Samstag
Beilage z« Nr. 248
23. Oktober 1909
Im Klosterhof.
Roman von B. v. Lancken.
(Fortsetzung.)
„Ich zürne Ihnen nicht, Anna, wirklich nicht."
„Und Ihr Entschluß ist unwiderruflich?"
„Ja."
"Gebe Gott, daß Sie das Richtige getroffen", sagte Anna. Es überkam sie plötzlich ein Gefühl der Sorge für das junge Geschöpf.
„Gute Nacht, Inge!"
„Gute Nacht!"
Die Mädchen küßten sich und Inge blieb allein. Sie blieb allein, wie von einem Traume umfangen; mit schlaff, herabhängenden Armen starrte sie vor sich hin. Daß Armand v. Ferni sie liebte, hatte Anna ihr eben verraten, und ihr Herz klopfte in stürmischer Erregung. Sie hatte es längst geahnt, aber die Kluft, die sie von ihm trennte, schien ihr immer wieder, trotz ihres alten Namens, unausfüllbar. Inge hatte, einen kleinen Backfischflirt abgerechnet, noch nicht geliebt, sie empfand sehr warm für Armand, sie war überzeugt, daß sie ihn liebte, trotzdem erkannte sie die Gefahren für die Zukunft, die in seinem Charakter lagen, und wenn sie sie einerseits zurückschreckten, so füllte es sie doch auch mit einem gewissen Stolze und Glückesbewußtsein, daß sie, gerade sie es sein sollte, die durch ihre Liebe und Hingabe ihm etwas sein würde. Wenn, wie es nach Annas Worten den Anschein hatte, eine Verbindung zwischen ihr und Armand Ferni keine Unmöglichkeit war, dann war es vielleicht hierdurch in ihre Hand gegeben, der Frau, die ihr und ihren Eltern so viel Güte erwiesen, für all das zu danken, indem sie dem treu zur Seite stand, auf dessen Schultern die ganze schwere Verantwortung für das Gedeihen und Erhalten der großen Herrschaft lag. Ja, sie würde ihm viel, würde ihm alles sein können, da sie ihn und er sie liebte, und da nicht eigennützige Berechnung bestimmend für ihr Handeln war. Glück, Stolz und ein freudiger Mut ließen ihr Herz schneller klopfen. Ruhelos lag sie auf
ihrem Lager, bis weit nach Mitternacht.-Sie hatte einen Teil
des Vorhangs zurückgeschoben, der Mond stand unoerschleiert in vollem Glanz am Himmel; sein bleiches, mildes Licht füllte das Gemach und glitt über das glühende Mädchenantlitz, über die sich heftig bebende und senkende Brust, über die schlanken, weißen Arme. Inge zitterte, ihr ganzer Körper bebte; die offene Frage Neumanns heute nachmittag hatte sie nicht derart erregt, wie die Aussicht, die Anna ihr eröffnete, daß der Augenblick nahte, wo Armand Ferni ihr sein Herz zu Füßen legen und sie zur Frau begehren würde. Das Mädchen faltete die Hände über der Brust, sie fühlte dabei jeden Schlag ihres Herzens, und sie meinte sogar, dies heiße, ungestüme Schlagen zu hören, deutlich, ganz deutlich.
Das war also das allgewaltige Gefühl, das das Sein des Menschen, ob Mann oder Weib, in seinen tiefsten Tiefen aufzuwühlen vermag? Die gewaltige große Macht, die zu den höchsten Opfern zu begeistern, die bis an den Abgrund des Verbrechens zu führen imstande ist? Das Gefühl, das stark wie der Tod den Menschen emporheben kann zu höchster, irdischer Seligkeit, oder fähig ist, ihn in alle Qualen zu stürzen? —
Das junge Geschöpf zitterte, zitterte vor sich selbst, während diese Fragen sich in ihrem Kopf kreuzten, während ihr Herz immer ungestümer klopfte, halb in Angst, halb in Wonne.
