Württemberg.

Stuttgart, 30. Mai. Die Zweite Kammer nahm heute, wie gestern noch berichtet, den Antrag Kiene- Vogt, betr. Beibehaltung der Kreisregierungen an. Wiederum kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen. Hautzmann (V.). Liesching (V.) und Lindemann (S.) auf der einen Seite, und Vizepräsident Dr. v. Kiene fZ.) zusammen mit Rembold-Aalen (Z.j auf der an­dern, kreuzten die Klingen. Dabei erscheint namentlich der Herr Vizepräsident v. Kiene sehr erregt geworden zu sein, denn er zog sich zwei Ordnungsrufe zu, einen, als er sagte, den von Hautzmann eingeschlagenen Weg bei den Verhandlungen halte er für zu nieder, als datz er ihm darauf folge, den andern, als er Hautzmann mit dem Zuruf unterbrach:Das ist eine Lüge!" So etwas sollte einem Vizepräsidenten nicht Vorkommen; er hat dadurch die Würde seines Amtes und die des Landtags nicht zum besten gewahrt. Sachlich wurde dann ein Antrag des Abgeordneten v. Eautz (V.) erörtert: die Regierung möge prüfen, durch welche Maßregeln die Bewirtschaftung der Privatwälder ge­fördert werden kann und Vorkehrung treffen, datz die Privatwaldbesitzer bei der Bewirtschaftung ihres Be­sitzes beraten und unterstützt werden. Der Antrag wurde angenommen, nachdem Redner verschiedener Parteien sich für ihn ausgesprochen, aber betont hatten, datz auf die privaten Waldbesitzer kein Zwang ausgeübt wer­den solle. Auch Minister v. Fleischhauer erklärte, dem Antrag nicht entgegentreten zu wollen. Die Wei­terberatung wurde nach 1 Uhr auf morgen vormittag 9 Uhr vertagt.

Stuttgart, 31. Mai. Der Vizepräsident der Zwei­ten Kammer, v. Kiene, hat an den Präsidenten v. Kraut ein Schreiben gerichtet, in dem er ausführt, datz die Vorgänge in der Zweiten Kammer am Donners­tag und Freitag, insonderheit die vom Abgeordneten Hautzmann gegen ihn persönlich und seine Stellung gerichteten Angriffe und die ihm dadurch aufgedrungene scharfe Widerlegung ihm wohl den Gedanken hätten nahe­legen können, von seiner Vizepräsidentschaft zurückzu­treten. Aber die Art der rein persönlichen Vorwürfe und die vom Präsidenten gerügte, von ihm gebrauchten Wendungen gegen diese Vorwürfe ließen es ihm nicht als ausreichenden Grund erscheinen, den angedeuteten Schritt zu tun. Das Schreiben wurde der Kammer zur Kenntnis gebracht.

Eßlingen, 30. Mai. Gestern abend 7 Uhr erlitt der 18 Jahre alte Eraveurlehrling Heimerdinger beim Baden im Neckar einen Krampfanfall. Er rief längere Zeit um Hilfe und sank dann unter. Zahlreiche Bade­gäste und sonstiges Publikum sahen den jungen Mann mit dem Tode kämpfen und kamen nicht zu Hilfe. Der Badepächter selbst löste zwar, ebenso ein Angestellter der Baggerei, einen Nachen, kamen aber zu spät. Es dauerte einige Zeit, bis man den leblosen Körper im Wasser fand. Zwei Aerzte stellten Wiederbelebungs­versuche an, die leider vergeblich blieben.

Renningen, OA. Leonberg, 30. Mai. Auf dem hies. Rathaus hat sich ein verheirateter Einwohner selbst bezichtigt, vor 10 Jahren den großen Brand, dem 6 Gebäude zum Opfer fielen, gelegt zu haben. Der Mann, der übrigens Hornist bei der Feuerwehr war, bekam jetzt Gewissensbisse, die ihm keine Ruhe mehr ließen.

Böblingen, 30. Mai. In dem 20 Minuten von der Stadt entfernten, direkt am Wald gelegenen Jäger­haus, das zum Besitz des Mustergeflügelhofs von R. Faber gehört, brach Feuer aus. Das Haus wurde voll­ständig eingeäschert. Der Eebäudeschaden beträgt 17 800 Mark., Auch ist der Mobiliarschaden des Besitzers, so­wie des derzeitigen Verwalters Allweiler, beträchtlich, jedoch durch Versicherung gedeckt. Di Entstehungsursache des Brandes ist unbekannt.

