Samstag,

1. März 1913.

Zweites Blatt zu Nr. 50.

Aus Höhen und Tiefen.

Die beiden Alten.

t^ehn' deinen Kopf an mich, du liebe Alte,

Und denk' einmal der schweren Sorge nicht!

Sie grub dir, ach, so manche tiefe Falte Erbarmungslos ins freundliche Gesicht.

Wo sind die Augen, die es einst verstanden,

So glücklich in die Welt hineinzuschau'n,

Und immer wieder frische Rosen fanden An jeder Hecke und an jedem Zaun?

Was suchen sie in weiter, weiter Ferne Das Fünkchen, das im Winternebel flirrt?

Sie sind so müd, die beiden Augensterne,

Wie Kinder, die im Schneesturm sich verirrt.

Und sahst du nach des Sonnenglückes Funkeln Vom Morgen bis zur Nacht vergeblich aus,

Sei doch getrost und glaub' mir: auch im Dunkeln Führt uns der Weg zu guter Letzt nach Haus!

Deutsche Erzieherinnen und Haushaltungsstützen in Paris. Die seit einigen Jahren in Paris wohnhafte deutsche Schriftstellerin Frau Marie Luise Becker, Witwe des Dich­ters Wolfgang Kirchbach, hat unlängst in denMünchener Neuesten Nachrichten" eine Warnung an deutsche Mädchen vor dem unbedachten Annehmen sogenannterAu pair"- Stellen in Paris veröffentlicht und dabei im wesentlichen folgendes ausgeführt: Jahr für Jahr wächst das Heer der deutschen Mädchen stärker an, die nach Paris gehen, um sich in der Sprache zu vervollkommnen, unddie blonden Eret- chen" aus Deutschland nehmen einen großen Platz ein in der dienenden Bevölkerung von Paris. Jawohl: in der dienenden. Denn ein Mädchen, das von seiner Familie fort um einen Broterwerb in eine Stellung geht, ist in Paris gesellschaftlich deklassiert. Besonders, wenn es in die Fa­milie eintritt. Es ist nun in Deutschland die Annahme ver­breitet, daß es das bequemste Mittel sei, deutsche junge Da­men in Parisstudieren" odersich vervollkommnen" zu lassen, indem man sie in eine Familie au pair, das heißt ohne Gehalt, gibt. Das erspart den Eltern selbst die Unter­haltungskosten und gibt ihnen scheinbar die Sicherheit, die Tochter gut aufgehoben und gut behandelt zu wissen. Das verfluchte veraltete Sparsystem bei der Erziehung von Mäd­chen spielt bei diesem leichtsinnigen Treiben der Eltern die Hauptrolle. Für einen Sohn, der diese oder jene Laufbahn ergreift, muß das zur Verfügung stehen, was er braucht das Mädchen dagegen muß sich einrichten. Man gibt ihr das Reisegeld und vielleicht noch ein paar hundert Mark; bis sie eine Stelle hat, hat sie zu leben. Aber sie müßte eben gerade Geld haben, wenn sie eine Stelle hat. Ihre paar hundert Mark verrinnen in dem teuren Paris wie Butter in der Sonne. Die Stellen sind auch nicht immer so da, wie man will. Im Sommer bis tief in den Herbst hinein ist tote Zeit, auch auf Stunden ist bis in den Januar hinein nicht zu rechnen. Bekommt sie schließlich eine gu pair-Stellung, so zeigt man ihr ein hübsches Zimmer und sichert ihr für ihre Studien und andere Unterrichtsstunden freie Zeit zu. Das Leben ist teuer in Paris, da wird die freie Wohnung, das Essen und Trinken ungeheuer bewertet. Wenigstens den Ausländerinnen gegenüber. Eine Französin würde nie eine gu pair-Stelle annehmen oder dort etwas tun. Jede Französin läßt sich ihre Arbeit, wie immer sie sei, so hoch wie möglich bezahlen, und blickt darum verächt­lich auf die Deutsche, die ohne Lohn arbeitet. Denn arbeiten muß sie! Au pair ist ein weiter Begriff, und in Bürger­familien, in denen es einigermaßen knapp hergeht, spart man am Esten, um den Aufwand nach außen und die Mit­gift der Töchter zu bestreiten. Familien in guten, soliden Verhältnissen nehmen keine au puir-Stützen, sondern gut bezahlte Kräfte. Und es gibt natürlich in Paris eine Reihe sehr guter Stellen, obgleich das junge deutsche Mädchen fast "sd Familienanschluß in deutschem Sinne findet. Die fran­zösische Familie ist so streng in sich geschlossen, daß jede fremde nur immer die Angestellte bleibt, und alle Empfind­lichkeiten dort unangebracht sind. Aber gerade die Familien,