Erst gegen Morgen fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie erst spät erwachte. Verwirrt blickte sie mit noch halb verträumten Augen um sich. Ihr Kopf war schwer, matt richtete sie sich auf, stützte die Stirn in die Hand und sah mit verstörten Augen im Zimmer umher. Es war der bekannte, trauliche Raum wie immer, aber statt des Mondlichtes, das gestern nacht durch den zurückgeschobenen Vorhang mit bleichem geisterhaftem Strahl geleuchtet, flutete jetzt des Morgens Sonnengold herein, funkelnd, leuchtend, wärmend — und draußen vor dem Fenster zwitscherten die Vögel-Tag! —
Es will ihr fast scheinen, als habe sie einen seltsam schönen und doch beängstigenden Traum geträumt.
Inge rafft sich zusammen, sieAbringt Klarheit und Ruhe in ihr Denken und fängt dann an, sich anzukleiden; es gelüstet sie, einen Morgenspaziergang zu machen. Sie ordnet das kurze, lockige Haar, und während sie dabei vor dem Spiegel steht, wundert sie sich, wie bleich und übernächtigt sie aussieht; das eben Geträumte zittert noch in ihr nach, mehr fast, als das Gespräch am gestrigen Abend. Es treibt sie hinaus in die Morgenfrische, in den Park. Ihr seelisches Gleichgewicht ist erschüttert, sie weiß, daß sie es in der freien, stillen Natur am leichtesten zurück gewinnt.
Ihr schwarzes Strohhütchen auf dem Kopf, verläßt sie leise, um Anna nicht zu stören, ihr Zimmer und geht die breiten Treppen hinab in das stille, menschenleere Vestibül, von da auf die Terrasse. Im Speisesaal sieht sie durch die geöffneten Fenster den Diener den Frühstückßtisch decken; Armands Kammerdiener sitzt in lässiger Haltung auf einem der hochlehnigen Stühle; im Rahmen der Tür, die zum Salon führt, steht, auf einen Besen gestützt, eines der Hausmädchen. Die drei lachen und
plaudern zusammen, sie wissen sich unbeachtet. Inge huscht über die Terrasse und verschwindet in den weiten, laubreichen Wegen des Parks —.
Marianne v. Ferni sitzt wieder vor ihrem Schreibtisch und sieht die Wochenzettel durch, die sie eben der großen Ledermappe entnommen; draußen liegt ein warmer Sonnenglanz über der Welt.
Die Frau am Schreibtisch hält ein paarmal in ihrer Beschäftigung inne und sieht, den Kopf leicht in die Hand gestützt, nachdenklich vor sich nieder, es liegt ein Ausdruck stillen, freudigen Ernstes in ihren Zügen. Anna hatte ihr heute morgen das Gespräch zwischen ihr und Armand und auch Inges Worte mitgeteilt, und Marianne knüpfte daran so viele Hoffnungen. Junge — es ist ja eigentlich selbstverständlich, daß er Inges Liebe erworben, es ist ja eigentlich selbstverständlich, daß sie ihn dem anderen vorzieht, aber daß sie mit dem Nein für Neumann fertig war, noch ehe sie bestimmt gewußt, ob Armand sie auch liebe, das ist es, was Marianne v. Ferni alles Gute bestätigt, das sie über Inges Charakter denkt und von Anfang an gedacht hat. So Gott will, kommt nun alles bald zu einem schönen, freudigen Ende, einem Ende, das zugleich den Anfang eines reinen, großen Glückes bilden wird. Inge ist die rechte Frau für Armand! Das Eingeständnis macht sich Marianne, aber nur ganz im Geheimen, denn sie fühlt, daß darin so ein ganz klein wenig wie ein Zweifel an ihrem vergötterten Sohn steckt.
Gedämpftes Stimmengewirr und ein Geräusch wie von den Schritten mehrerer Männer, schwerfällig und bedachtsam, tönt vom Schloßhof zu ihr hinein, sie hebt lauschend den Kopf und sich langsam aufrichtend, schiebt sie den Stuhl zurück und tritt ans Fenster, ihr Auge weitet sich, der Blick wird starr, und über ihre Züge breitet sich ein Ausdruck von Schreck und Entsetzen. Ihre Hände umklammern das Fensterkreuz, ein Beben geht durch ihren Körper.
