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gleichheit und Unfreiheit gegenüberzustellen. Das Bürgertum muß Ideen vertreten, dann wird es hinter sich haben das Bauerntum und die Arbeiterschaft, mit denen es durch gleiche Interessen verbunden ist. Es wird auch die Intellektuellen neben sich haben, die sich des üblen Rufes wohl bewußt sind, daß wir durch den Polizeigeist zum Gespött der ganzen Welt geworden sind. Wenn das deutsche Bürgertum eine starke Position erreicht hat, dann kann es auch der Regierung zurufen: Regiere mit uns, mit uns kannst du Politik machen. Löse auf! Wir wollen nicht alle Hoffnung aufgeben, daß Fürst v. Bülow endlich des Zauderns müde, einmal dazu übergeht, zu handeln. Denen aber, die sich immer als ausschließliche Vertreter von Bildung und Besitz ausgeben, muß zu verstehen gegeben werden, daß Bildung und Besitz vom Bürgertum vertreten werden. (Stürmischer, langanhaltender Beifall.) Nach herzlichen Dankesworten des Vorsitzenden Prof. Weber und nachdem zahlreiche Vertreter der verschiedensten im Ausschuß vertretenen Erwerbsgruppen ihre Zustimmung zum Beitritt zum Hansabund gegeben und ihre Befriedigung über den Zusammenschluß der hervorragensten Berufskreise Ausdruck verliehen hatten, schlug Geh. Komm.-Rat v. Widenmann die Absendung nachstehenden Telegramms an den Bundesvorsitzenden Geh.-Ratv. Ri eher vor: „Die heute hier tagende, von über 2000 Personen besuchte württemb. Landesversammlung der großen Fachvereinigungen für Gewerbe, Handel und Industrie in Württemberg und ihrer Freunde beschließt einmütig ihre Zustimmung zu den Zielen und Aufgaben des Hansabundes. Sie erblickt in ihm die Grundlage, auf welcher die gewerbetreibenden Kreise unseres Volkes den berechtigten Einfluß auf die Gesetzgebung erringen können. Sie richtet an alle Erwerbstätigen des Landes das dringende Ersuchen, dem Hansabund beizutreten und dessen Arbeiten mit anhaltender Begeisterung zu fördern."
Feuerbach 26. Juni. Gestern nacht gegen 12 Uhr wurde der Soldat Schwab der 5. Eskadron des Dragonerregiments Nr. 26 in Stuttgart von einem Soldaten seiner Eskadron in einem Weinberghäuschen in der Steinstraße hier schwerverletzt aufgefunden. Er war im Gesicht zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Der Verletzte wurde heute in das Garnisonslazarett Stuttgart überführt. Das Pferd des Verunglückten stand in der Steinstraße angebunden, wo auch die Lanze steckte.
Geislingen 26. Juni. Bei den gestern vormittag auf der hiesigen Schranne abgewogenen 140 Zentner Schafwolle wurde der Zentner zu 153 an die Käufer abgegeben. Der Erlös, der hieraus erzielt wurde, war ca. 21420
Sowohl das Gewicht, als auch die Qualität war gut, und die Verkäufer waren von dem Preis sehr befriedigt.
Neckartailfingen OA. Nürtingen 26. Juni. Auf noch nicht aufgeklärte Weise zerriß auf hiesiger Markung in der Nähe des Pumpwerkes der Filderwasserversorgung, die Hauptleitung der Hochspannung der Altbacher Elektrizitätswerke mit donnerähnlichem Krachen, als eben eine Bauersfrau mit ihrem mit zwei Kühen bespannten Fuhrwerk die Unfallstelle passiert hatte. Die sofort behördlicherseits angeordneten Vorsichtsmaßregeln verhüteten weiteren Unfall und nach wenigen Stunden war die Betriebsstörung durch telephonisch herbeigerufene Monteure der Altbacher Elektrizitätswerke behoben.
Deizisau OA. Eßlingen 26. Juni. Gestern vormittag hat sich der 62 Jahre alte verheiratete Zimmermann Wilhelm Fahrion von hier im Kleewald auf Denkendorfer Markung an einer Tanne ca. 6 Meter hoch erhängt. Der Leichnam wurde bald darauf von Bauern ausgefunden.
