Eximer Kailieililaü.
s»msta, «Silage ,, Nr. »7«. 24. Jul» 1S0S.
Das Haus gegenüber
Kriminal-Roman von E. Kent.
(Fortsetzung.)
„Dann wäre es also wohl möglich, daß jemand an der Tür gewesen wäre, den Schlüssel genommen und ihn ein paar Stunden behalten hätte, ohne daß Sie es merkten?"
„Ja — möglich wäre das wohl, aber wahrscheinlich ist es nicht. Ich habe keinen Menschen hier vorbeikommen sehen, so lange wir hier auf der Arbeit gewesen sind."
„Könnte die Leiche auf anderem Wege als durch die Wohnungstür hereingebracht sein?"
„Nein, Herr Coroner", erwiderte eine ruhige Stimme an meiner Seite. „Ich habe gerade eben die Notleiter und alle Fenster untersucht. Die Läden sind unberührt, und auf der Notleiter zeigt der Staub, der darauf liegt, keine Spur, daß die Sprossen betreten worden sind."
Der Detektive hatte seine neue Untersuchung so unauffällig vorgenommen, daß ich seine Abwesenheit gar nicht bemerkt hatte.
„Ist es möglich, unbemerkt in das Haus hineinzukommen?" fragte der Coroner weiter.
„Gestern noch würde ich gesagt haben: „Nein, das ist nicht möglich!" antwortete Macgorry. „Aber jetzt scheint alles möglich zu sein."
Selbst der Coroner mußte über den kleinlauten Ton lächeln, worin diese Worte gesprochen wurden.
„Die Haupttür wird um sieben Uhr geöffnet und um elf Uhr abends geschlossen", fuhr der Hoteldirektor fort. „Es müßten denn gerade besondere Umstände vorliegen. Während dieser ganzen Zeit sind beständig ein oder zwei Jungen in der Halle, oftmals sogar drei. Nach 11 Uhr öffnet der Wächter den Hausbewohnern die Tür und bringt sie im Aufzug nach oben. Kein Mensch außer mir hat den Schlüssel zu dieser Außentür."
„Verläßt der Wächter die Halle niemals, als zu dem Zweck, den Aufzug zu bedienen?"
„Na, niemals — das will ich nicht gerade sagen. Aber jedenfalls entfernt er sich niemals weit von seinem Posten."
„Dann denke ich mir also die Verhältnisse so: Es könnte wohl zwischen 11 Uhr abends und 7 Uhr morgens jemand unbemerkt aus dem Hause herauskommen; dagegen wäre es unmöglich oder nahezu unmöglich daß jemand hineinkommt?"
„Ja wohl, ganz recht, das ist auch meine Meinung."
„Was ist's aber mit der Haustür?" fragte ich.
„Die Hintertür wird um sechs aufgemacht und um 10 Uhr abends geschlossen", antwortete Macgorry.
„Tagsüber ist die Hintertür unbewacht, nicht wahr?" fuhr ich fort, in meinem Eifer gänzlich vergessend, daß eigentlich der Coroner das Verhör zu leiten hatte. Dieser fiel mir denn auch gleich ins Wort:
„Herr Doktor, erlauben Sie mir die Untersuchung zu führen! Ja, also Herr Macgorry — wer paßt bei der Hintertür auf?"
„Nun — augenblicklich niemand. Wir haben bei dem Hinteren Eingang ebenfalls einen Aufzug; aber während des Sommers, wo das Haus beinahe leer steht, ist dieser nicht in Betrieb."
„Dann kann also, wenn ich Sie recht verstehe, den ganzen Tag über jedermann durch den Hinteren Eingang Ihr Hotel ungesehen oder doch zum mindesten unbemerkt betreten oder verlassen. Nach 10 Uhr abends müßte jemand von den Hausbewohnern ihn einlassen?"
„Ganz recht!"
„Nun, Sie sind also sicher, daß der Verstorbene nicht zu den zeitweiligen Hausbewohnern gehörte, daß er nicht bei einer von den zurzeit anwesenden Mietparteien auf Besuch war?"
„Ganz bestimmt nicht."
„Und niemand hat eine Ahnung, wer es sein könnte?"
„Niemand hat ihn gesehen außer diesen Herren und Jim. Jim ist der Liftjunge, der Sie geholt hat, Herr Doktor, und er hat nichts davon gesagt, daß er den Mann kenne."
Der Coroner überlegte einen Augenblick und fragte dann weiter:
„Welche Familien haben Sie zurzeit in Ihrem Hotel?"
„Unsere Mieter sind augenblicklich fast alle abwesend, in ihren Sommerhäusern in Newport oder Lenox oder da herum", antwortete Macgorry mit einer kreisförmigen Handbewegung, womit er, wie es schien, alle übrigen von ihm nicht erwähnten fashionablen Kurorte zusammenfassen wollte. „Augenblicklich haben wir nur zwei Parteien im Hause."
„So. Und wer ist das?"
„Das ist erstens Herr H. C. Stuart, der im ersten Stock rechts wohnt; sodann Herr und Frau Atkins, die im Stock über uns wohnen, aber auf der anderen Seite des Gebäudes."
Ich spitzte die Ohren. Atkins mußten also die blonde Dame und ihr Angreifer sein.
„Wohnen die Herrschaften schon lange hier?"
