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Göppingen 22. Juni. In der hiesigen Bahnhofrestauration wurde gestern einem Mann aus Uhingen ein Fahrrad gestohlen. Die beiden Diebe wurden gestern von einem Landjäger entdeckt, als sie das Fahrrad in der Nähe des Steighofs versteckten. Sie wurden sofort festgenommen und ans Amtsgericht eingeliefert.
Tübingen 22. Juni. Der württem- bergische Ob st bau tag soll am 12. September hier stattfinden. — Der gewerbliche Fortbildungsunterricht soll auch auf die sogenannten verwandten Berufe (Schuhmacher, Schneider, Gärtner etc.) ausgedehnt werden. Er wird in den neuen Schulräumen im Stadtmagazin, mit dessen gründlichem Umbau bereits begonnen wurde, am 15. Mai nächsten Jahres voll ausgenommen werden. Die Schneider erklärten sich geschlossen gegen Einbeziehung ihrer Lehrlinge in den obligatorischen Unterricht, die Schuhmacher waren einstimmig dafür, die Gärtner nahezu einstimmig. Alle Lehrlinge unter 18 Jahren zu dem Unterricht zuzuziehen, scheint hier vor der Hand nicht nötig zu sein. Mit den Lehrlingen verwandter Berufe dürften gegen 335 Schüler an dem Unterricht dann teilnehmen.
Kirchheim u. T. 22. Juni. (Wollmar k t.) Die heurige Zufuhr betrug 3300 Ztr. gegen 4300 Ztr. im Vorjahr. Bei steigenden Preisen wurde der Markt außerordentlich rasch geräumt, bis nachmittags 4 Uhr war das ganze Quantum verkauft. Erlöst wurde pr. Zentner 150—155 ^, ein Posten wurde zu 157 und ein weiterer zu 162 ^ abgesetzt. Im Laufe des Nachmittags wurden viele Partien gesackt. Die geringere Zufuhr ist darauf zurückzusühren, daß viele Posten von den Produzenten direkt gekauft wurden, so daß eine Beschickung des Marktes nicht erfolgte.
Vom Wieslauftal 22. Juni. Der Westwind, der gestern wehte, führte einen Ballon in unser stilles Tälchen, der gegen 3 Uhr in der Nähe von Rudersberg OA. Welzheim landete. Der Gondel entstiegen 4 Herren, der Führer, der aus Elberfeld stammt, und 3 Offiziere aus Mülhausen im Elsaß. Der Ballon war um 8 Uhr morgens in Straßburg aufgestiegen. Das Material wurde auf dem Bahnhof Rudersberg verladen, von wo aus die Weiterreise erfolgte. (Der Ballon wurde nachmittags 1 Uhr über Wildbad in der Richtung zum Kleinenztal ziehend beobachtet. Er ist unzweifelhaft auf dem Wald und im Gäu weit und breit gesehen worden. Red. ds. C. Wochenbl.)
Ulm 22. Juni. Nach dem Einrücken von einer Felddienstübung ging ein Ulan in der Wiblingerkaserne ungeschickt mit seinem Karabiner um, der noch eine Platzpatrone enthielt. Die Waffe entlud sich und der Schuß durchschlug Ulankakragen und Halsbinde eines in der Nähe
stehenden Mannes, der eine lebensgefährliche Wunde am Halse erlitt. Der Verletzte wurde ins hiesige Lazarett geschafft.
Berlin 22. Juni. Zur parlamentarischen Lage wird dem Lok.-Anz. aus dem Reichstage geschrieben: Heute sind die ersten Abstimmungen zur Reichsfinanzreform zu erwarten und zwar über die Kotierungssteuer, die voraussichtlich mit einer nennenswerten Mehrheit angenommen werden wird. Die Entscheidung über das Schicksal der Erb- anfallsteuer liegt bei der sozialdemokratischen Fraktion und bei der Reichspartei. Wenn sich die sozialdemokratische Fraktion entschließt, für die Erbanfallsteuer zu stimmen und wenn die Reichspartei auf die Forderung einer Sicherung gegen künftige Erweiterungen oder Erhöhungen der Steuer verzichtet, vielmehr bedingungslos ihre Zustimmung erklärt, so ist die Möglichkeit des Sieges der Erbanfallsteucr nicht ausgeschlossen. Daß der Bundesrat sich mit der Kotierungssteuer trotz schwerer Bedenken absinden dürfte, wird allgemein angenommen, weil ihm schließlich nichts anderes übrig bleiben wird, wenn er die Auflösung des Reichstages nicht betreiben will. Die Mehrheit des Reichstages, die die Kotierungssteuer durchsetzt, wird nämlich in das Finanzgesetz eine Bestimmung ausnehmen, wonach die indirekten Steuern oder doch die den Massenverbrauch am meisten belastenden Steuern nicht eher erhoben werden dürfen, als bis die Kotierungssteuer in Kraft gesetzt ist. Es ist möglich, daß eine volle Klärung der Lage erst eintritt zwischen der 2. und 3. Lesung im Reichstage, es sei denn, daß die Erbanfallsteuer schon in der zweiten Lesung in allen ihren Teilen abgelehnt wird.
