Ott gab Auskunft über ein Erlebnis, das er vor 22 Jahren mit dem. Vater des Mack im Walde hatte. Der Vater ist da­mals wegen Wilderei bestraft worden. Es folgten Leumundszeugen für Mack. Seine Arbeitgeber wa­ren mit ihm zufrieden. Er sei fleißig und nüchtern gewesen und habe nie Streit gehabt. Auch der An­geklagte Ruck wird als fleißiger und solider Mensch geschildert. Die Polizeidiener von Plattenhardt be­kundeten, daß sie mit den Angeklagten noch nichts zu tun gehabt hätten. Nach Verlesung des Augenschein­protokolls kam zur Sprache, daß im Rucksack des Klingler nur eine Patrone war. Der Sachverstän­dige, Hofgürtlermeister Stähle, äußerte sich dahin, der Kugelschuß auf den Forstwart aus nächster Nähe abgegeben worden sei. In der Leiche wurden Bvlverkörner festgestellt. Der Schrotschuß, den der Forstwart auf den Angeklagten Ruck abgegeben hat, ging zum Teil in die Tanne, hinter der Ruck stand, zum Teil in dessen rechten Ellenbogen. Der Sach­verständige ist der Ansicht, daß Ruck in Anschlagstel­lung war. Oberförster Psiitzner vertritt den gleichen Standpunkt. Der Angeklagte Ruck bleibt dabei, daß er nicht imAnschlag war. Auf die Frage eines Geschworenen erklärte der Sachverständige, daß es ziemlicher Kraft bedurfte, um die Gewehrkolben ab­zuschlagen. Medizinalrat Dr. Breit bekundete über den Befund der Leiche des Forstwarts: Der Schä­del zeigte zwei Sprünge, zwischen Knochenhaut und Schädel befand sich ein Bluterguß. Die Kugel zer­trümmerte das linke Schulterblatt und durchbohrte den Körper von oben links nach unten rechts. Die Schußverletzung war an sich schon tödlich. Durch die Kolbenschläge ist der Eintritt des Todes beschleunigt worden.

Der Fall Weit.

Stuttgart, 10. Nov. Vor dem Disziplinarhof für Körperschaftsbeamte fand heute die Verhandlung gegen den vom Amt suspendierten Schultheißen Her­mann Weik von Gochsen OA. Neckarsulm unter dem Vorsitz von Staatsrat v. Mosthaf statt. Der Ange­klagte war von Rechtsanwalt Haußmann vertreten. Die Verhandlung wurde teilweise unter Ausschluß

Mit Mühe wurde der Schnellzug erreicht.

Um halb drei Uhr war er in Erlenstadt.

Mit eilenden Schritten lief er durch die Stadt ins Unglückshaus.

Mit einem Ruck zog er an der Glocke.

Wie ein gellender, klagender Ruf klang es durchs Haus.

Die weinende Anna öffnete ihm.

Er trat ins Wohnzimmer. Es war leer.

Im anliegenden Gemach lag Maria aufgebahrt in einem weißen Sarge und angetan mit einem weißen Kleide. In den gefalteten Händen hielt sie ein Kruzifix und rote Rosen.

Als ob sie schliefe, lag sie da.

Hans Ringer sah niemand. Er sah nur sie.

Er sah die Mutter nicht, die mit versteinertem Gesicht am Fenster stand und hinaussah, er sah die weinenden Geschwister nicht. Er sah Friedrich Mein­hart nicht, der auf einem Stuhle saß, den Kopf in den Händen verborgen. Er sah die Frauen nicht, die gekommen waren, halb aus Mitleid, halb aus Neu­gier, und die nun leise über ihn redeten, daß er bei­nahe so bleich aussähe wie die Tote im Sarge.

Er sah nur Maria.

Blitzschnell tauchte vor seinem Geiste die Stunde auf, da er diesen Mund geküßt, da diese Arme sich um seinen Hals gelegt ....

Dann brach er bewußtlos zusammen.

Die letzten Tage waren zuviel für ihn gewesen.

(Fortsetzung im Zweiten Blatt.)