Samstag,
26. April 1913
Zweites Blatt zu Nr. 96.
Aus Höhen und Tiefen.
Wiegenlied.
Schlafe, mein kleiner, trotziger Wicht,
Schließe die Aeugelein zu,
Sonne die löscht bald ihr goldenes Licht,
Legt sich in Wolken zur Ruh.
Ueber dem Wasser die Ente schreit,
Fliegt noch im Abendschein,
Aber für dich ist es späte Zeit:
Schlafe, mein Kind, schlafe ein.
Drunten da flimmert's und schimmert's wie Schnee, Ringsum äugelt's so bunt;
Wiegt seine Wellenkinder der See,
Nicken die Blumen im Grund.
Ueber uns schaukelt der Weidenbaum,
Sitzen zwei Vögelein drein,
Klingen zwei Liedlein in deinen Traum:
Schlafe, mein Kind, schlafe ein.
Viktor Blut h gen.
Die letzte Ehrung.
Der Schusterjaklmichl, ein alter „Südwester", studiert die Zeitung. Auf einmal reißt er die. Augen weitmächtig auf und stiert auf zwei, drei WcuM^ die in großen Lettern verkünden:
Simon Toppers-.
So, so, der Simerl! Hat's 'n endlst derwischt, den Grasteufel, den elendigen!"
Dann geht der Schusterjaklmichl auf die Post und schreibt zwei Postkarten an frühere „Afrikaner", die mit ihm da unten waren und gegen Simon Topper in die Sandwüste zogen. Die eine geht an Herrn Alois Wurmbichler, Obermalzer in der Peschlbrauerei in Passau, und die andere an Herrn Kaspar Wachlmoser, Oekonomiebaumann bei Herrn Stefan Märtlbauer, Gutsbesitzer in Armelreiching. Die Adressen sind sauber geschrieben, und man merkt schon, daß es eine „offizielle" Mitteilung ist, die der Michel dem Loisl und dem Kaspar zu machen hat. Der Inhalt bestätigt dies auch: „Lieber Kamerad! Teile Dir mit, daß der Simon Topper zu den ewigen Heerscharen eingezogen ist. Die Leichenfeierlichkeiten finden am Sonntag, den l!l. April bei mir in Dommelstadl statt. Orden und Ehrenzeichen sind anzulegen. Es grüßt Dich auf Wiedersehen Dein alter Kamerad Schusterjaklmichel." Das Ganze wird dann mit Tinte trauermäßig umrändert. Am Sonntag in der Früh steigen der Loisl und der Kaspar in ihren besten Anzügen schon die Jnnleite herauf gen Dommelstadl.
Der Michel steht schon bereit mit drei alten, geladenen Hausgewehren. „Stillgestanden!" kommandiert er. „Kameraden! Wie ihr bereits wißt, ist das alte Scheusal tot. Aber jetzt, wo er tot ist, ist er kein Luder mehr, sondern ein Held. Ihr wißt, was wir wegen ihm durchgemacht haben. Und doch haben wir ihn in die Sandwüste gejagt. Wir sind die Sieger, und darum wollen wir ihn als Toten ehren. Gewehr in die Hand! Rechts hoch — legt an! Feuer! Laden!" Das dauert nun schon eine Weile, bis das Pulver in die Vorderlader gefüllt und Pfropfen und Kapsel aufgesetzt sind. Aber dann heißes wieder „Feuer!" und wieder „Laden!", und so dreimal, wie es sich gehört: „Drei Schuß ins kühle Grab, weil ich's verdienet Hab'." Und dann heißt's: „Kreis formiert!" und der Michel fordert die Kameraden zum „Kirchenzug" auf, wie es sich gebührt, und dem alten Sünder können ein paar Vaterunser nicht schaden. Nach dem Hochamt ist dann Leichenschmaus beim Metzgerwirt und ein Leichentrunk, der bis nach Mitternacht währt. Dabei werden Erinnerungen ausgetauscht; sie denken der gefallenen Brüder, sie reden vom Dursttod und von einem heißen, bitteren Fasten und schweren, schleppenden Streifzügen durch den Dornbusch. Und wie ich die Gesellen so reden hörte und trinken sah, dachte ich: Ihr seid wahrhaftig würdig Walhalls, ihr seid Helden germanischer Art. Die größte Heldenehre aber ist, den toten Feind ehren. Und das haben der Michl, der Loisl und der Kaspar getan in sinnig-ritterlicher Art als unverfälschte niederbayerische
j Recken. — So geschehen am Ul. April Anno Domini l 1!1U! zu Dommelstadl, Landgericht Passau, l Lieb Vaterland, magst ruhig sein.
^ R. Sch.. H. in den „Münch. N. N."
