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Berlin 15. Dez (Reichstag) Präsident Graf Stolberg e: öffnet die Sitzung Am Bundes- ratStisch die Staatssekretäre Delbrück und Mermuth. Auf der Tagesordnung steht zurächst die 8. Lesung dcS Nachtragsetats und die Entschädi- gung der Tabakarbeiter. In der Generaldebatte bemerkte Molk enbuh r (Soz): Bei der Berechnung deS Wertzuschlagzolles solle ein sechs Monate später liegender Zeitpunkt für die Berechnung des Wertes angenommen werden. Von der Regierung dürfe ein solcher Termin nicht selvstä dig sestgelegt werden. Ministerialdirektor Kühn: Tie Festlegung des Termins beruht auf Vereinbarungen mit den Interessenten. Noch weiteren Bemerkungen derAbgg. Molkenbuhr (Coz.)rnd Stadthagen (Soz) werden die Etats endgültig angenommen. — Die Besprechung der Interpellationen des Zentrums und der Sozialdeu okraten betr. den Arbeitsnachweis wird sodann fortgesetzt. Abg Fuhrmann (natl): Der erregte TonBömelburgs war unbegründet. Daß die Verhältnisse im Ruhrrevicr dringend verbesserungsbedürftig sind, ist zweifellos Der paritätische Arbeitsnachweis rst auch das Ziel meiner Freunde, aber der Arbeitsrachweis soll nicht zum Kampf- objekt werden. Der beabsichtigte Arbe'tsru chw.is der Zechenbcsitzer bedeutet zweifellos eine Verbesseiurg des bisberigkn Zustandes. Die Mängel des Horm burger Systems sollen vermieden werden, was arch schon der Staatssekretär betonte. Der Zechenver- band wird hoffentlich bei Durchführung der neuen Maßregel loyal verfahren Gegen etwaige Mißstände bei der Handhabung dieses Nachweises werden Regierung und Reichstag einschreiten. Abg. Manz (Frs. Vp): Durch einen solch einseitigen A beits- nachweis wird die Kluft zwischen den beiden Parteien nur erweitert. Durch die „Schwarzen L sten" w rd die Aechlung von 5-6000 Menschen ausgesprochen. Der prinzip'ell vorzuziehende parität sche Arbeitsnachweis läßt sich im Handumdrehen nickt durchsetzen. Abg. v. Dirks en (Rpt): Der Z chenver- band ist durch die Mißstände in der Arbeiterschaft, das „Zechenlaufen", den häufigen Kontroktbruch zu seinen Maßnahmen gedrängt worden Durch den jetzt üblichen scharfen, beleidigenden Tcn der sozialdemokratischen Presse wird eine Milderung des Gegensatzes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht erzielt. Einen staatlichen Eingriff in die Verhältnisse des Arbeitsnachweises müssen wir oblehnen. UeberdteS sollte man erst einmal die Wirkungen der Maßnahmen des Zechenverbandes abwartcn, die noch gar nicht einmal in Kraft getreten find. Die große Mehrheit des Volkes wünscht, daß endlich aus dem sozialpolitischen Gebiete Ruhe eintritt. Abg. Kulerski (Pole): Die Arbeitgeber streben dahin, die Arbeiter in ein Abhängigkeit?Verhältnis zu bringen. Selbst die Wchlfahrtseinrichlungen dienen dazu, die Freizügigkeit und das Koalitionsrecht der Arbeiter zu beschränken. Wir verlangen den paritätischen Arbeitsnachweis. Zum mindesten müssen die neuen ZwargSarbeits Nachweise unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Abg. Behrens (w. Vg.): Bereits im Jahre 1905 hat Geh. Rat Kirdorfs erklärt, der bergbauliche Verein müsse den Aibeitsnachweis in die Hand nehmen und cS ablehncn, mit den Arbeiterorganisationen zu verhandeln. Wenn die Unternehmer aber wirklich Ordnung schaffen wollen, warum lehnen sie dann eine Kontrolle durch die Arbeiter ab? Wir wünschen bald eine Vorlage zur Schaffung eines