Ludwigsburg, 30. Mai. Als die Sanitätskompagnie eine Uebung am Favoritepark vornahm, wurde eine Signalstange aufgerichtet, die mit der Leitung der Straßenbahn in Berührung kam. 5 Mann stürzten be­täubt nieder. Einer, der Soldat Stegmayer vom 180. Infanterieregiment, blieb tot auf dem Platze. Die 4 anderen erholten sich wieder im Lazarett.

Rottenburg, 29. Mai. Dem Tübinger Lokomotiv­führer Anton Krug, der neulich auf dem hiesigen Bahn­hof durch sein umsichtiges Verhalten die dem Nacht­schnellzug drohende Gefahr abwandte, ist von der Eene- raldirektion eine außerordentliche Belohnung bewilligt worden.

Freudenstadt, 30. Mai. Der angekllndigte Besuch des DelaglustschiffesSachsen" erfolgte heute aus Ba- den-Oos aber ohne Landung. Das Schiff kam vom Murgtal herauf, überflog die Stadt und zog sodann dem Kinzigtal zu.

Balingen, 31. Mai. An der Einweihung des Leip­ziger Völkerschlachtdenkmals wird auch ein Hundert­jähriger, der Wagner Johann Martin Sämann, aus Ostdors teilnehmen. Er ist am Tage der Völkerschlacht geboren.

Göppingen, 30. Mai. Das Gerücht von einem Ju­stizmord erregt gegenwärtig in verschiedenen Bezirks­orten lebhaft die Gemüter. Es wird davon gesprochen, datz vor 50 Jahren ein Schäfer aus Ohmden OA. Kirch- heim wegen Raubmords an Mitgliedern der Familie

Linsenmaier in Ohmden nach einem Markt in Kirch- heim vom Ulmer Schwurgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, obwohl er die Täterschaft be­stritt. Nun habe ein vor einigen Wochen in Al­bershausen verstorbener 92jähriger Mann, der gegen den Hingerichteten als Hauptbelastungszeuge auftrat, dem dortigen Pfarrer auf dem Sterbebett gebeichtet, datz er und nicht der Schäfer den Mord begangen habe. Nie­mand und am allerwenigsten der Pfarrer in Albers­hausen vermag die dem Verstorbenen in den Mund ge­legte Aussage zu bestätigen. Der Pfarrer erklärt, datz der Verstorbene ihm seine Beichte abgelegt habe. Hätte ihm dieser über einen begangenen Mord etwas aus­gesagt, so hätte ihm das Beichtgeheimnis eine Mit­teilung hierüber erlaubt, und er hätte dies auch schon längst getan. Dies sei aber nicht der Fall, was er vor Gericht unter Eid bestätigen könne. Damit fällt das Gerücht in sich zusammen.

A«» Wett und Zeit.

Berlin, 30. Mai. Der anziehende Punkt der heu­tigen Reichstagssitzung war die sozialdemokratische In­terpellation über die Ausnahmebestimmungen für El­saß-Lothringen. Vorher noch mutzte Staatssekretär des Auswärtigen von Jagow auf eine kleine Anfrage des fortschrittlich. Abgeordneten Müller-Meiningen antworten, der Auskunft über die zwischen der Türkei, England und Deutschland abgeschlossene Vereinbarung über die Bagdadbahn, nach der diese Bahn von Basra unter Zusicherung zweier englischer Mitglieder im Auf­sichtsrat gebaut werden kann, wünschte, v. Jagow be­merkte, datz Deutschland stets über die Verhandlungen zwischen England und der Türkei auf dem Laufenden gehalten worden sei. Sobald deutsche Rechte berührt werden, sei die Zustimmung des Deutschen Reiches er­forderlich und man habe auch einen Meinungsaus­tausch eingeleitet, über den zur Zeit noch keine Einzel­heiten mitgeteilt werden könnten. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz rief noch eine größere Aus­sprache hervor. Die Redner befleißigten sich stets der größten Kürze und es war daher möglich, datz man heute noch das Gesetz im ganzen annehmen konnte. Ebenso wurde das Gesetz betreffend die Wehrpflicht, un­verändert verabschiedet und um die fünfte Stunde konnte man noch mit der Beratung der sozialdemokratischen Interpellation beginnen. Der Reichskanzler stellte sich in seinen Ausführungen auf die Seite der elsatz-lothringischen Regierung und er betonte weiter­hin, er halte an der Auffassung fest, datz der Kern der elsatz-lothringischen Bevölkerung in friedlicher Arbeit lebe und die innere Verschmelzung mit dem Reiche fördern wolle. Der reichsländische Nationalismus schwelle dann stark an, wenn das Nationalgefühl in Frankreich besonders erregt sei. Die Bestimmungen rich­teten sich bloß gegen Elemente, die den Frieden stören wollten. Die Rede des Reichskanzlers wurde besonders von der Rechten des Hauses mit Beifall ausgenom­men, während die Linke und das Zentrum sich still ver­hielten. Der Zentrumsabgeordnete Fehrenbach, der nach dem Reichskanzler sprach, stellte sich im wesent­lichen auf den Standpunkt, datz ein genügender Grund für ein Ausnahmegesetz nicht bestehe. Nachdem der Ab­geordnete Oertel von den Konservativen gesprochen hatte, vertagte sich das Haus auf morgen Sonnabend.

