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* Stuttgart, 31. Oktbr. (Landgericht.) Gestern stand die 15jähr. Amalie Schmidt von Gaisburg wegen Vergehens gegen das Leben und Unterschlagung vor der II. Strafkammer. Das junge Mädchen stand bei einem Schneider in der Sophienstraße im Dienst und wurde im September eines Tags von seiner Herrschaft ausgeschickt, um etwas einzukaufen, wozu man ihr ein 20-Mark-Stück mitgegeben hatte. Da sie gerade das 13 Monate alte Kind der Dienst- Herrschaft auf dem Arme hatte, nahm sie dasselbe auch auf den Einkauf mit, allein statt ihren Auftrag auszuführen und nach kurzer Zeit zurückzukehren, verließ sie Stuttgart und ging mit dem Kinde nach Feuerbach. Hier löste sie ein Billet zur Eisenbahnsahrt nach Zürich, und als der Zug in Sicht war, trug sie das Kind in den Abort der Stalion und setzte es hier aus, die Thür hinter sich schließend. Darauf bestieg sie den Zug und fuhr nach Zürich, wo sie bereits einen Dienst angenommen hatte, den sie auch nach ihrer Ankunft sofort antrat. Das verlassene Kind war bald entdeckt worden und Bahnwärter hatten es in Pflege genommen, bis einige Tage später die Eltern mit polizeilicher Hilfe dessen Aufenthaltsort erfuhren. Die Schmidt aber war naiv genug, von Zürich aus an ihre Stuttgarter Herrschaft zu schreiben, und um Nachsendung ihrer Kleider zu bitten, von dem verlassenen Kind und dem veruntreuten Geld schrieb sie dagegen kein Wort. Sie wurde in Zürich verhaftet und hieher geliefert. Staatsanwalt Grathwohl beantragte eine 4 monatliche Gefängnisstrafe. Der Offizialverteidiger Rechtsanwalt Stein bat um mildere Strafe, der Gerichtshof verurteilte das Mädchen wegen beider Vergehen zu 3 Monaten Gefängnis.
* Die württ. Bibelgesellschaft hat im letzten Jahre, dem 79. ihres Bestehens, 74,638 heilige Schriften verbreitet. Davon gingen 24,720 nach Rheinland - Westphalen, Elsaß, Sachsen und Bayern, welche früher von der britischen Bibelgesellschaft versorgt wurden. Da diese sich nun aber vom deutschen Gebiet zurückgezogen hat, lassen die Bibelgesellschaften jener Länder ihre Bibeln auf ihre Rechnung bei der württ. Bibelgesellschaft drucken. Aber auch in Württemberg selbst sind im letzten Jahre 13,000 heilige Schriften mehr als im Vorjahr verbreitet worden. Im kommenden Jahr wird unsere Bibelgesellschaft mit dem Druck des revidierten Luthertextes der deutschen Bibel beginnen, der manche sprachliche Mängel verbessert, manches genauer, richtiger im einzelnen übersetzt, sonst aber die Lutherbibel in ihren unübertrefflichen Vorzügen treulich wiedergnbt. Dieser Neudruck verursacht aber bedeutende Kosten, so daß einer Einnahme von 107,736 Mk. eine Ausgabe im Betrag von 130,956 Mk. gegenübersteht.
* Bietigheim, 29. Okt. Bei der unter der Leitung des Oberamtmanns Neuß von Besigheim heute vorgenommenen Nachwahl zur Besetzung unserer Stadtschultheißenstelle haben von 554 Wahlberechtigten 519 Wähler, d. h. 93,6 Proz.,
abgestimmt und ergab dieselbe folgendes Resultat: Es erhielten: Ratsschreiber Metzger 280 Stimmen, Gerichtsnotariatsassistent Weigele 246, Fabrikant Herrlinger 219, Abgeordneter Essich 217, Gemeinderat Maier 112, Bürgerausschuß- Obmann Schmidt 105, Gemeinderat Clemens 80, Gemeinderat Schumacher 77, Gemeinderat Grimm 75, Posthalter Huß 62 Stimmen.
* Ulm, 29. Okt. (Jugendliche Ausreißer.) Heute wurden hier zwei 14jährige Bürschchen die in vergangener Nacht in einem hiesigen Gasthause übernachtet hatten, von der Polizei angehalten. Dieselben gaben zu, der Schule und ihren Eltern in Neuburg a. D., deren Kassen sie leichter gemacht hatten, gestern in der Absicht entlaufen zu sein, sich in die Schweiz zu begeben. Dieselben werden ihren Angehörigen wieder zugeführt.
