Calmer WoiiieiUiii!.
Mittwoch
Um die Heimat.
45) Roman von Bruno Wagener.
(Fortsetzung.)
Haben mußte er die hundert Morgen; und so hatte er dem Baron den vollen Wert von sünfzigtausend Mark geboten. Davon sielen freilich über fünftausend Mark auf die Hypothekenschuld, die auf dem verkauften Boden ruhte und bei der Auseinandersetzung abgelöst werden sollte; aber der Baron bekam doch beinahe fünfzigtausend bare Mark heraus, hatte in Zukunft weniger Zinsen zu zahlen und konnte das erhaltene Geld in den Betrieb stecken, wo es dringend nötig war.
Es war ein anständiges Geschäft, und im Grunde genommen mußte der Baron dem Helfer in der Not dankbar sein. Aber tief im Herzen steckte der Stachel. Hundert Morgen von dem alten Gut sollte er lostrennen, die der Großvater dem Vater und der Vater auf ihn, den Sohn, vererbt hatte, auf daß sie eines Tages in des Enkels Hand übergehen sollten. Die waren nun verloren für alle Zeit — verloren durch seine Schuld. Und der Baron seufzte tief, als er unter diesen Gedanken dahinschritt. Noch war das Geschäft nicht endgültig abgeschlossen. Das sollte vor dem Notar geschehen. Stahmer hatte sich schriftlich gebunden, aber er hatte dem Baron eine Rücktrittsfrist von drei Tagen freigelassen.
Konnte er denn noch zurücktreten? Besser er hinterließ seinen Kindern ein kleineres Gut, das weniger stark belastet war. Das Mädchen war tüchtig und brav wie ein Mann. Die würde sich nicht unterkriegen lassen wie der Vater. Wenn er den Kindern nun die Bahn freimachte? Was wollte er, der Alte und Kranke, ihnen im Wege stehen? Er würde es doch nie verschmerzen, daß er die hundert Morgen aus der Hand gegeben. Der Gedanke bohrte in sein Hirn und ließ ihm keine Ruhe.
Wenn er nun freiwillig ginge? Dann konnten die Jungen neu anfangen — ohne beständige Rücksicht auf ihn, der ihnen nur im Wege stand. Der Gedanke kam immer wieder. Ja, freiwillig gehen.
Sorgfältig stieg der Baron die Treppe zu seinen! Zimmer empor, nachdem ihm der Diener die Haustür geöffnet. Alice und der Junge schliefen natürlich längst, dachte er. Nein, keinen Abschied. Ruhig setzte er sich vor seinen Schreibtisch u. bedeckte ein Blatt Papier mit seiner krakeligen großen Handschrift.
Seine Tochter sollte das Geschäft mit dem alten Stahmer abschließen. Es war das beste so. Und sie sollte das Gut für ihren Bruder noch zu halten suchen. Das war sein letzter Wille. Er legte das Blatt neben den Bogen, auf dem die Abmachungen mit Stah- mer standen.
Dann saß er eine lange Weile ganz still und nahm nur ab und zu eines von den Bildern herab, die von seiner verstorbenen Frau und von seinen Kindern auf dem Schreibtisch standen. Er sah sie an — eines nach dem anderen. Das war sein Abschied. Dann fiel ihm ein, daß der Diener noch wachte. Er klingelte und befahl ihm, ins Bett zu gehen.
Ein Weilchen wartete er noch, dann ging er ins Jagdzimmer hinüber, wo der Gewehrschrank stand ....
Beilage z« Rr. 886.
Gegen halb zwei Uhr in der Nacht rollte der Wagen vor die Tür des Herrenhauses zu Poggenhagen. Es dauerte lange, bis der Diener wach wurde. Mit einem raschen „Gute Nacht!" eilte Alice von Bählow an ihm vorüber in ihr Zimmer hinauf. Der Vater schlief natürlich längst. Nein, wecken wollte sie ihn nicht. Aber morgen früh wollte sie es ihm sagen, daß sie Hilfe brachte.
Franz von Gudow hatte einen schönen Schreck bekommen, als seine Cousine ganz allein nachts bei ihm vorgefahren war. Aber dann hatten sie lange beisammengesessen, und sie hatte ihm alles gejagt — alles, was sie auf dem Herzen hatte. Er hatte ihr schweigend zugehürt. Wie war sie schön mit ihrem von der Aufregung blassen Gesicht, aus dem die Augen so dunkel leuchteten! Er hätte sie an sich reißen mögen und ihren Mund mit Küssen bedecken. Denn in dieser Stunde fühlte er, daß etwas Tieferes in ihm sich regte für das Weib, das so ganz anders war als alle, die er kannte. Und sie legte ihr Schicksal in seine Hand. Er brauchte nur zuzugreifen, und er hielt ihre Hand in der seinen, und sie war sein — sein mit der ewig hoffnungslosen Liebe zu einem anderen in ihrem Herzen.
Franz von Gudow kämpfte einen schweren Kampf. Er war ans Fenster getreten und sah in die dunkle Nacht hinaus. Wie er ihn haßte, diesen anderen! Er hätte ihn töten können, wenn er ihn da draußen gehabt hätte im Finstern. Aber nicht um den handelte es sich jetzt.