Berlin 22. Juni. (Reichstag.) Auf der Tagesordnung stehen zunächst einige kleinere Vorlagen. Zur ersten Beratung steht eine Rechnungsvorlage über die Ausgaben aus Anlaß des Eingeborenen-Ausstandes in Südwestafrika. Abg. Noske(Soz) bemerkt, diese Vorlage zeige deutlich, wie in Südwestafrika mit dem Gelbe der Steuerzahler gr wirtschaftet worden sei. Die Schlamperei dort sei in der Begründung zur Vorlage von der Regierung ausdrücklich zugegeben worden. (Vizepräsident Paasche ruft den Redner wegen des Ausdruckes Schlamperei zur Ordnung.) Welche Ordnung dort geherrscht habe, sehe man daraus, daß, wer weiß wie viele Ausgoben-Belege fehlen. Abg. Görcke (natl.) beantragt die Verweisung an die Rechnungs-Kommission. Staatssekretär Dernburg erklärt: Soweit Rechnungen beigebracht werden können, werden sie vorgelegt werden, aber wenn in einem Feldzuge Belege verloren gingen, chas wolle man da machen. Wenn der Abg. Noske Malver- sationen behauptet, so müsse er solche Beschuldigungen beweisen können, wenn nicht, so mache er sich der Beleidigung schuldig. Die Vorlage geht sodann an
die Rechnungskommission. Es folgt die erste Lesung eines Nachtrags-Etats zur Beschaffung von Truppen-Uebungsplätzen. Die Einnahmen sollen durch Verkauf von Teilen des Tempelhofer Felder aufgebracht werden. Abg. Erzberger (Z.) beantragt Verweisung an die Budget-Kommisston. Die Abgg. Görcke und Singer schließen sich diesem Anträge an und die Vorlage geht hierauf an die Budget-Kommission. Weiter steht auf der Tagesordnung die erste Beratung der Novelle zum Schank- gefäßgesetz vom 20. Juli 1881. Es Handel! sich dabet darum, bei Gläsern rc. Aichung zuzulassen in Stufen von 20 Teilen deS Liters (bisher 10). Auch soll durch verwaltungsbehördltche Anordnung der Schaumraum (Abstand vom Rande des Glases) von 1 auf 2 Ctm. erhöht werden dürfen. Die Vorlage wird debattelos in erster Lesung erledigt. Sodann wird die Beratung der Kotierungssteuer fortgesetzt Abg. v Gamp (Rp.) wendet sich gegen die gestrigen Ausführungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein. Von der Kotierungssteuer verspreche er sich selbst gar keinen Erfolg. Viel mehr angezeigt sei eine Börsen-Umsatzsteuer. Einen finanziellen Erfolg werde die Kotierungssteuer, wie die Finanzkommission sie beschlossen habe, nicht haben. Im Uebrigen dürfe man doch auch bei einer Besitzsteuer nicht ganz die Gerechtigkeit ignorieren und die Staats- Fonds im Gegensatz zn Kommnnalpapieren, Pfandbriefen rc. ganz steuerfrei lassen. Abg Dove (frs. Vg.) meint, wer das mobile Kapital treffen will, muß sich doch erst einmal fragen, in welchen Händen es sich befinde und da vergesse man doch nicht die vielen kleinen Leute, die sich im Besitz solcher Papiere befinden und zwar auch von Dividenden-Papieren und man denke doch auch an die Sparkassen, die im Besitz von Kommunal-Papieren sind. An der Kursnotiz liege den Sparkassen nichts, wohl aber hätten die Kommunen ein Interesse daran, daß der Kurs ihrer Titres notiert wird. Redner schließt: Wir wollen das mobile Kapital auch besteuern, wir wollen es aber zusammen mit dem immobilen besteuern und dazu erscheint uns jedenfalls die Erb- vnfallsteuer geeignet, wenn auch nicht so geeignet, wie eine Reichsvermögensstruer. Abg. Raab
(w. Vg) führt demgegenüber aus: das immobile Kapital sei schon übermäßig besteuert,-während das mobile Kapital sich nach wie vor der Besteuerung zu entziehen suche. (Gelächter links.) Eine Vermögenssteuer würde auch seinen Freunden, wenn sie für das Reich zu erlangen wäre, willkommen sein, aber eine ideale Steuer sei auch die Vermögenssteuer nicht. Auch weiterhin tritt Redner für die Kotierungssteuer ein. Abg. Graf
MielzynSki (Pole): Wir haben uns für das kleinere Nebel entschieden und treten daher für die Kotierungssteuer ein und werden selbstverständlich gegen die Erbschaftssteuer stimmen. Abg. Weber
(natl.): Wir haben uns gestern an Herrn Büstng gewandt und von ihm telegraphisch die Antwort erhalten, daß es ihm gegenüber der Behauptung des Abg. Müller-Fulda niemals eingefallen sei, sich für eine Kotierungssteuer auszusprechen. Eine solche Steuer sei das Schlimmste, was Handel und Verkehr treffen könne. Redner weist dann namentlich wieder die Bezugnahme der Kotierungssteuerfreunde ' auf Frankreich und die Londoner Börse zurück. An
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Regina.