! Pferdelos im Kriege. Aus Eallipoli, der Landzunge, die i vom Golf von Saros und der Dardanellenstraße umspült ! ist und im gegenwärtigen türkisch-bulgarischen Krieg beinahe j eine Rolle gespielt hätte, wenn — ja, wenn die türkischen ! Truppen heute vom Geiste eines Enver Bei oder Muchtar Pascha wären, schreibt der Korrespondent der „Köln. Zeitung" seinem Blatte ein Stimmungsbild, aus dem wir folgende lesenswerte Schilderung herausgreifen: Ich besuchte am Nachmittag das Pferdekrankenhaus, ein bekannter Roßarzt hatte mich hierzu eingeladen. Unten am Strand in der Bucht zwischen Eallipoli und Beilick liegen in fünf großen Holzbaracken die kranken Tiere. Die erste Abteilung ist für ansteckende Krankheiten bestimmt — wie Rotz und andere derartige Schrecken der Pferdebesitzer —, die andern für ungefährliche Kranke und Verwundete. In der Mittlern Baracke befindet sich die Apotheke. Was ich hier sah, war wenig Schönes. Die armen Pferde waren in einem ganz erbärmlichen Zustande, die meisten mit wunden Rücken. Wie üblich, werden zu Transporten den Tieren mit Stroh gefütterte Holzsüttel aufgelegt, und dann wird ohne Rücksicht auf die Stärke des Tieres aufgeladen was nur geht, niemand schaut darauf, ob der Sattel auch in Ordnung und ob das arme Tier nicht das Holz direkt auf dem Rücken trägt. Dann wird losgezogen vom Morgen bis Abend. Jetzt kommt die Ruhepause, d. h. für den Menschen, dem Tiere nimmt man den Sattel nicht ab. Futter gibt es auch wenig, und wenn es regnet oder schneit, denkt niemand daran, den Rücken des Pferdes zu decken, es ist ja doch nur ein „Haiwan", und das geht so lange weiter, bis das Tier entweder zu- sammenüricht, oder bis ihm das Blut aus seinen offenen Wunden herunterrinnt, dann kommt es ins Spital. Von diesen armen Geschöpfen steht hier eine ganze Menge. Manche haben tiefe Löcher im Rücken, andern fehlen große Fellstücke, wieder andere sind nackt, sie haben die ganzen Haare verloren. Da steht ein Maulesel, ein herrliches Exemplar, er hatte einen Schrapnellsplitter im Kopfe. Man hat ihn operiert, und er scheint gesund zu werden, ist auch schon ganz lustig. Sein Nachbar, ein armer, alter Gaul, hat einen Schuß durch den Rücken, gerade unter dem Rückgrat, daneben wieder ein armes Tier mit einem Gewehrschuß, es schaut sehr traurig darein und denkt wohl nicht mehr an Heilung. Zu Hunderten stehen sie dann, krank, verwundet und hungrig. Hungrig, auch hier im Krankenhaus, es fehlt an Pferdefutter. Stroh und Heu gibt es nicht mehr, Gerste und Hafer zu wenig, und so nagen die armen Tiere an den Holzkrippen, sie haben schon ganze Löcher in die Bretter gefressen, sie beißen sich vor Hunger gegenseitig die Schweife ab, und wenn nicht bald Friede geschlossen wird, dann werden die Pferde ihre eigenen Baracken auffressen und dann wieder im Freien stehen. Neben diesen Stallungen sieht man ein memento mori, eine ziemlich geräumliche Gerberei. Hier werden nur Pferdehäute bearbeitet. Für 1 bis 1j<> kauft der Besitzer die toten Pferde und verkauft die Häute später mit 70 Piaster und mehr, das heißt 12 bis 15 — ein ganz gutes Geschäft! Ich unterhalte mich mit dem 8 oit-eÜ 83 nt Fabrikanten, und er verriet mir, daß das Leder hauptsächlich für Jnnenleder der Schuhe benutzt wird, was mir recht interessant war, denn nun weiß ich erst, daß man das lebendige Pferd reitet und das tote geht. Das Personal der Gerberei ist vermehrt, da man auf große Beschäftigung hofft, und der gute Spekulant dürfte sich nicht getäuscht haben. 12 000 Pferde befinden sich in Eallipoli und Bulair. Bei der Fütterung mit Holz und Pferdeschwänzcn darf man sich nicht wundern, wenn davon die Hälfte eingeht.
„Landschaftlich hervorragend." Von Dr. Karl Storck. Das Spandauer Schöffengericht hat dieser Tage ein Urteil gefällt, das alle Freunde der Natur mit tiefer Besorgnis erfüllen muß, denn dadurch wird der geringe Schutz der Natur, den bisher die Gesetze gegen die rücksichtslose Eeschäftsgier kaltherziger Unternehmer zu gewähren schienen, so gut wie wirkungslos. Amtsvorsteher und Kreisausschuß hatten die Entfernung einiger Reklameschilder verfügt, die von einem Geschäfte auf den Wiesen am Brieselang in kurzer Entfernung von der Berlin—Hamburger Eisenbahn aufgestellt worden waren. Die Verordnung wurde wie üblich damit be
gründet, daß diese Schilder das Landschaftsbild verunstalteten. Bei der angerufenen richterlichen Entscheidung machte der Verteidiger der Eeschäftsunternehmer mit Erfolg darauf aufmerksam, daß in den Verordnungen, durch die die Landschaft vor Verunstaltung geschützt werden solle, nur von „hervorragenden" Landschaften die Rede sei. „Eine landschaftlich hervorragende Gegend seien aber die Wiesenflächen am Brieselang nicht. Wirklich hervorragende Landschaftsschönheiten finde man in Deutschland höchstens am Rhein, im Harz und im Riesengebirge." Das Schöffengericht schloß sich diesen Darlegungen an, und so können die Schilder also stehen bleiben.