Vier Männer, Arbeiter, tragen behutsam eine Bahre; auf ihr, das Gesicht mit einem Tuch leicht verhüllt, liegt eine männliche Gestalt.
„Armand!" schreit die Frau am Fenster. „Armand!"
Die Knie versagen minutenlang den Dienst, die Männer verschwinden mit ihrer traurigen Last im Portal des Schlaffes. Da rafft sie sich zusammen, da kommt Leben, Bewegung in die von Entsetzen gelähmten Glieder, sie fliegt durch die Reihe der glänzenden Gemächer. In dem letzten vor dem Vestibül tritt ihr Anna entgegen, blaß, aber ruhig; sie streckt der Mutter beide Arme entgegen.
„Mama, sei nicht so erschrocken, er lebt ja — ein Sturz mit dem Pferde!" ruft sie.
Aber Marianne Ferni hört nicht auf sie; die Tochter beiseite schiebend, stürzt sie an ihr vorbei in die Halle.
„Armand, Armand, mein Kind, mein geliebtes!"
Sie sinkt neben der Bahre in die Knie, sie breitet die Arme über ihn und sieht angstvoll in das bleiche Antlitz mit den geschloffenen Augen. Gesicht, Hände, Anzug sind mit Erde und Blut befleckt, ein blutgetränktes Tuch ist um die Stirn gewunden.
„Zum Arzt! Um Gottes Willen, zum Arzt?"
„Dafür ist schon gesorgt, gnädige Frau", sagte der alte Inspektor von Quosdorf, der mit gramdurchfurchten Zügen, den Hut in den arbeitsharten Händen, neben der Bahre steht, während die vier Träger schwerfällig, behutsam über die Marmorfliesen der Halle schreiten und sich schüchtern, unbeholfen zur Tür hinausdrücken.
„Wie kam das, Aßmann, wie kam das!" fragte Frau v. Ferni, zu dem Alten aufsehend.
„Der junge Herr sei an den Mergelgruben vorbeigeritten", berichtet der Mann, „da sei ein Hase aufgesprungen, das Pferd habe gescheut, der junge Herr, wohl selbst erschrocken, habe es scharf gezüchtigt, eS sei gestiegen, habe einen Seitensprung gemacht, sei nochmal gestiegen und habe sich dann rücklings überschlagen. Der junge Herr sei aus dem Sattel geflogen, habe mit einem Fuße noch im Bügel gehangen, und dieser Fuß wäre, wie es schien, gebrochen."
Armands Kammerdiener und anderes Dienstpersonal wurden gerufen und der noch Leblose in sein Zimmer getragen, auf den Divan gelegt, gesäubert und umgekleidet. Qualvoll war die Zeit, die bis zum Eintreffen des Arztes verging, zumal kein Mittel imstande war, Armand seiner tiefen Bewußtlosigkeit zu entreißen.-
Inge kam langsam durch den Park nach dem Schlöffe zurück; das Herz so froh, so voll heimlichen Glücks, und in ihren Augen stilles Leuchten, da gewahrte sie die schaumbedeckten Pferde vor dem kleinen Wagen, sah die schreckensbleichen, verstörten Mienen der Dienerschaft, und in der Halle trat ihr auch schon der alte Haushofmeister entgegen und berichtete was sich zugetragen. Alles Blut wich aus Inges Antlitz, und ihre schmale Hand krampfte sich um das Geländer der Treppe — sie hatte ein Gefühl, als sei es mit einem Mal dunkel, ganz dunkel um sie geworden. Ohne ein Wort der Entgegnung stieg sie die Treppe hinauf in ihr Stübchen. Das war voll Sonnenglanz und Sommerluft und Frische. Inge beachtete das alles nicht. Sie setzte sich, die Hände auf den Knien gefaltet, in einen Lehnstuhl und sah geradeaus vor sich hin.
(Forts, folgt.)