„Herr Stuart ist schon seit sieben Jahren bei uns. Er ist Jung
geselle. Herr und Frau Atkins sind erst im Mai dieses Jahres eingezogen; sie sind, wie ich gehört habe, ein jungverheiratetes Ehepaar."
Also kein Wort von dem geheimnisvollen Paar, das ich in der anderen Wohnung beobachtet hatte. Verschwieg Macgorry irgend etwas, oder war ihm ihre Anwesenheit in seinem Hause wirklich unbekannt? Ich erlaubte mir daher abermals einen Eingriff mit der Frage:
„Wissen sie ganz bestimmt, Herr Macgorry, daß sonst niemand im Hause ist?"
„Jawohl." Plötzlich aber flog ein Licht über seine Züge, und er rief: „Oder — nein! Fräulein Derwent ist ja zwei Nächte hier gewesen. Aber sie ist heute in der Frühe wieder abgereist."
In diesem Augenblick flüsterte der Detektive dem Coroner etwas zu, worauf dieser sich zum Hoteldirektor wandte und sagte: „Bitte, sorgen Sie dafür, daß kein Mensch das Haus verläßt, bevor ich mit ihm gesprochen habe! Ich wünsche aber nicht, daß von dem vorgefallenen Mord etwas verlautet. Freilich wird wohl jeder hier im Hause schon davon gehört haben. Immerhin — lassen Sie den Herrschaften sagen, es habe sich ein Unglücksfall ereignet."
„O Herr Coroner!" rief Macgorry, und dabei wurde er beinahe so rot wie seine Haare. — „Sie wollen doch ganz gewiß nicht Fräulein Derwent in diese Geschichte hineinziehen! Herrjeses — solche Auftritte kann sie ja gar nicht vertragen! Sie würde in Ohnmacht fallen, und das würde ihre Frau Mama mir niemals verzeihen!"
„Jeder — auch Fräulein Derwent — muß vor die Leiche geführt werden!" antwortete der Coroner ernst.
„O, Herr Coroner — aber . . ."
„Schweigen Sie!" donnerte der Coroner ihn an, „dem Gesetz muß gehorcht werden!"
Der Hoteldirektor ging infolgedessen widerstrebend hinaus, um die nötigen Befehle zu erteilen. Als er wieder im Zimmer erschien, fuhr der Beamte mit seinen Fragen fort:
„Wer ist Fräulein Derwent?"
„Fräulein May Derwent?" rief Macgorry. „Mein Gott, das ist eben Fräulein May Derwent!"
So war es also die berühmte Modeschönheit, die ich so spät in der Nacht beobachtet hatte. Die Geschichte wurde immer seltsamer!
„Fräulein Derwent", fuhr Macgorry in einem Tone fort, als ob unsere Unwissenheit ihm leid täte, „ist die einzige Tochter von Frau Mortimer Derwent. Sie kam ganz unerwartet am Dienstag abend hier an. Sie hatte den Zug verpaßt, wie sie sagte, und kam deshalb in ihre Wohnung, um hier die Nacht zu verbringen."
„Kam sie allein?"
„Ja."
„Hatte sie nicht einmal ihre Kammerjungfer bei sich?"
„Nein."
„Das ist doch gewiß etwas sonderbar für eine reiche, junge Dame?"
„Ja, allerdings", antwortete Macgorry, aber in einem Tone, wie wenn er die junge Dame zu verteidigen hätte. „Sie hat das früher noch niemals getan. Vielleicht war die Jungfer mit dem von ihr verpaßten Zuge schon abgefahren."
„Brachte Fräulein Derwent Gepäck mit?"
„Nur eine Handtasche."
„Und trotzdem blieb sie zwei Nächte! Wissen sie irgend einen Grund für einen so langen Aufenthalt?"
„Nein. Vielleicht hatte sie aber Einkäufe zu machen. Es wurden gestern nachmittag eine ganze Menge Pakete für sie abgegeben."
„Haben Sie einen Schlüssel zur ihrer Wohnung?"
„Ja. Wenn unsere Familien über den Sommer verreisen, lassen sie mir den einen Schlüssel zurück und nehmen den andern mit."
„Schlossen Sie Fräulein Derwent ihre Wohnung auf, oder hatte sie ihren Schlüssel bei sich?"
„Ich ließ sie ein."
„Hat irgend jemand die junge Dame besucht, während sie hier war?"
„Was soll diese Frage bedeuten?" fragte Macgorry vorsichtig.
„Na, ich meine, ob jemand zu ihr kam, um ihr das Esten zu besorgen usw. ?"
„Nein, — nicht daß ich wüßte."
„Kommt es Ihnen nicht auffallend vor, daß eine an Luxus gewöhnte junge Dame, die gar nicht für sich selber zu sorgen versteht, in eine Wohnung geht, in der seit Monaten sich der Staub attgesammelt hat, und daß sie freiwillig zwei Nächte dort verbringt, ohne auch nur einen Dienstboten zur Hand zu haben, der das Allernotwendigste für sie besorgt?"
„Zum Essen ging sie aus", fiel Herr Macgorry schnell ein, „und junge Damen, besonders die reichen, halten's manchmal für 'ne spaßige Abwechslung, sich selber zu behelfen."
„Was für Dienstboten sind außer Ihren eigenen Leuten hier im Hause, Herr Macgorry?"
„Herr Stuart hat einen Kammerdiener, und dessen Frau ist Köchin — beide sind Franzosen." (Forts, folgt.)