Straßburg, 30. Mai. Beide Häuser des Landtags wurden heute abend durch den Staatssekretär Frei­herrn Zorn von Bulach geschlossen.

K-iel, 30. Mai. Der große KreuzerBlücher" ist heute nacht bei dichtem Nebel im großen Belt nördlich der Insel Romsö festgekommen. Das Schiff hat, so­weit bis jetzt festgestellt werden konnte, keine Beschädi­gungen erlitten. Hilfe ist abgegangen.

Wien, 30. Mai. Eine blutige Familientragödie spielte sich in einem Hotel auf den Wieden ab. Dort wurde die Frau Helene Maubach, geborene Freiin v. Bülow, von ihrer Schwester, einer Frau Türk, im Schlafe überfallen und durch Dolchstiche schwer verletzt. Frau Türk tötete sich dann selbst durch 12 Dolchstiche in Hals und Brust.

Wien, 30. Mai. Die Militärische Rundschau, das Organ des Kriegsministeriums, veröffentlicht folgende aufsehenerregende Mitteilung: In der Nacht von Sams­tag den 24. auf Sonntag den 25. Mai hat der gewesene Oberst des Eeneralstabs Redl durch Selbstmord in einem Wiener Hotel geendet. Redl hat diese Tat voll­führt, als man im Begriff war, ihn folgender schwerer und nunmehr außer Zweifel gestellter Verfehlungen zu überführen: 1. des homosexuellen Verkehrs, der ihn in finanzielle Schwierigkeiten brachte; 2. des Verkaufs dienstlicher Behelfe reservierter Natur an Agenten einer fremden Macht. Generalstabsoberst Redl, der sich vor einigen Tagen erschoß und vorgestern beerdigt wurde, war tatsächlich, wie jetzt nicht mehr bestritten wird, der Spionage zugunsten Rußlands überführt. Er miß­brauchte seine Stellung als Stabschef des Prager Korps seit 14 Jahren zum Landesverräte, zuerst um schwerer Geldklemme zu entkommen, sodann um seine jährlich bis 150 000 Kronen erfordernde Lebenshaltung zu be­streiten. Zuletzt wurde durch Ueberwachung seines Brief­wechsels seine verräterische Haltung festgestellt, und er durch List zu einer Unterredung mit einem Mittels­

manns nach Wien gelockt. Die Haussuchung in Prag erbrachte die Beweise zu seiner völligen Ueberführung. Anscheinend ließen ihm in Wien die ihn erwartenden Offiziere eine Browningpistole auf senem Zimmer zu­rück, mit der er sich vorgestern nacht erschoß. Das Be­gräbnis fand ohne alle militärischen Ehren statt.

Vourges, 30. Mai. Als der Fliegerleutnat Krey- der nach einem Flug über dem Polygon landen wollte, wurde sein Apparat 20 Meter über dem Erdboden von einer BL erfaßt und umgeworfen, Leutnant Kreyder stürzte ab und starb nach wenigen Minuten.

Gerichtssaal.

Stuttgart, 30. Mai. Vom Amtsgericht Herrenberg wurden am 21. Mai 8 Milchproduzenten von Kup­pingen, am 28. Mai eine Milchproduzentin von Has­lach und 4 weitere Milchproduzenten von Altingen zum Teil wegen vorsätzlicher, zum Teil wegen fahrlässiger Milchfälschung zu Geldstrafen verurteilt. Ebenso wur­den vom Amtsgericht Böblingen am 28. Mai 2 Produ­zenten von Aidlingen zu Geldstrafen, eine weitere wegen Milchfälschung erst im Jahre 1911 mit Geld vorbestrafte Produzentin zu 10 Tagen Gefängnis verurteilt.