paritätischen Arbeitsnachweises. Abg. Naumann (frs. Vgg): Der Staatssekretär stellt sich auf den allerdings formellen Rechtsstandpuvkt der Gewerbeordnung, obwohl sich die Verhältnisse inzwischen völlig verschoben haben. Heute handelt es sich nicht wehr um die Fertigindustrie, sondern um die Kohlenindustrie, die turch das Köhler kontor ihre Arbeitsverhältnisse regelt und so unter dem Deckmantel von Einzelverträgen sich ein Machtsystem erobert hat. Da Kontrakte zum großen Teil mit polnischen Arbeitern abgeschlossen werden, die die in deutscher Sprache abgeschlossenen Verträge nicht verstehen, so ist der härfige Kontraktbruch nicht verwunderlich. Der Staatssekretär bot sich von den Unternehmern Auskunft erteilen lassen. Warum aber hat er sich nicht auch bei den Arbeitern Auskunft eingeholt? Das System der Personalakten, w.lches in der Beamtenschaft so oft beanstandet worden ist, zeigt sich bei dem Arbeitsnachweis in starker Vergröberung. (Sehr richtig links) Wenn die Angelegenheit nach Preußen verwieftn wird, so kommt man in ein merkwürdiges Land. (Große Heiterkeit.) To t herrscht das Drei- klcssenwablrecht, ein unanständiges Wahlrecht. (Sehr richtig links — große Unruhe rechts. — Der Präsident rügt diesen Ausdruck) Es ist klar, daß in einem solchen Klassenstaat nicht paritätisch verfahren werden kann Ter Staatssekretär hat es gestern fertig gebracht, um die Interessen der Kapitalisten zu wahren, die armen Witwen, deren Anteile an den Bergwerken geschützt werden müßten, vorzuführen. Aber Taust nde von armen Witwen und Kindern wert» »durch diesen Arbeitsnachweis beiseite gkschoben. Das ist aber plebej sche Muffe, die den Staatssekretär nicht interessiert. (Beifall links. — Auf der groß n Zuhö ertribüne erhebt sich eine Dame und ruft etwas in den Saal hinob. — Sie wird abgefüh^t.) Smatsftkretär Delbrück: Auch wenn man nicht so eingehende Studien gemacht bat, w e Herr Naumann, wird man zu der Auffassung kommen, daß sich seit 1869 manches Verist dcrt hat. Auf Grm d des § 152 der Gewerbeordnung sind die Arbeiter dazu gelangt, sich g weikschafilich zu organisieren unter einer schrankenlosen Freiheit (Lachen bei den Sozialdemokraten. Ruf: Maschinengewehre.) Wenn man die Arbeiter von vornheren in die reglementierende Schiene einer gesttzlichen Regelung aezwängt hätte, dann hätten sie di se Entwicklung rncht durch lebt. Daß diese Koalitionsfreiheit auch zu erbeb- l chen Mißständrn geführt hat, ist klar. Ich habe nicht gesagt, daß die Gewerbeordnung von 1869 das Ideal der Gksttzg-bung ist. Ich habe anerkannt, d ß sich die V rhältn sie wesentlich geändert haben. Man sollte sich aber hüten, an der Koalitionsfreiheit zu rütteln. Dies wüßte zu einer grundsätzlichen Aenderung der Koalitionsfreiheit führen. A> f Grund eingehender Prüft ng und Ü berlegung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß der Zeitpunkt für eine zwangsweise Einführvng des partälischen Arbeitsnachweises nicht gekommen ist. Wir werden uns aber bemühen, demselben allmählich mehr Boden zu schaffen, vor ollen Dingen, die Kluft, die sich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gebildet hat, zu Überdrücken suchen. Es ist nicht richtig, die Schuld on den Mißständen den Arbeitgebern allein zuzumessen. Ich habe nur betont, daß die kleinen Kcpiialisten geschützt werden müssen. Eber so ist der Vorwurf unbeorindet, daß ich keine Informationen von den Arbeitern eingezogen hätte. Ich
habe auch mit Arbeitern verhandelt. Wenn der versöhnliche Zug, der sich in diesen Debatten gezeigt hat, die Oberhand behält, dann wird es auch gelingen, die w rtschafilichen und politischen Gegensätze aus der Welt zu schaffen. (Beifall) Noch weitere« Bemerkungen der Abgg. Schirmer (Ztr) und Sachse (Soz- schließt die Debatte. Nächste Sitzung den 11. Januar. Tagesordnung: Interpellation betreffend mecklenburgische Verfaffuugsfrage und betreffend die Kattowitzer Maßregelungen.
