Samstag
Beilage z« Nr. 1S8.
1«. Juli 1909
Regina.
Roman von I. Iob st.
(Schluß.)
„Wie du willst, Wolf Dietrich. Dann könnten wir vielleicht noch einmal nach der Wasserburg fahren, ich habe solche Sehnsucht, sie wiederzusehen."
„Das ist eine gute Idee, Regina."
„Dort blühen jetzt alle Blumen und die Vögel singen."
„Ich werde sofort mit dem Fischmeister sprechen."
„Auch Karl Meinhardt soll mitkommen."
„Der Karl!"
„Ja, ich bitte darum."
„Das klingt beinahe so als wie: Ich befehle," neckte Wolf Dietrich voller Uebermut. Er war so überglücklich, daß Regina wieder einen Wunsch aussprach.
So fuhren sie denn in der Sonntagsfrühe bei dem herrlichsten Wetter durch die hohen Schilfwände hindurch, wo die blaugrünen Libellen flogen und der Rohrsperling sang, wo die wilden Enten mit ihrem kleinen Volk vor dem rasch dahinschießenden Boot eiligst in ihr grünes Versteck entflogen und die gelben Wasserlilien standen wie lauter verzauberte Königskinder im goldenen Hochzeitsstaat. Wie ein holdes Märchen war es, das Regina träumend genoß.
Die Männer im Boot waren ebenso schweigsam, es dachte wohl ein jeder an die Fahrt von einst. Und Karl Meinhardt — der hatte seine schweren Gedanken für sich allein, doch wenn er verstohlen auf seine Herrschaft sah, dann regte sich etwas in seiner Brust, das nie wieder aufwachen sollte — es war die Sehnsucht nach dem Glück, nach dem Weibe.
Nun schwammen sie auf dem weiten Becken des Sees, die Wasser ruhten, der ganze Himmel spiegelte sich darin. Es schwammen die weißen Wolken in der blauen Tiefe ebenso langsam dahin, wie dort in der reinen Höhe. Regina dachte an das Wort: Gottesfrieden! Es paßte so wundersam zu der Natur, die sie umgab. Aber paßte es auch auf die Menschen, die um sie waren? Da saß Karl Meinhardt — hatte er den Frieden, der ihr Herz heute ganz erfüllte?
Ihr Blick flog voraus zu dem Landungssteg. Es war, als ob die junge Frau nach etwas ausschaute, und als das Boot landete, flüsterte sie ihrem Mann zu, er möge schon vorausgehen und einen bequemen Platz aussuchen.
„Was willst du denn noch?"
„Das ist mein Geheimnis, Wolf Dietrich."
„Ich habe doch Anton mit dem Wagen vorausgeschickt", meinte er, „er hält schon das Frühstück bereit."
„Nicht neugierig sein", bat Regina. Da schritt Wolf Dietrich murrend davon, er hörte es nicht mehr, daß die junge Frau Karl Meinhardt bat, ihr den Korb zu tragen, den sie ihm reichte. Es war nur ein Vorwand, da sie unter vier Augen mit ihm zu sprechen wünschte. Nun schritten sie nebeneinander durch das tauige Gras, in dem unzählige Blumen standen, und sie pflückten die schönsten, den Korb damit füllend.
„Warum blicken Sie so traurig drein, Meinhardt!"
„Ich kann wohl nicht mehr anders, Frau Baronin."
„Sehen Sie denn nicht, wie schön heute die Welt ist?"
„Ich kann mich an nichts Mehr freuen."
„So müssen Sie es wieder lernen, Meinhardt?"
„Das kann ich nicht."
„Aber ich kenne jemand, der es Sie lehren könnte."
„Ich weiß von keinem," erwiderte Meinhardt ablehnend.
„Das heißt, Sie wollen von keiner wissen. Die Grete grämt sich noch zu Tode um Sie."
„Ich darf nicht heiraten, ein Zuchthäusler muß ledig bleiben."
„Und ich, Meinhardt? Dann hätte ich um meiner großen Schuld willen mich auch von Rechts wegen von Mann und Kindern trennen müssen."
„Sie waren nicht im Zuchthaus, Frau Baronin. Das ist schlimmer als der Tod. Danken Sie Gott, daß er Ihnen das Elend erspart hat. Es ist die Hölle, und der darinnen war, verlernt für immer das Lachen und die Freude am Leben."
„Ich habe dasselbe auch geglaubt, Meinhardt. Wissen Sie, wer mir half, dieses trostlose Gespenst der Vergangenheit zu überwinden?"
„Der Herr Baron."
„Richtig, und auch meine armen Kinder. Sollte ich die, denen ich zum Leben ebenso nötig bin wie das tägliche Brot, wie das Licht der Sonne, sollte ich diese Lieben alle in mein Unglück ziehen? Nein, dann hätte ich meiner ersten Schuld eine zweite hinzugefügt."
„Ich kann es nicht und bei mir liegt die Sache ganz anders."