Und Franz von Gudow wandte sich um und trat in den Hellen Lichtkreis der Lampe, die auf dem Tische stand, an dem Alice von Bählow saß. Cr reichte ihr stumm die Hand. Sie sah ihn fragend an. Da sagte er und zwang seine Stimme, festzuhalten: Ich danke Dir, Alice, daß Du Vertrauen zu mir gehabt hast. Und nun denke ich, wollen wir gute Freunde sein."
Da stand sie auf und legte ihre Hände auf seine Schultern. Ihre Augen standen voll Tränen. „Gute Freunde," sagte sie leise. Dann beugte sie sich vor, ruhig und ohne Scheu, und ihre keuschen Mädchenlippen küßten seinen Mund.
Als er ihr in den Wagen half, sagte er noch einmal: „Erwartet mich morgen vormittag. Ich hoffe, wir werden dann alles ins Reine bringen."
Dann war sie in die Regennacht hinausgefahren; aber in ihrem Herzen war es voll Wärme und Dank gewesen.
19. Kapitel.
Am folgenden Morgen hatte man den Baron gefunden. In dumpfem Schmerze hatte Alice an seiner Leiche gestanden. Nun war alles zu spät.
Dann war der Vetter gekommen, der tief erschüttert die Trauerkunde vernommen. In den ersten Stunden des heftigsten Wehs hatte er Alice von Bählow allein gelassen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um ihren Schmerz im stillen verwinden. Dann aber war der Vetter ihr ein wertvoller Trost gewesen.
Er half ihr über alle die kleinlichen Notwendigkeiten hinweg, die solch ein plötzlicher Todesfall mit sich bringt. Und am Abend saß er mit Bernhard und ihr in ernster Beratung beisammen. Er hatte den Geschwistern seine Hilfe in vollem Umfange ange- boten, so schwer es ihm selbst im Augenblick
6. Dezember 1911
wurde, die großen Summen flüssig zu machen. Sie sollten nicht genötigt sein, Stah- mers Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Aber Alice schüttelte leise den Kopf. Es wäre dem Vater gewiß schwer geworden, die hundert Morgen schönen Landes an Stahmer zu verkaufen. Und doch war es das beste so. Mochte der Vetter für die Hypothek und den Wechsel eintreten, die hundert Morgen wollte sie dennoch verkaufen.
Das kleinere Gut war mit seiner geringeren Zinsenlast besser zu bewirtschaften als oas große, hoch verschuldete. Und das, was ihnen blieb, wollte sie getreulich verwalten, daß ihr Bruder es einst aus ihrer Hand als ein vollgültiges Erbe seines Vaters empfangen sollte.
Drei Tage später trug man den Freiherrn auf den Friedhof zu Neuendamm zur Ruhe, wo das alte Erbbegräbnis dicht neben der Kirche bereitstand, den stillen Gast zu empfangen. Mit trockenen, fieberheißen Augen war Bernhard von Bählow hinter dem Sarge seines Vaters hergegangen. Er hatte sich aufrecht gehalten, als er durch die Reihen der Menschen schritt, die alle ihre Augen auf den jungen Eutserben gerichtet hielten. Nur um die Lippen zitterte es ihm unaufhörlich von mannhaft verbissenem Schmerz. Als aber der Sarg hinabgesunken war und die Schulkinder das Lied „Wenn ich einmal soll scheiden" anstimmten, da wandte er sich plötzlich um und barg sein Gesicht in dem schwarzen Kleide seiner Schwester in krampfhaftem Schluchzen.
Von weitem stand Johannes Jessen. Sein Herz war voll warmen Mitempfindens für den Knaben und für das junge Weib, das sich so tapfer aufrecht hielt in dieser traurigen Stunde. Und nun begegneten sich ihre Blicke. Ruhig und ernst sah sie zu ihm hinüber. Dann winkte sie ihm leicht; und als er vor ihr stand, reichte sie ihm schweigend die Hand.
Auch er brachte kein Wort hervor. Alles was er in ehrerbietiger Bewunderung für dieses junge Mädchen empfunden hatte, stieg heiß in seiner Seele auf. So standen sie, und ihre Hände blieben ineinander, und ihre Blicke lasen in der Seele des anderen.
Dann wandte sich Alice zur Seite, wo ihr Vetter stand. Ein leises, müdes Lächeln flog über sein Antlitz. „Mein Vetter, Freiherr von Gudow — Sie kennen einander von Ansehen," sagte sie zu Johannes, und dann zu dem anderen sich wendend: „Mein lieber Freund, Herr Lehrer Jessen."
Einen Augenblick zog er hochmütig über Franz von Eudows Mienen. Da sah ihn Alice groß und bittend an, und er verstand, was dieser Blick ihm sagte. Er streckte dem Lehrer die Hand entgegen und sagte ernst und doch nicht ohne Herzlichkeit: „Die Freunde meiner Cousine sind auch die meinigen." —
Zwei Tage später war Alice selbst zum alten Stahmer gegangen und hatte ihn gefragt, ob er auch unter den veränderten Umständen an dem Kauf der hundert Morgen festhalten wolle; und sie waren ohne Schwierigkeiten zu einer Verständigung gelangt. So waren denn die äußeren Sorgen behoben. Und nun begann für Alice von Bählow eine Zeit rastloser Tätigkeit, eifrigen Lernens, um die Leitung des ganzen Wirtschaftsbetriebes ganz allein in festen Händen zu halten.
(Fortsetzung folgt.)