Zum Jahreswechsel!
Das verklingende Jahr 1928 ist das zehnte FriedenSjahr feit dem Ende des großen Krieges gewesen. Blickt man zur Jahreswende gewöhnlich nur auf die Geschehnisse von zwölf Monaten zurück, so umfassen Heuer die rückwärts gerichteten Gedanken das ganze vergangene Dezennium. Wir ziehen kurz die Bilanz dessen, was seitdem geschah: Dem Grausen des Krieges folgte unmittelbar das Ringen mit dem Jammer der Niederlage. Fünf volle Jahre lang, über den drohenden Bürgerkrieg hinweg, durch alle Schrecken der Inflation, durch den Ruhrkampf hindurch, bis zum Ende des JahreS 1928, als Deutschland völlig am Boden lag, die Währung zerstört ivar, das Reich vom letzten, vollständigen Zerfall bedroht schien, und das Chaos sich ankündtgte. Dann erst kam die Wende. Furchtbar war der Fall nach dem Ende des Krieges, fünf lange Jahre hindurch. Danach aber, »ach Währungsordnung und Dawes-Plan, kamen andere fünf Jahre einer materiellen Gesundung: sie hat, wenn auch noch so manches zu wünschen übrig bleibt, doch nach so tiefem Niederbruch schon wieder zu erstaunlichen Ergebnissen geführt. Man muß bei all dem die gigantischen Opfer an seelischer und physischer Kraft ermessen, die auf diesem Wege liegen. 1 Süll OVO deutsche Männer gefallen, weitere Hnn- derttausende von Männern, Frauen und Kindern daheim durch Seuchen und Mangel vorzeitig dahingerafft und die Ueberlebenden körperlich geschwächt und seelisch erschöpft: das war die Bilanz des Krieges. Und dann weiter Verziveif- lung, Elend und Not und die Einsetzung aller Köpfe und Hände einfach für die Ueberwindung dieser Not, für die Fri. stnng des nackten Daseins zuerst und für den wirtschaftlich«. Aufbau danach: das war Deutschland seit 1918. Daran muß man stets denken, um gerecht zu beurteilen, was für den Neuaufbau geleistet und was dafür noch nicht geleistet worden tsi. Vieles fehlt noch, und manches blieb unvollendet in Ansätzen stecken. Wir müssen es zum guten Ende bringen! An der Schwelle des Jahres 1929, in dessen Verlaus endlich die Regelung der brennendsten politischen Fragen Deutschlands zu errvarten ist, der Reparations- und Räumungs
frage, will manchen Mutlosigkeit ob der Fülle der erlittenen Enttäuschungen befallen. Nach dem ungeheuren Kraftaufwand der verflossenen zehn Jahre, nach dem erstaunlich lcbensstarken Auftrieb, kraft dessen das deutsche Volk bisher alle Widerstände niedcrrang, haben wir aber die Berechtigung zur Mutlosigkeit verloren. Immer noch leben wir in einer Notzeit, in einer Kampfzeit. Sie braucht notgehärtete Menschen: Vorwärts und aufwärts muß auch die Parole fiir das Jahr 1929 sein!
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Das „Cal wer Tagblatt", die Heimätzeituug des Bezirks Calw, hat all die schweren Jahre hindurch getreulich die Stationen des Leidensweges des deutschen Volkes ausgezeichnet: manch bitteren Fehlschlag und nur wenige Helle Lichtblicke, doch es ging vorwärts. Die Not in der Heimat wie im großen Vaterland sprach aus den Spalten des Blattes, und immer noch, trotz lüjährigen Friedens und wirtschaftlichen. Aufschwungs, muß es von harten Kämpfen um Dasein, Geltung und wahre Freiheit berichten. Die groben Fragen des Jahres 1929 führen uns in einen neuen, ernsten Abschnitt der Aufbauarbeit, sie erfordern darum die Anteilnahme des gesamten deutschen Volkes. Das ..Calwcr Tagblatt" wird bemüht sein, seine Leser über die kommenden politischen Vorgänge, welche an den Lebensnerv von Staat und Wirtschaft rühren, sachlich und gewissenhaft zu berichten: daneben wirb es als Heimatblatt stets einen zuverlässigen Überblick über das Leben im Bezirk »»ermitteln und auch fernerhin die Wünsche und Sorgen der Bezirksbevölkerung zur Geltung bringen. Das „Calwcr Tagblatt" will in allen Fragen des Lebens ein treuer Berater und guter Haus, freund sein, dem sich keine Familie im Bezirk verschließen möge.