Roman von I. Jobst.
(Fortsetzung.)
Auch während der Mahlzeit wollte die alte Fröhlichkeit nicht wiederkehren obwohl sie sich dazu zu zwingen versuchte. Wolf Dietrich bemerkte es voller Sorge, doch ahnte er den Grund nicht. Es war in der Tat heute das erstemal, daß Regina Karl Meinhardt begegnete, und damit war auch der Schatten wieder da, das Bewußtsein ihrer Schuld, das so lange geschlafen hatte, eingewiegt von dem Glück der langen Jahre. Es war wie ein Spuk, wohin sie sah, starrten ihr wieder die drohenden, erbarmungslosen Augen entgegen, die sie nur zu gut kannte, und keine strahlende Wintersonne vermochte das Gespenst zu verjagen.
Sie würgte jeden Bissen der vortrefflichen Speisen hinunter und hob die Tafel viel früher auf, als es Ellern lieb war. Er feierte Erinnerungen, und sein: „Weißt du noch?" oder: „Als wir so überselig waren!" wurde ihr zur unerträglichen Qual.
„Werden wir von hier zu Fuß weitergehen?" unterbrach sie voller Ungeduld eine verliebte Schilderung vergangener Tage.
„Wenn es dir nicht zuviel ist?"
„Im Gegenteil, es ist gesünder als das Schütteln des Wagens auf den hartgefrorenen Wegen."
„Wir hätten den neuen Wagen nehmen müssen, dieser alte hat schlechte Federn."
„Aber er ist mir besonders lieb."
„Das war auch der Grund, daß ich ihn wählte. Ach entschuldige noch einen Augenblick oder gehe nur schon voraus, immer geradeaus. Meinhardt scheint mich noch sprechen zu wollen," sagte Ellern, als sie, zum Aufbruch bereit, vor dem Hause standen.
„Beeile dich nicht, ich kenne ja den Weg."
Froh, allein zu sein, verfolgte Regina ihren Weg, der zuerst über eine Wiese führte, um sich dann in einer Tannenschonung zu verlieren. Sie sah nicht, wie herrlich die immergrünen Bäume geschmückt waren, wie tief sich das breite, dichte Gezweig unter der glitzernden Pracht beugte und das Dunkelgrün der Nadeln sich von dem reinen Weiß der Schneelasten abhob. Sie hörte nur auf die Stimme in ihrem Innern, die wieder zum Leben erwacht war und ihr ein Schreckensbild nach dem andern malte.
Reginas Augen blicken starr hinaus in den weißen Zauber der Natur, aber er wirkte nicht auf sie. Das tiefe, heilige Schweigen um sie her spürte sie nicht, auch das knisternde Geräusch nahender Schritte, die sich ihr rasch näherten, beachtete sie nicht, bis der Mann, der so eilig daherkam, vor ihr stand.
„Meinhardt, sind Sie es?" schrie sie auf.
„Ich muß es wohl sein, Frau Baronin", antwortete der Mann. „Aber der Karl Meinhardt, den sie gekannt haben, der ist tot."
„Können Sie denn nicht vergessen, Karl?" fragte Regina scheu.
„So etwas vergißt man nie. Ich wollte, das Leben wäre aus. Ich mochte der alten Schuld nicht eine neue hinzufügen, sonst hätte ich mich umgebracht."
„Meinhardt!"
„Nein, nein, Frau Baronin, schon um des Großvaters willen tue ich es nicht, er und Vater haben schon Schande genug an mir erlebt. Ich soll meine Tat sühnen, sagte der Zuchthausprediger. Er meinte es gut, aber helfen kann er mir auch nicht. Meineid ist Meineid, sagte der auch."
„Und was sagen Sie, Karl?"
„Ich sage, es muß von Fall zu Fall geurteilt werden. Leichtsinn war es bei mir, falsche Gutmütigkeit! Ich habe nie einem Menschen,
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