„Wissen Sie, warum Sie es nicht können, Meinhardt? Sie trotzen mit Ihrem Schicksal, anstatt ehrlich zu bereuen. Wir beide haben dieselbe schwere Schuld auf uns geladen und müssen dafür büßen. Mit der Strafe,
die wir erlitten haben, ich sowohl wie Sie — denn die Untersuchungshaft mit der Furcht vor noch Schlimmerem hatte mich dem Wahnsinn nahe gebracht — ist die böse Tat nicht gesühnt, dazu gehört ein ganzes Leben. Wir müssen gut machen an denen, die uns lieben und die treu zu uns gehalten haben, trotz der Schmach und der Schande, die wir auch über sie brachten. Sie sagten mir doch selber einmal, daß Sie nur um der Ihrigen willen keinen Selbstmord verübt haben. Sie glauben, damit schon Großes getan zu haben, Meinhardt. Doch ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen noch mehr tun, um der Liebe willen."
„Die Liebe ist tot."
„Aber im Herzen Ihrer Grete ist sie lebendig. Wissen Sie, warum Sie sie nicht sehen wollen? — Weil Sie sich vor dem fürchten, was in Ihnen ist, wenn Sie es auch vor sich und anderen zu leugnen versuchen."
Meinhardt schwieg, er fand keine Antwort mehr. Es war ihm unheimlich, wie gut Regina in seinem trotzigen,, verbitterten Herzen lesen konnte, wo sich seit der Zeit, daß die junge Frau im Bruchhof eingekehrt war, allerlei sehnsüchtige Gedanken regten, wenn er sie auch in seinem starren Eigensinn zu ersticken versuchte.
Nun lag das alte Gemäuer vor ihnen, umsponnen von den Ranken des Geisblattes und des dunklen Efeus. Die weißen Blütenkronen der Akazien blickten über die grauen Mauern, und die Nachtigall sang ihr Liebeslied zu Ehren der treuen Gefährtin, die im verschwiegenen Nest ihre mütterlichen Pflichten erfüllte. Von fern klang das Rufen des Kuckucks wie ein Spottgesang zu ihnen her. Der See rauschte leise zu ihren Füßen, und im Rohr spielte der auffrischende Wind sein Lied, das sang von Frühlingsglück und Wonne, von der schönen, goldenen Zeit, von der Zeit der Rosen und der Liebe.
„Pflücken Sie mir noch einige Geisblattranken, Meinhardt", bat Regina. „Ich schicke Anton, um sie zu holen."
Karl Meinhardt kletterte an der Mauer empor und zerrte an dem blühenden Gezweig. Ueber ihm sangen die Vögel, und um ihn her wogte der süße, berauschende Duft der Blüten. Dazu das unruhige Pochen in der Brust und im Herzen ein heimliches Sehnen, ein Glücksverlangen, das die Worte der jungen Frau in ihm geweckt hatte. Er preßte die Ranken in seiner Faust mit ungestümem Griff zusammen und sprang hinab, doch als er sich wendete, stand die vor ihm, vor der er geflohen war all die Jahre lang.
„Grete!"
„Karl! — Ach, Karl, sei nicht böse, aber ich mußte kommen, schon der lieben, engelsguten Frau Baronin zuliebe."
„Grete!" Der Mann schrie es hinaus, wie einer der sich endlich frei weiß von den Banden, die ihm gegen seinen Willen aufgezwungen sind. Karl Meinhardt hielt sein Mädchen im Arm, als sei er noch der frische, frohe Bursche von einst. Und als er endlich zu sich kam, da sah er, was um ihn war, denn auch in seinem Herzen war der Frühling aufgegangen.
„Komm, Grete, wir wollen unserer Frau Baronin danken, wenn die nicht gekommen wäre, ich dummer, eigensinniger Kerl hätte noch mehr kostbare Zeit verloren mit all dem Grübeln und Grämen. Wir müssen uns beeilen, Schatz, um das wieder einzuholen."
„Ach, Karl, was wird sich der Großvater freuen, daß wir endlich einig sind."
„Und der meine erst!"
Als das glückliche Paar zu Regina kam, erfuhr Wolf Dietrich endlich, was geschehen war, und als sie wieder allein waren, sagte er: „Du hast eine glückliche Hand, Regina, ich hätte nie gedacht, daß es möglich wäre, den Eisenkopf zu bekehren. Wie habe ich dem Karl zugesetzt, und wir kennen uns doch von Jugend auf."
„Das gleiche Schicksal, dieselbe Schuld, Wolf Dietrich, das ließ mich wohl die rechten Worte finden. Nun bleibt mir noch eins."
„Und das wäre?"
„Den alten Eckardt mit seiner Enkelin zu versöhnen."
„Glaubst du, daß dir das gelingen wird?"
„Ich hoffe es."
„Weil die Liebe in dir ist."
„Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung", sagte Regina und gedachte wieder der schweren Zeit, als sie unter dem Gesetz gestanden hatte.
„So habe ich den Mut, für eine arme Seele zu bitten, Regina, wird es dir möglich sein, mit Tante Sibylle unter einem Dache zu leben. Ich kann es nicht über das Herz bringen, die völlig Gebrochene hinauszuweisen."
„Wolf Dietrich!" schrie Regina auf. „Hast du das für möglich gehalten, daß ich arme Sünderin es wagen würde, mit anderen ins Gericht zu gehen? Glaubt Mama wirklich, daß ich ihr die Heimat nehmen würde? Ach, Wolf Dietrich, wie gut, daß wir morgen heimkehren, was muß die Aermste gelitten haben."
„Als du verhaftet wurdest, Regina, wollte ich Tante Sibylle Hinausweisen, aber um der Kinder willen, die sie zärtlich liebt, duldete ich ihr Bleiben."