Zum Jahreswechsel beglückwünschen wir unsere Leser und Mitarbeiter herzlich und glauben uns einig mit ihnen in dem Wunsche, daß das Jahr 1929 das deutsche Vatert'nö um einen weiteren Abschnitt vorwärts bringen möge auf dem Weg zum guten Ende.
Verlaq und Schriflleitunq des „Calwer Taqblall"
Prälat Kaas über das Konkordat
In Trier sprach kürzlich Prälat Dr. Kaas, der neue Vorsitzende der Zentrumspartei, über Wesen »nd Jnhatt -es Konkordats. Er führte aus: !
Die Revolution habe vom staatsrechtlichen Standpunkt aus gesehen, Verhältnisse geschaffen, die es begreiflich erscheinen ließ, daß der Heilige Stuhl die Konzession des . vergangenen Jahrhunderts nicht mehr einhalten zu könne« erklärte. Wenn man z. B. einem verantwortlichen Monarchen einen Einfluß auf die Besetzung der Bischofsstellc» einräume, so sei das heute bet einem parlamentarisch re!- gierten Staate, wo man mit einem kirchenfeindi-che,' Kultusministerium rechnen müsse, nicht mehr möglich. Die Tatsache auf jeden Fall bestehe, daß eine neue Vereinbarung und Modernisierung der früheren Bestimmungen ein Gebot der Notwendigkeit sei. Tie neue staatliche Verfassung habe der Kirche eine Freiheit gebracht, die es dem Staate unmöglich mache, die Einflußnahme auf kirchliches Gebiet als »in Recht z« fordern, das er früher aus Grund der bestehenden Staatsrechte als selbstverständlich betrachtete. Durch ein Reichskonkordat würden die Verhältnisse der Diasporastaaten erfaßt, so bah dort wenigstens eine gewisse Grundlage für die Pflege des Konkordatsgedankens hätte gr'ckis- fen werden können. Auch die inneren Verhältnisse im Deutschen Reiche drängten weiter notwendig auf den Abschluß von Länderkonkordaten hin.
Der österreichische Bundespräsident
zur Anschlußfrage >
TU. Wien, 28. Dez. Der österreichische Bundeskanzler Miklas veröffentlichte in der Salzburger Chronik einen Weihnachtsartikel, in dem er auf die Zugehörigkeit beH österreichischen Stammes zum großen deutschen Volke hinweist. In dem Artikel heißt es u.,a., daß die Festtage des Sommers dem österreichischen Volke den klaren Zusämmen- klang ihrer Herzen mit denen der Brüder im Deutschest Reiche gezeigt Härten. Wenn auch Grenzpfähle beide Länder trennten, so gehörten doch alle zusammen zu einem Volke.
Wechsel des französischen Botschafters in Berlin?
TU. Paris, 28. Dez. In Pariser neutralen Kreisen erhält sich hartnäckig bas Gerücht, daß der französische Botschafter in Berlin, Herr de Margerie, demnächst aus persönlichen Gründen seinen Posten verlassen soll. Als sein Nachfolger wird in erster Linie der Kopenhagener französische Gesandte, Her mitte, genannt, der heute vom Außenminister empfange» wurde. Hermitte war vor dem Antritt des Kopenhagener Postens Kabinettschef des Ministerpräsidenten Poincare.
Dte für einander find
Roman von Fr. Lehne
(SS. Fortsetzung) lNachdruck verboten)
Walter Schlossermann war sichtlich zerstreut, wie Fritz von zorniger Ungeduld bei sich fcststellte. Hatte das reizende Iulchen also schon Eindruck gemacht! Tein Iulchen! — Zwar, die Herren sind drüben nicht so verwöhnt —!
Er hatte Walter Schlossermann nach der Post begleitet. In den kühlen, grauen Augen des anderen sah er einen träumenden Ausdruck, den er vordem nicht bemerkt hatte.
„Er denkt an Iulchen!* dachte er zornig. Hart stieß er mit dem Säbel aus das Stratzcnpflaster, während er weiter ging.-
„Mutter, ich habe „meine Braut" schon gesehen!" rief Walter fröhlich, als er nach Hause kam. sie ist dem Leutnant Bieseneck und mir begenet — er zeigte sie mir-"
„Run—?" erwartungsvoll und lächelnd sah ihn die Mutter an. Er faßte sie an beiden Schultern und lachte sie wie ein Schulbnb an.
„Ich freue mich auf die Bekanntschaft mit ihr! Das Mäd-st gefüllt mir —"
„Hast Du schon Feuer gefangen, mein Sohn?"
„Ich weiß nicht. Mutterle! Vielleicht — eS geht schnell bet so alten Afrikanern, wenn sie reif zur Che sind!"