* Hechingen, 28. Oktbr. (Das Stadtpflegedefizit.) Heute ist die Revision der von dem verstorbenen Stadtpfleger Haid verwalteten Kassen abgeschlossen worden. Das Resultat übersteigt alle bisher gehegten Befürchtungen. In der Stadtkasse fehlen zwar „nur" ca. 3690 Mark bar, während sich bei den Nebenverwaltungen (Lokalschulfond, Armenfond, Lehrmädchen-Stiftung rc.) im Ganzen über 75,000 Mk. Fehlbeträge herausstellten. Das ganze Defizit beträgt demnach rund 79,000 Mk. Jetzt ist die Frage, wer hat dafür aufzukommen?
* (Verschiedenes.) In Ebingenhaben die Rekruten bei ihrem alljährlichen Umzug die schöne Summe von nahezu 1200 Mk. ersammelt. — In Biberach bei Heilbronn stürzte ein Knabe, der seinem Vater Oehmd in der Scheuer herabwerfen half, so unglücklich herab, daß er nach 3 Stunden starb. — Der seit dem 7. Okt. vermißte Buchdruckereibesitzer Gattinger von Marbach wurde in einem Wäldchen in der Nähe der Stadt erhängt aufgefunden. Geistiges Gestörtsein hat den in guten Verhältnissen lebenden, fleißigen und allgemein geachteten Mann in den Tod getrieben. — In Urach stürzte ein Werkmeister-Lehrling beim Bau eines Bierkellers so unglücklich in die Tiefe hinunter, daß ihm der Kiefer ganz zerschmettert wurde, und an seinem Aufkommen gezweifelt wird.
* In welch fataler Lage ein Offizier sich befindet, der zu einem Duell gefordert wird, zeigt ein dieser Tage vor dem Würzburger Militärgericht abgeurteilter -Fall. Ein in Würzburg in Garnison stehender Lieutenant wurde von einem Einjährigen, den er während seiner Dienstzeit „beleidigt" hatte, nach seinem Weggang insultiert und gleichsam zu einem Duell gezwungen. Der Ehrenrat des Offizierskorps beschloß, daß der Beleidigte das Duell annehmen müsse, widrigenfalls er aus dem Offiziersstande ausgestoßen würde. Der so zu einer Gesetzesübertretung förmlich Gezwungene aber verfiel der militärgerichtlichen Strafe; er erhielt 3 Monate Festungshaft. Schlägt oder schießt sich der Offizier bet einer Forderung nicht, so wird
er demnach vom Offiziersstande ausgestoßen, schlägt er sich, so bekommt er trotz event. Verwundung Festung. Da rate wer kann!
* Berlin, 29. Okt., abends. Das Ehrengericht der Berliner Anwattskammer verhandelte heute gegen die Rechtsanwälte Coßmann und Ballien wegen ihres Verhaltens in dem Heinze- schen Mordpcozeß. Das Gericht erachtete nicht für dargethan, daß Coßmann und Ballien dem Gerichtspräsidenten den Vorwurf der Parteilichkeit gemacht und daß sie die Angeklagten in ungerechtfertigter Weise zur Verweigerung ihrer Aussage bestimmt oder in ungesetzlicher Weise von den Verteidigungsrechten Gebrauch gemacht hätten; dagegen hätten sie durch Sekttrinken im Gerichtssaal die Rechtsanwaltsordnung verletzt, auch sei der dem Rechtsanwalt Coßmann aus der Art der Abholung der Gerichtsakten aus der Wohnung des Gerichtspräsidenten gemachte Vorwurf begründet; ebenso der dem Rechtsanwalt Ballien wegen der Art seines Verkehrs mit dem Angeklagten gemachte Vorwurf. Coßmann und Ballien werden deshalb beide mit einem Verweis bestraft, Coßmann außerdem mit einer Geldstrafe von 500 Mk. belegt.
* Berlin. Emin Pascha hat das deutsche Schutzgebiet verlassen — das ist heute eene feststehende Thatsache, welche auch der „Reichsanzeiger" meldet; genanntes Blatt sagt auch, Emin habe damit gegen den ihm amtlich erteilten Auftrag gehandelt und wird die Veramwormng dafür tragen müssen. — Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß Emin Pascha sich wieder in seine alte Provinz Wadelai zurückbegeben hat, aus welcher ihn s. Z. Stanley in so eigentümlicher Weise fortgeholt hat.
* Der Erlaß des Kaisers an das preuß. Staatsministerium, worin ein schärferes Vorgehen gegen das Zuhältertum verlangt wird, findet in der gesamten Presse Widerhall. Im Prinzip ist man mit dem Grundgedanken des Erlasses allseitig einverstanden; vielfach aber gehen die Meinungen auseinander, wie dem Uebel die Axt an die Wurzel zu legen ist. Unter den Vorschlägen in dieser Richtung sind besonders die „Kasernierung der Prosürution" und die . . Verbannung der Zuhälter in die Kalonien hervorzuheben.