Friedrichshafen 26. Juni. Dem Seeblatt zufolge verlautet, daß das Luftschiff I" nicht rheinabwärts, sondern über Tübingen- Stuttgart-Pforzheim-Karlsruhe-Maxau-Metz fahren werde. Ein Waggon Wasserstoffgas, der noch nachträglich in Friedrichshafen eintraf, wird das Luftschiff auf dem schnellsten Bahnweg begleiten. Oberingenieur Dürr werde es voraussichtlich im Automobil verfolgen. Die Führung habe Major Sperling. Insassen seien ferner Hauptmann George, die Leutnants Brande! und Bart vom Telegraphen- und Eisenbahnbataillon, Oberingenieur Müller, zwei Monteure, zwei Chauffeure, ein Matrose und zwei Soldaten. 11" werde bis mitte Juli fertig und dann die beabsichtigten großen Fahrten unternehmen. „2 III" gehe mitte August seiner Vollendung entgegen und werde dann ende August nach Frankfurt zur internationalen Luftschiffausstellung verbracht.
Aalen 26. Juni. (Straßenraub.) Am Donnerstag, den 24. ds. Mts. abends kurz nach 9 Uhr wurde der Besitzer Philipp von Sixenhof in dem Sixenhofer Walde von zwei Unbekannten angesallen, ihm ein Strick über den Kopf geworfen, der Hals zugeschnürt und am Hals und an den Füßen an einen Baum gebunden. Philipp wurde in diesem Zustande am anderen Morgen um 9 Uhr vom Gemeindepfleger von Essingen aufgefunden und von seinen Fesseln befreit. Geraubt wurden dem Philipp ein 100 -/-«-Schein, ein 20 -^-Sück, drei 10 -^-Stücke und etwas Kleingeld, eine silberne Remontoiruhr mit Bügelaufzug, eine silberne Panzerkette sowie ein goldener Ehering ohne Namen und Zeichen. Als Täter kommen in Betracht zwei Männer im
Alter zwischen 30 und 40 Jahren; ein größerer und ein kleinerer, jeder trug einen schwarzen Schlapphut. Ueber die sofort angestellten Nachforschungen ist noch nichts Näheres bekannt geworden.
Kiel 26. Juni. Reichskanzler Fürst Bülow ist 8 Uhr 21 Minuten, ohne in Hamburg den Schnellzug abgcwartet zu haben, mit dem Personenzug hier eingetroffen. In seiner Begleitung befand sich der Chef des Zivilkabinetts v. Valentini. Der Fürst wurdK auf dem Bahnhof von Admiral Müller empfangen. Der Kaiser, der den Anzug des kaiserlichen Jachtklubs trug, schien sehr vergnügt und gesprächig. Er begab sich sofort zu der gegenüber dem Bahnhof an der Anlegebrücke liegenden Salonpinasse der „Hohenzollern" und fuhr zu der „Hohen- zollern" hinüber. Unmittelbar nach seinem Eintreffen wurde er vom Kaiser empfangen, mit dem er eine nahezu zweistündige Unterredung hatte.
Kiel 26. Juni. Der Vortrag des Reichskanzlers beim Kaissr dauerte bis 11 Uhr 15 Min. Nach seiner Beendigung zog sich der Kaiser zur Erledigung von Regierungsgeschäften zurück, während der Reichskanzler ein längeres Gespräch mit dem Chef des Zivilkabinetts, Valentini, führte. Aus verschiedenen äußeren Anzeichen erscheint der Schluß berechtigt, daß der Reichskanzler im Amte bleiben wird. Ueber die Schritte, die getan werden sollen, um die unersprießliche politische Situation zu beenden, bleibt man jedoch auf vage Vermutungen angewiesen. — Der Kaiser begab sich nach 1 Uhr zum Frühstück auf die Pacht „Ariane" des Herrn Meunier und entsprach damit einer schon vor einiger Zeit an ihn ergangenen Einladung. Der Reichskanzler blieb zum Frühstück auf der „Hohenzollern" und reiste mit dem Zuge 2 Uhr 55 Minuten nachmittags von Kiel wieder ab.