18. K a p i t e l.
Frau Rat Schlossermann hatte zu Schnlzes herauf- geschickt und fragen lassen, ob ihr und des Sohnes Besuch angenehm sei: sie wollte die Familie durch unvermutetes Anläuten nicht in Verlegenheit bringen.
In Heller Aufregung trippelte Porzia aus einem , Zimmer in das andere. Sie legte ihr neues rosa Pfingstkleib an, band ein bemaltes rosa Band an die .geliebte Laute und übergotz sich freigiebig init einem LtzirrsduftenZen RoseMgrfAW.
„Tu willst doch n^t etwa vcnstragen, Porzia? fragte Lukrezia spitzig, die aber zur Sicherheit ihr Skizzenbuch „zufällig" auf drw ^isch des outen Zimmers schon zurcchtgelegt hatte. Man konnte doch nicht wissen —
Auch Julia war aufgeregt wie nie. Hätte die Frau Rat doch lieber nichts von ihren Absichten zu ihr gesagt; so scheute sie sich, dem Ingenieur entgegcuzutreten!
Aber nein, es war doch besser, weil sie sich nun schon ein wenig mit dem Gedanken batte vertraut macken können.
Als die Vorsaalglocke anschkug, atmeten die drei Mädchen tief auf — jede auS einem anderen Grunde!
Julia war sehr schüchtern, als die Frau Rat den Sohn vorsiellte; aber diese Schüchternheit kleidete sie reizend. Walter Schlosscrmann ließ kein Auge von ihr. Das Mädchen war ja über alle Begriffe hübsch — die biegsame schlanke und doch volle Gestalt mit -er freien, stolzen Haltung, die braunen Aurikelaugen mit dem goldigen Schimmer, das üvpige Saar in der Farbe reifer Kastanien schimmernd, das frische rosige Gesicht mit den Grübchenwangen und dem lockenden, roten Munde — das Herz wurde ihm warm nnd weich. Ja, die Mutter hatte reckst: er brauchte nicht wett zu geben, um eine Frau zu finden, wenn dieses Mädchen seine Werbung annehmen würde! Sie sprach setst von dem Bruder und seiner Sehnsucht nach Südwest. und wie er sich schon ans das Kommen des Herrn InaenieurS aefreut habe, um ihn um Rat zu fragen — „Kurt hat für Sonntag um Urlaub gebeten. Sie zn sehen —"
Herr Doktor Schnitze räusperte sich unwillig — „Du meinst Cäsar Napoleon —"
„Ich habe meinem Sohn schon von dem begeisterten Kolonialschwärmer erzählt, Iulchen!" sagte Frau Schlofsermann, „gern will er ihm Ausschluß über alles geben! Darum beanspruche ich ihn für Sonntag als meinen Gast."
„Da wird sich Kurte! freuen! er ist so gern bet Ihnen. Frau Rat!"
Ein Sleuererleichterungsabkommen zwischen Frankreich und dem Saargebiel
TU. Saarbrücken, 28. Dez. Die Negierungskommission setzt durch eine Verordnung das zwischen der Regierungs- kommlsstvn und der französischen Negierung getrvsfene Abkommen über Gewährung von Erleichterungen auf steuer. lichem Gebiet in. Frankreich und im Saargebiet hinsichtlich der sozialen Abzüge und Herabsetzung der Steuergrundlagcn ab 1. Januar 1929 in Kraft. Die iin Saargebiet der Steuer unterworfenen Franzvscn sind unter den gleichen Bedingungen wie die Saareinwvhner aller Ermäßigungen der Stcuer- grundlagen und sonstiger Erleichlc-uiigen teilhaftig, die auf steuerlichem Gebiete hinsichtlich der Familienzulagen geioährt werden. Ebenso werden die Saareinwvhner, die in Frankreich der Steucrpslicht unterworfen sind, auf den genannten steuerlichen Gebieten den französischen Staatsaugehörigev gleichgestellt.
Die Lage in Afghanistan
Erfolgreicher Vorstoß der asghanistanische« Regierungs- truppeu.
TU. Kowno, 28. Dez. Nach einer Moskauer Meldung haben die afghaiiistanischen NegieruugStruppen nach Artillerievorbereitungen einen erfolgreichen Vorstoß gegen dte Aufständischen begonnen. Es gelang ihnen, dte Aufständischen bis auf 20 Kilometer hinter Kabul zurückzuwerfen. Die Regieruiigstruppen setzen den Vormarsch fort.