die sparen wollen, deren Geld nicht für den Aufwand reicht, den sie machen, nehmen die Ausländerin, das uu pair-Fräu- lein. Wenn sie ein bis zwei Wochen da ist und sich wohl und geborgen fühlt, wirdzufällig" das Dienstmädchen ent­lassen und Fräulein mußvorübergehend" alle Arbeiten tun. Dabei bleibt es denn, wenn das junge Mädchen nicht die Mittel hat, fortzugehen oder mit einer Kündigung zu drohen. Die geprüfte Erzieherin hat Teller zu waschen, Zimmer zu reinigen, Stiefel zu putzen und man hält sie in Schach damit, daß man ihr droht,keine Empfehlung" zu geben. Denn die Empfehlung ist in Paris alles, das deutsche Zeugnis nichts. Auch ihr Zimmer muß sie einer durchreisen­den Tante oder einem heimkehrenden Sohn geben und oben in den sechsten Stock ziehen, wo die Dienstmädchen des Hau­ses mit ihren Liebhabern nächtliche Orgien feiern. Dienst­mädchen sind sehr teuer in Paris und stellen große Ansprüche. Da ist das deutsche Fräulein viel billiger, sie mutz mit allem zufrieden sein, was man ihr gönnt, und kann außerdem noch als Gesellschafterin die Töchter begleiten. Denn kein heirats­fähiges junges Mädchen, selbst der mittleren Bürgerfami­lien, geht in Paris ohne Begleitung aus. Dann aber ist sie in einem neuen Konflikt: sie soll die Tochter behüten, und die Tochter hat ihre kleinen Geheimnisse und Rendez­vous und wird viel eher die Lehrmeisterin des deutschen Kretchens. Die Heime tun, was sie können, aber das meiste erfahren sie gar nicht, und die Spur von Tausenden verliert sich in den Tiefen von Paris. Wie manche findet nicht mehr nach Deutschland heim, wie manche kehrt heim mit gebrochenen Flügeln, und wie manches Kind einer deutschen! hilflosen jungen Mutter wird in der A83i8tsncs publique erzogen! Sie sind eine so leichte Beute für die Verführung, die sich hier in so feurige Worte und so flammende Gesten kleidet! Täglich bröckelt das Leben um sie her, das andere Moralgesetze hat, mehr ab von den deutschen Grundsätzen, mit denen sie Herkain. Wer seine Tochter zu Studienzwecken nach Paris schickt, soll sehr überlegen, ob sie auch energisch, willensstark und konzentriert genug ist, um allen Versuchun­gen dort, die die luxuriöse Weltstadt, das entnervende Klima, die andere Lebensauffassung, die anderen Sitten ihr bieten, gewachsen ist. Eltern sollen sich klar machen, daß sie für ihre Tochter auch in ihrem Hause erhebliche Auf­wendungen zu machen hätten, und sollen eine entsprechende Summe für sie auf einer Pariser Bank deponieren, so daß sie Heimreisen kann, wenn sie merkt, daß Paris ihr über den Kopf wächst! und daß sie aus einem Hause sich entfernen kann, wenn sie merkt, daß dort ihre Rechte nicht gewahrt werden oder ihr Ruf und ihre Tugend in Gefahr gerät. Die Bank kann die Eltern von jeder abgehobenen Summe be­nachrichtigen, und so bleibt die Kontrolle über das Leben ihres Kindes. Und nur mit einer solchen gesunden Grund, läge ist die Existenz des deutschen Mädchens in Paris möglich.

Kaiser und Lotse. Durch die nordische Presse ging dieser Tage eine seltsame Geschichte von dem letzten Besuch der Kaiserjacht Hohenzollern in einem norwegischen Fjord, die der Vossischen Zeitung wie folgt erzählt wird: Der Kaiser, der sehr ungeduldig war, weil seiner Ansicht nach die Fahrt der Kaiserjacht beim Einpassieren durch den engen Fjord viel zu langsam vor sich ging, begab sich zum Maschinentelegra­phen des Schiffes und stellte den Zeiger aufVolle Fahrt vorwärts". Zum größten Erstaunen des Kaisers ging der norwegische Lotse, der an Bord war, ein wettergebräunter, ruhiger Seemann von echt nordischem Typ, der den gefähr­lichen Fjord-Einlauf wohl kannte, sofort zum Sprechrohr und rief dem Maschinisten zu:Halbe Geschwindigkeit! Küm­mern Sie sich nicht um den Maschinentelegraphen!" Der Kaiser rief dem Lotsen zu:Wie können Sie wagen, meinem Befehl zuwider zu handeln?" und wollte wiederum durch den Maschinentelegraphen Gegenbefehl geben. Das hatte aber nur zur Folge, daß der Lotse zum zweitenmal durchs Sprachrohr rief:Richten Sie sich nur nach mir und nicht nach dem Maschinentelegraphen!" Als der Kaiser dies hörte, befahl er dem Lotsen, sich sofort zum Arrest zu melden. Hier­auf hatte aber der Lotse nur die Antwort:Ich bitte Sie, die Kommandobrücke zu verlassen, Majestät! Das Fahrzeug steht jetzt unter meiner Verantwortung, und so lange ich die Verantwortung trage, muß ich verlangen, daß meine Befehle von allen ohne Ausnahme respektiert werden." Der Lotse blieb ruhig auf seinem Posten und gab dem Maschi­