Es kommt hier nicht darauf an, den Verteidigern und dem Schöffengericht eine etwas bessere Meinung vom landschaftlichen Reichtum des deutschen Vaterlandes beizubringen. Viel wichtiger ist, daß die Allgemeinheit an einem solchen Beispiele erkenne, wie beschränkt und dumm diese katalogisierende und zensierende Tätigkeit der Natur gegenüber ist. Fand sich denn keiner, der diesem Gerichtshöfe bewies, daß die Anschauungen über das, was landschaftlich schön sei, dauerndem Wechsel unterworfen sind, so daß z. B. zwischen den ersten und den späteren Auflagen des Reisehandbuches von Baedeker ganz klaffende Unterschiede in der Beurteilung der landschaftlichen Schönheit, in der Verteilung der ja auch für jeden wirklichen Naturfreund lächerlichen Aufzeichnungssternchen bestehen?! Und ein Blick in die Landschaftsmalerei zeigt auch, wie bei Künstlern und Empfängern die Vorstellung von dem, was landschaftlich schön ist, dauernd wechselt.
Nun aber kommt noch eins dazu. Wir sind doch nicht ein Volk von Reisenden, oder das Reisen ist doch noch nicht der Normalzustand des Deutschen. Infolgedessen vollzieht sich das Erleben der Natur für jeden an seiner Heimatstätte. Und daß das Wort „Heimat" kein leerer Wahn ist, zeigt sich gerade darin, daß die Natur der Heimat uns jene intimen Schönheiten erschließt, die dem Auge des flüchtig Durchreisenden entgehen, dis sich sonst nur dem besonders begnadeten Künstlerauge oder dem durch Liebe geschulten Blick des Naturfreundes offenbaren. Aber gerade diese Heimat wird nun überall in unserem Vaterlande den Bewohnern verschandelt. Die Störung, die solche Schilder dem rasch Vorüberreisenden bringen, wäre noch zu ertragen. Der ständig am Ort Wohnende ist der wirklich Leidtragende; ihm wird die Freude an seiner Heimat gründlich verdorben.
Aber selbst wenn um die unglückliche wörtliche Auslegung eines Gesetzes nicht herumzukommen ist, so wäre doch zu betonen, daß auch hier alles relativ ist. Innerhalb der Mark Brandenburg ist der Brieselang mit seinen saftigen Wiesen, den stillen, buschumsäumten Fluß- lüufen, den dichten, waldigen Hintergründen eine „Hervorragend" schöne Landschaft.
Es wird auch hier nur ein Mittel der Abwehr geben. Wir schützen die Natur überhaupt gegen diese Verunstaltung. Der Geschäftsgeist findet Mittel und Wege genug, sich an uns heranzudrängen. Dagegen gibt es täglich der Mittel und Wege weniger, auf denen der gehetzte Mensch von heute zur Natur gelangen kann. Für den wirklich empfindenden Menschen gibt es überhaupt keine Landschaft, die nicht in diesem Sinne als hervorragend schön geschützt werden müßte.
Der hilfreiche Nachtwächter. In einem größeren Dorfe Nordfricslands ereignete sich kürzlich, wie die „Kieler Zeitung" erzählt, folgender heitere Vorfall: Ein Landmann, der gerne eine Partie Whist spielte, hatte bei der Freude am Spiel immer den unangenehmen Gedanken: Was wird meine Frau sagen, wenn ich wieder so spät nach Hause komme? „Es ist zu dumm," sagte eines Abends der Land- mann, als die Uhr auf drei ging, „erst heute abend habe ich meiner Frau versprochen, punkt zwölf Uhr zu Hause zu sein und jetzt . . .!" Der Nachtwächter des Ortes, der zufällig auch in der Wirtschaft anwesend war, wußte aber guten Rat. „Bleib nur ruhig noch ein Stündchen sitzen," sagte er, „ich gehe mit, und du sollst mal sehen, wie fein du von deiner Alten ausgenommen wirst." Bald nach drei Uhr machten sich die beiden dann auf den Weg, und bei der einsam gelegenen Wohnung des Landmannes rief der Wächter mehrere Male sehr laut: „De Klock hett twölf flau, twölf is de Klock." Als der Landmann dann in die dunkle Schlafkammer eingetreten war, soll die Frau sich über sein rechtzeitiges Kommen sehr lobend ausgesprochen haben.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Paul Kirchner. > Druck und Verlag der A. Oelschläger'schen Buchdruckerei.