Berlin 15. Dez. Auf der Suche nach dem Frauenmörder rechnet die Polizei mit der Möglichkeit, daß letzterer sein Opfer erst vergiftet und dann zerstückelt hat.
Wien 15. Dez. In der Hofrichter- Affäre wird das Gerücht kolportiert, die chemische Untersuchung des Giftes, welches an die Offiziere versandt wurde, habe ergeben, daß nicht reines Cyankali, sondern Chinin an die Offiziere verschickt worden ist. Wie gemeldet, hat Hofrichter in Binzer Apotheken mehrere Male Chinin gekauft.
Wien 15. Dez. (Die Wiener Giftmordaffäre.) Das Verhör des Oberleutnants Hofrichter wurde gestern fortgesetzt, am Nachmittage aber unterbrochen, da Hofrichter zu abgespannt und nervös war. Nächste Woche dürfte ihn einer seiner Verwandten besuchen, da man glaubt, daß die Frau hierzu nicht imstande sein wird, da sie ziemlich schwer erkrankt ist.
Wien 15. Dez. In Budapest fand gestern auf Antrag eines Wiener Gläubigers eine Versammlung wegen Verhängung des Konkurses über das Vermögen der Prinzessin Luise in Koburg statt. Der Vertreter der Prinzessin verlangte Vertagung wegen der großen Lebensgefahr für König Leopold, da sich die Prinzessin jetzt nicht in einer Verfassung befinde, um über das Vermöge« Auskunft geben zu können. Der Antrag wurde abgelehnt. Hierauf beantragte der Vertreter der Prinzessin, das Gericht als unzuständig zu erklären, da die Prinzessin trotz ihrer Scheidung exterritorial sei. Das Gericht gab diesem Anträge statt und vertagte die Verhandlung.
Brüssel 15. Dez. 6 Uhr abends. Die Aerzte haben noch keinen Krankheitsbericht ausgegeben, da die Konferenz noch 1*/- Stunden andauern wird. Der Operateur Dcpage erklärte, daß der Zustand des Königs eine leichte Besserung zeige. Man habe einen neuen Verband gemacht. Der König habe am Nachmittag etwa 4 Stunden geschlafen.
London 15. Dez. Kriegsminister Haldane erklärte auf einer Versammlung in Tranent (Schottland) in Erwiderung auf eine Anfrage, er glaube nicht, daß Deutschland die geringste Absicht habe, über England herzufallen. Die Deutschen wünschten, mit den Engländern in gutem Einvernehmen zu leben, der Fragesteller könne aber sicher sein, daß sie ihr Pulver trocken halten würden. »
der Eisdecke — über der die Krähe schwebte, und ein unheimliches Bersten hört man herüberklingen.