Notteuburg, 30. Mai. Das hiesige Kgl. Schöffen­gericht hat die Bauersehefrau Maria Führer und die Taglöhnersehefrau Katharina Möck von Wurmlingen wegen je eines Vergehens der Milchfälschung zu der Geldstrafe von 30 °4l resp. 20 °4l, im Unvermögensfalle zu der Gefängnisstrafe von 6 und 4 Tagen und den Kosten des Verfahrens verurteilt.

Büchertisch.

Stuttgarter Ealeriepostkarten. Der Verlag L. Sch al­ler in Stuttgart zieht neuerdings mit seinen Reproduk­tionen aus der Stuttgarter Gemäldegalerie auf Postkarten­format die Augen aller derer auf sich, die gute Kunst billig unter das Volk zu bringen als eine Notwendigkeit und nur herzlich zu begrüßendes Beginnen erachten. Bei der Her­ausgabe der Ealeriepostkarten aber kommt für den Würt- temberger hinzu, datz ihm die Schätze, die in der Stutt­garter Galerie aufgespeichert, von der Kunst der schwäbischen Maler alter und neuer Zeit und anderer Großen reden und ihm getreue Abbilder des Ealeriebestandes geben. Der Würt- temberger kennt ja gar nicht die Werke der Galerie. Man frage nur bei den gebildeten Kreisen um und man wird er­schrecken darüber, wie sehr dürftig und ungebildet es da in dieser Beziehung noch aussieht. Wenn jetzt nun der be­kannte Stuttgarter Kunstverlag Schaller durch Kupferdruck­karten die Kunstwerke der Stuttgarter Bildergalerie in die breiteren Volksmassen bringt, so bedeutet das unzweifelhaft eine Popularisierung dieser Kunstwerke selbst, und die Karten sind teilweise so wohl gelungen, datz es ihren Beschauer reizt, die auf ihnen wiedergegebenen Bilder im Original zu sehen. Vor uns liegen sechs Serien, deren erste zurück- führt zu den schwäbischen Meistern um 1800, den Schick, Dieterich, Wächter und Hetsch, deren dritte die Bilder der Schwaben um 1870 bringt, und deren sechste und siebente der Neuen: Pleuers, Reinigers, Zügels, Haugs, Kellers und Landenbergers Schaffen zeigen. Serie zehn macht mit süd­deutschen Meistern um 1880 bekannt: Eysen, Leibl, Schuch, Thoma, Trübner, und die zwölfte Reihe endlich enthält Feuerbach und Uhde. Eine Reihe besteht in der Regel aus sechs Karten, die, in einer Mappe vereinigt, 60 Pfg. kosten. Alle Buchhandlungen legen die Mappen vor. Und wer Wert darauf legt, guten Geschmack auch bei Verschickung von Ansichtskarten zu betätigen, der möge sich des Schaller- schen Unternehmens erinnern. X. P. Z.

Bongs Schönbücherei. Wir begrüßen dieses Unternehmen um seiner großen Bedeutung für die geistige Kultur unseres deutschen Volkes willen. Das Deutsche Verlagshaus Bong k Co. läßt unter dem Sammelnamen Bongs Schönbücherei Bücher hinausgehen, deren jedes menschlich, geschichtlich oder kulturell interessante Themen in geschmackvoller Form be­handelt; mit Blütezeiten der Kultur, mit geistig oder ge­schichtlich hervorragenden Persönlichkeiten, mit den Haupt­strömungen in der Entwicklung der Menschheit soll der Leser leicht und bequem Fühlung gewinnen können. Uns wurden vorgelegt der erste BandGold gab ich für Eisen, ferner Briefe der Liebe",Lebensweisheit",Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit". Sämtliche Bücher sind stattliche Bände, um und über 400 Seiten stark, teilweise auch mit guten Litho­graphien ausgestattet. Sie kosten - man mutz es dem Ver­lag besonders danken je nur 2 °4l! Trotz einer soliden und geschmackvollen Einbanddecke und fleißig gearbeiteter Einleitungen von tüchtigen Kennern der verschiedenen Ma­terien. Wir werden vielleicht einen Abschnitt aus dem einen oder anderen der Bücher im Calwer Tagblatt veröffent­lichen für heute seien unsere Leser nachdrücklich auf diese einzigartigen, wertvollen Dokumente verklungener und gegen­wärtiger Kultur und Zeiten hingewiesen. X. Y. Z.

Für die Schriftleitung verantwortlich: Paul Kirchner.

Druck und Verlag der A. Oelschläger'schen Buchdruckerei.

Reklameteil.

AU 2871.6

^ HNdewZkk'ts KISkt'UNH fül'ttinöel'unsKl'SnKe