nisten seine weiteren Befehle. Der Kaiser war während der übrigen Fahrt sehr schweigsam. An dem nächsten Tage, als er auf das Deck kam, rief er den Lotsen zu sich, rühmte sein korrektes Auftreten und gab ihm eine sichtbare Auszeichnung.

ep. Der Ev. Gustav Adolf-Verein in Württemberg gibt anläßlich der bevorstehenden Einführung eines neuen Ge­sangbuchs und Choralbuchs bekannt, daß er für portofreie Einsendung von Gesangbüchern (auch Choralbüchern) der bisherigen Art zur Verteilung in der ev. Diaspora dankbar wäre, jedoch nur für ganz gut erhaltene Exemplare. Adresse: Expedition des Württ. Gustav Adolf-Vereins, Stuttgart, Lhristophstr. 26.

Vüchertisch

Der Württembergische Landtag 19121917. Mit Porträts und einem Sitzungsplan. Taschenformat. Preis 1 olt. (Verlegt bei W. Kohlhammer, Stuttgart.) Die hand­liche Broschüre gibt in Form eines statistisch-biographischen Handbuchs zunächst einen kurzen Ueberblick über die gesetz­lichen Grundlagen der Landstände und über die Geschäfts­ordnungen der Kammern. Dann schließt sich eine Beschrei­bung der ständischen Einrichtungen (Staatsschuldenkasse, Ständische Kasse, Ständische Beamte, Ständischer Ausschuß) an. Wir empfehlen jedem Zeitungsleser das gut orientie­rende Büchlein.

Sprachstudium. üe Drackucteur, Dke Dran^ator, II Trackuttore, drei Halbmonatsschriften zum Studium der französischen, englischen, italienischen und deutschen Sprache. Diese Lehrschriften, deren erstere soeben den 21. Jahrgang antritt, machen sich zur Aufgabe, das Studium der fremden Sprachen, wenn Vorkenntnisse schon vorhanden sind, auf interessante und unterhaltende Weise weiterzuführen. Probe- . nummern für Französisch, Englisch oder Italienisch kostenlos durch den Verlag des Traducteur in La Chaux-de-Fonds (Schweiz).

Vom Balkan krieg.

Belgrad, 27. Febr. Die Zeitung Stampa bringt aus dem montenegrinischen Hauptquartier vor Skutari eine hier tiefen Eindruck machende Privatmeldung. Danach wäre der Nachtkampf zwischen dem 8. und 9. Februar vor Skutari für die serbischen Truppen schrecklich gewesen. Sie hätten trotz musterhafter Unerschrockenheit wegen Mangels an ge­eigneten Geschützen zurückgehen müssen. 67Ü Offiziere und Mannschaften seien verwundet und 640 von den Türken ge­fangen genommen worden. Weil in Skutari Proviantmangel herrsche, so bestehe große Sorge um die Gefangenen. 200 Mann seien gefallen, 20 in den Sümpfen umgekommen. Groß sei besonders der Verlust an Offizieren.

Belgrad, 27. Febr. Hier herrscht seit gestern gedrückte Stimmung in den politischen Kreisen, weil die Nachrichten über die diplomatischen Absichten, vielleicht auch schon ge­faßte Beschlüsse, für Serbien nicht erfreulich sind. Man stellt sich die Frage, ob Rußland wirklich diesmal für Serbien sein Wort in die Wagschale werfen oder den österreichisch­ungarischen Wünschen nachgeben werde. Gestern abend ging das Gerücht, der Friede mit der Türkei sei bereits in den Hauptpunkten abgeschlossen. Damit brachte man die An­wesenheit des bulgarischen Generals Paprikow sowie die Verlegung des serbischen Hauptquartiers von Uesküb nach Nisch in Zusammenhang. Auch ist man unzufrieden darüber, daß die Regierung keine bestimmte Stellung zu den Gerüch­ten nimmt, wonach Monastir angeblich trotz der bisherigen Verwaltung durch Serbien nach dem Friedensschluß an Bul­garien fallen solle.

Für die Schriftleitung verantwortlich: Paul Kirchner. Druck und Verlag der A. Oelschläger'schen Buchdruckerei.

Reklameteil.