Sie hörten es wohl, die zwei in dem glänzenden Brautwagen mit dem kostbaren Viererzug, und Inge schmiegt sich enger an ihren Gatten. Callein legt den Arm um ihre Schulter, aber als ihr ernster, zärtlicher Blick den seinigen sucht, da weichen seine Augen den ihren aus und wieder bemerkt Inge jenen toten, leeren Ausdruck darin, wie damals in der Klosterruine, und diese Augen mit dem toten, leeren Blick sind wie festgebannt hinausgerichtet auf die Eisfläche des Sees, über dem die Krähe schwebt.-
Aber dann überkam es ihn plötzlich wie ein leidenschaftliches Verlangen, in dem alles andere unterging, er wandte sich Inge zu, riß sie an seine Brust und flüsterte, ihr Antlitz, ihre Augen, ihre Stirn, ihre kleinen, rosigen Ohren mit heißen Küssen bedeckend:
„Inge, Einzige, Angebetete — Weib! Mein Weib! Wir wollen im Glück nicht rückwärts schauen, nie mehr, Inge, nie mehr. Die Gegenwart ist ja so schön, und sie ist unser, und die Zukunft wird noch schöner sein, Inge, noch schöner, und sie gehört uns auch. Dir und mir gemeinsam, Inge, mein Weib!"
Die letzten Worte erstorben fast in einem Hauch, in einem langen, glühenden Kuß.-
Inge kannte noch so wenig von der Welt; es machte Callein Freude, sie ihr zu zeigen; in der rauhen Jahreszeit führte er sie in die sonnigen Gefilde Italiens, und die Briefe, in denen Gräfin Lie von Schneestümen, von Nord- und Ostwinden schrieb, las das Ehepaar auf der Terrasse einer kleinen Villa. Von Rebenhügeln umgeben, ein Garten mit immergrünen Eichen, blühenden Kamelien, Flächen blauer, duftender Veilchen und Orangenbäume, auf deren dunklem Laub die Sonnenstrahlen spielten,
während die tiefblaue Flut des Meeres leise und träumerisch ans Ufer ebbte. Es war so schön, und sie waren so glücklich, so wunschlos glücklich. Was die Erde an Seligkeit zu vergeben hatte, war ihnen geworden.
„Wenn ich nur diese Stunden, die Tage halten könnte, Inge", sagte Markus eines Tages, da sie Hand in Hand durch den Garten gingen, in dem noch einsam duftende Rosen träumerisch blühten, und Agaven ihre grau-grünen, sachlichen Blätter ausbreiteten.
„Ja, sie sind schön, und ich werde sie nie vergessen, Mark. Müssen sie denn enden?" setzte sie lächelnd hinzu, neckend und schmeichelnd. Laß uns noch bleiben, ja? Bitte!"
„Aber gewiß, Liebling, gewiß, ich führe Dich nicht früher in die Heimat zurück, bis auch dort alles in Blüte steht. Aber nicht wahr, Inge, Du wirst auch mein altes, düsteres Neudeck lieben lernen und gern dort sein, mit Dir wird ja Licht und Sonnenschein kommen und Frohsinn und auch Glück."
„Wo Du bist, Mark, und ich bei Dir sein darf, da ist esmüberall schön für mich, Geliebter Du." —
Aber die Tage gingen vorüber, einer nach dem anderen, weder Markus noch Jnge's Wünsche konnten sie halten. Callein suchte die herrlichsten Fleckchen Erde für sich und sein Lieb aus; als der Mai kam, gingen sie nach Paris, dann nach Baden-Baden, von dort in den Schwarzwald, und kehrten im Juni nach Neudeck zurück, gerade rechtzeitig, um der Einweihung von Anna's Kinderheim beizuwohnen, in das die ersten, kleinen Bewohner, zehn an der Zahl, ihren Einzug hielten.
Anna's Gesicht war etwas schmaler, ihre vornehme Gestalt noch etwas schlanker geworden, aber in ihren Augen lag ein eigentümlich leuchtender Glanz, um ihre Lippen spielte oft ein stilles anmutiges Lächeln. —
(Fortsetzung folgt.)