* Das „Berl. Tagbl." meldet: Der Marineetat fordert 22 Millionen für Schiffsbauten, der Militäretat 50 Millionen für neues Artillerie- material. Die Kosten der Naturalverpflegung werden um 6 Millionen erhöht.
* Die „Hamb. Nachr." erklären, daß Fürst Bismarck der Borussenbroschüre „Ablehnen oder Annehmen" fernstehe.
* Die „Hamburger Nachrichten" sagen in einem Artikel über die Rüstungen Rußlands: „Diese Rüstungen seien wesentlich defensiver Natur und auf den Fall berechnet, daß Rußland, wenn es im Orient die Unzufriedenheft einer anderen Macht erregte, auf seiner Westfronte angegriffen werden könnte. Dies sei aber
Der WLinde.
Novelle von Alp ho ns e de Launay.
(Nachdruck verboten.)
(Fortsetzung.)
„Nun, da ist ja nichts einfacher, als zu ihnen zu gehen," meinte der Doktor. „Wo wohnen Sie?"
„Ganz in der Nähe, Ruhe Serpente."
„Also vorwärts," rief der Arzt, bot ihm den Arm und geleitete ihn nach der Rue Serpente.
Als sie auf der Treppe, die nach der Wohnung führte, waren, trafen sie eine alte Frau, die gerade eine Bettvorlage ausklopfte und sie beim Anblicke des Blinden vor Ueberraschung aus den Händen gleiten ließ.
„Herr Jesus, Herr, was ist Ihnen passiert," rief sie mit bebender Stimme.
„Nichts, gar nichts, Mutter Chevaine! Nur Glückliches und Gutes!" antwortete Antoine.
„Ach Gott," atmete die Alte auf, „es ging mir alles im Leibe herum, als ich Sie so vor der Zeit kommen sah, ohne daß ich Sie abgeholt. Ich bildete mir ein. Sie wären unter einen Omnibus geraten und man hätte Sie verwundet in der Straße aufgerafft! Ein Glück, daß Madame nicht hier ist, und erst das Fräulein! Wahrhaftig, sie wären vom Schlage gerührt worden!"
„Eine gute, eine große Neuigkeit, Madame Chevaine," rief freudig der Blinde. „Ich werde wieder sehen können! Hier der Herr verspricht mir ineine Augen wieder! Verstehen Sie auch, Madame Chevaine, ich werde nicht mehr blind sein! Ich werde Lina sehen können, meine liebe, kleine Unbekannte! Wo ist sie?"
Und während er sich zu dem Doktor wandte, der ihn immer noch am Arme führte, fügte er hinzu:
„Lina ist mein jüngstes Töchterchen, es ist sechs Monate nach dem schrecklichen Ereignis geboren! Ich habe sie niemals gesehen."
„Mademoiselle Lina schläft jetzt," unterbrach die Alte. „Aber sagen Sie, Herr Doktor," fuhr sie fort, „Sie wollen also wahrhaftig dem lieben, armen Manne seine Augen wiedergeben? Das sind auch keine Flausen? Sie sind also doch schlauer, als die fünf oder sechs Aerzte bei uns zu Haus, die ihr Latein an ihm verloren haben?"
„Ich habe große Hoffnung, ihn zu heilen!" sagte Wianowitsch.
„Was für Geschichten!" murmelte die gute Alte. „Dem Blinden die Augen wieder einsetzen! Da muß man auch nur in Paris sein, um das zu glauben."
Sie waren inzwischen in das Zimmer getreten und Vater Antoine, der den Arm seines Führers losgelassen, wandie sich festen Schrittes einem kleinen Bettchen zu, in dem sein kleines Mädchen schlummerte.
Wianowitsch war über die Wohnung und ihre Einrichtung im höchsten Grade überrascht. Die Zimmer waren komfortabel und gut möbliert und sehr sorgfältig in Stand gehalten. Ein großes Mahagonibett mit hübschen dunkeln Vorhängen stand in der einen Ecke; zu Füßen war das hübsche Bettchen des Kindes. Ein großer Sessel, ein Schrank, ein Waschtisch, eine Kommode, einige Stühle und ein Tisch bildeten das übrige Mobiliar; auf einigen Möbeln lagen Stickereien, Bücher und sogar Musikalien. An der Wand, inmitten einiger Stiche, prangte in hübschen Goldrahmen ein Hilfslehrer-Diplom, auf den Namen Berard. Durch eine offenstehende Thüre bemerkte man ein zweites Schlafzimmer mit einem Bette mit weißen Vorhängen und — zur größten Ueberraschung des Doktors — mit einem Piano. Schon während er den Vorplatz durchschritten, hatte der Arzt eine kleine, reinliche Küche bemerkt, in der die Kupferpfannen und Töpfe blinkten wie ein vorschriftsmäßig geputzter Kürassierhelm.
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