Kiel 26. Juni. Bei seinem heutigen Vortrag über die politische Lage hat der Reichskanzler den Kaiser umseine sofortige Entlassung gebeten. Der Kaiser hat es jedoch ab gelehnt, im gegenwärtigen Augenblick dem Wunsche des Fürsten zu entsprechen. Der Kaiser wies darauf hin, daß nach einmütigerUeberzeugung der verbündeten Regierungen das baldige Zustandekommen der Reichsfinanzreform für die innere Wohlfahrt und für die Stellung nach außen eine Lebensfrage sei. Er könne unter diesen Umständen der Erfüllung des Wunsches des Fürsten Bülow auf Entlassung von seinenAemtern nicht eher näher treten, als bis das Resultat für die Reichsfinanzreform ein positives und für die verbündeten Regierungen annehmbares Ergebnis gezeitigt haben würde.
Regina.
Roman von I. Iobst.
(Fortsetzung.)
„Der Herr Baron hatte mir mein Glück für immer verdorben!" fuhr Willert fort, „die Wut erstickte mich fast bei seinem Anblick. Es zog mich hinter ihm her wie mit starken Händen. Ich sah ihn am Fenster stehen — er hätte mich sehen müssen, aber er blickte sich nicht um, er hatte Besseres zu tun. Nun stand er in der geöffneten Tür, das Licht war hinter ihm und ich hörte eine laute Stimme an meinem Ohr: „Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich mußte die Büchse heben, ich drückte ab. Ich taumelte, als sei ich selber getroffen, dann stürzte ich davon. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gefunden habe; man hat mir später erzählt, ich sei im Fieber heimgekommen und habe die ganze Nacht irre geredet. Ader verraten habe ich nichts. All die Jahre habe ich es mit mir herumgetragen. Ich schwieg, weil kein Unschuldiger angeklagt wurde. Dann hätte ich gesprochen."
Wieder stöhnte Eckardt auf; es war ein Jammer, den gebrochenen Mann anzusehen.
„Großvater, ich hätt's gern mit ins Grab genommen, aber das durfte ich nicht. Es konnte ja nach meinem Tode ein Unschuldiger, angeklagt werden, und ich hätte dann nicht mehr sprechen können. Die Schande wollte ich dir nicht machen, daß ich ins Zuchthaus müßte. Gott wird es mir nicht anrechnen, daß ich schwieg. Ich habe die sieben Jahre solch Elend getragen, keine Freude an der Frau, keine an dem Jungen und dann die Schuld — das war Buße genug. Ich glaube, daß meine Frau weiß, was ich tat. Es war ein böses Leben, das wir miteinander hatten, und jetzt ist es aus."
Der Kranke lag ganz still mit verklärter Miene und hörte zu, wie seine Aussage verlesen wurde.
„Können Sie Ihre Aussage beschwören, Willert?" fragte der Richter.
„Ja", antwortete der Sterbende und sprach den Eid nach. Mit einem tiefen Aufatmen legte er den Kopf noch schwerer in die Kiffen zurück, die Augen schloffen sich, man sah, daß sich eine eigentümliche Veränderung in den Zügen zeigte, und rief den Arzt.
Als Doktor Gläser sich eine Weile mit Willert beschäftigt hatte, hob er den Kopf und sagte leise: „Es geht zu Ende."
Willert hörte es nicht, er schlug noch einmal das dunkle Auge auf und sagte mit leiser, aber vernehmlicher Stimme:
„Sie sind glücklich! Meinhardt, wie sagten Sie noch?
Der Fischmeister wußte sofort, was der Sterbende meinte, er stellte sich an das Fußende des Bettes, faltete die Hände wie zum Gebet und sprach laut, während Tränen ihm in den weißen Bart rollten: „Ich könnte den Mörder segnen, der unserer Herrschaft zu ihrem Glück verhelfen hat."
„Amen", sagte Eckardt und legte die Hand auf die Stirn Willerts, „Gott sei deiner Seele gnädig."
Ueber die Züge des Sterbenden glitt der letzte Schimmer von Bewußtsein. Die Brust holte noch einmal Atem, die Augen brachen. Kein Gesetz von Menschen gemacht, sollte den armen Sünder richten.
13. Kapitel.
„Nach dem Schloß!" beschied Below den Kutscher, als er mit seinem Begleiter den Wagen bestieg.
„Sie wollen Ellern gleich Mitteilung machen?" fragte Doktor Gläser.
„Ja", erwiderte Below wortkarg. In seiner Seele hatte nichts mehr Raum als das eine: Frau v. Ellern hatte einen Meineid geschworen, und seine Pflicht war es, die Anzeige zu machen.
„Das kann lang dauern, Amtsrichter."