Wie aus Kabul gemeldet wird, haben sich zivet afghanische Stämme Mamanda und Kurejali, dte bisher gegen Aman Uliah iin Kampfe lagen, dem König unterworfen. Die NegieruugStruppen entwaffneten weitere Aufständische.
Aufruf Aman UllahS an das afghanische Volk.
Wie ans Kabul gemeldet wird, hat der König an das afghanische Volk einen Aufruf gerichtet, in dem er eine Politik des Friedens sowie Zugeständnisse an die religiösen Gemeinschaften anküudigt und die Unterstützung des Volkes im Kampf gegen die Aufständischen verlangt. Zwischen seiner Mutter und Vertreter» der religiösen Gemeinschaften soll ein Abkommen erzielt worden sein.
Wie weiter gemeldet wird, soll der Obcrmullah beschlt-s- se» haben. Sie Aufständischen zur Einstellung des Kampfes gegen die Regterungstruppen anfzufordcrn. Der König habe den Kronrat einberufen.
Eisregen über Wien
Zahlreiche Personen verletzt.
TU. Wien, 28. Dez. lieber Wien, ging ein MSregest nie- ^der, der die Bürgersteige mit einer glatten Kruste überzog. ^Dle unmittelbare Folge davon war, daß unzählige Personen auf den Wegen stürzten und sich teils schwere Kuochen- brüche zuzogcn. Von S Uhr nachmittags bis spät in die Nacht waren die Wagen der Rettungsgesellschaft in Tätigkeit. Dte Unfallstationen sowie die Krankenhäuser füllten sich mit ' Verunglückten. Ueber 90 Personen mußten zum Teil mit schweren Verletzungen in ärztlicher Behandlung bleibe«, während einige sich nach Anlegung von Notverbändcn wieder nach Hause begeben konnten. Fast die ganze Polizet- schulmannschaft sowie auch Reservemannschaften leisteten an den Straßenkreuzungen Hilfe, um die Passanten über dte Straßen zu geleiten. Der Autoverkehr war vollkommen lahmgelegt. Dte vereisten Straßen von Wien stellten an dte Rettungsmannschaften ungemein schwere Aufgaben. Hausbesitzer und Pförtner wurden durch Rundfunk gebeten, die Bürgersteige und die Straßenüüergänge zn bestreuen, um das Ueberqneren der Straßen zu erleichtern. Die Passanten schritten so gut es ging zur Selbsthilfe. Man sah einzelne Personen auf Händen und Füßen über die Straße kriechen.
„Er macht mir Sorqen. mein einria->r, H-vr Inae- iteur. mit seinem Drang in die Welt! Er läßt das gei- tige so ganz außer acht!" ließ sich Herr Doktor Schultz« n klag-mden Tön-n v-rnebmcn. „wie gern K^"e ich ihn einstmals ans der Kanzel und an meinem Grabe gesehen — das heißt, ich meine, daß er seinem alten Vater den letzten Segen gibt —" zum Glück batte Herr Doktor Schnltze noch rechtzeitig gemerkt, baß er beinahe einen bösen Fehler gemacht — „ wir sind eine alte Theologenfamilie, und nnn muß mir der Junge einen solchen Strich durch die Rechnung machen! Wenn
er wenigstens als Missionar hinüber-"
„Lassen Sie aut sein. Herr Doktor! Besser ein guter Landwirt als ein schlechter Theologe —" tröstete Frau Rat. ^ ^ „
„Dafür verstehen mich meine Töchter um so besser in meinem geistiqen Streben! — Sie wissen jedenfalls wohl schon von Ihrer Frau Mutter» daß ich literarisch
Mig bin! Ein Schausviel von mir-"
Julia saß wie aus Koblen. als der Vater nun weit- 'chweisig von seinen künstlerischen Manen, Ansichten, Erfolaen sprach. Geduldig und böslich körte Walter Sckstossermann zu. Jetzt kam Herr Doktor Schnltze auch auf Lukrezias nnd Porzias bernorragende Beaabun- aen zu sprechen. „Welches Glück, daß man sich in feilten künstl-rischen Absichten so in seinen Kindern wieder-
det!"
Frau Rat sprach unterdessen mit Julia, und Wal- s Lbr trank eine weiche, klingende Stimme. Wie d und anmutig wirkte sie in der losen weinen Ba- blnse! das schmale, schwarze Samtband um den scho- l HalS hob dessen blendende Weiße noch mehr her-
Ietzt fanden auch Lukrezia und Porzia Gelegenheit, zur Geltung zn bringen, nnd eilte fiel der anderen ! Wort. Porzia snrach von ihrer Musik- nnd Lukrezia närnrte non der Fülle, Ueppigkeit und Len Geheimsen der Trovennatur. _ /