viümlilall.
Samstag Beilage z« Nr. LOS« 21. Dezember 1907.
Der verlorene Sohn.
Roman vonElsbrth BorÄart.
(Fortsetzung.)
Lassen Sie mich in meiner letzten Stunde ganz offen sein. Meine Tante hatte nur ein Ziel vor Augen: Frau Kommerzienrat Hslmb recht zu werden, und auf dem Wegs zu diesem Ziel stand ihr einer im Wege
— Georg.
Georg machte aus seiner Abneigung gegen sie kein Hehl, und das wäre wohl ein wichtiger Faktor gewesen, seinen Vater in seiner Wahl zu bestimmen. Auch konnte sie alle ihre kleinen geschickten Manöver in Gegenwart des erwachsenen Sohnes nicht aurführen. Sie sann also auf Mittel und Wegs, ihn zu entfernen und unschädlich zu machen, und ich war ihr das Werkzeug zu diesem Plan, wenn damals auch nichts ahnend.
Sie verschaffte mir auf rätselhafte Weise einen Nachschlüssel zu Ihrem Privatkonto!, und ich holte mir zuweilen nächtlicherweile eine Summe, die ich gerade brauchte, aus der Kassette. Ich könnte ja alles bei Gelegenheit zurückgeben, meinte sie, und Sie würden dann denken, einen Rechenfehler gemacht zu haben. Ich solle vor allem recht vorsichtig sein und mich nicht
erwischen lassen.-Meine Gläubiger und die Angst vor einem strengen
Vater ließen mich den Schritt wagen. Zu meinem Schrecken wurde der Diebstahl entdeckt, doch meine Tante beruhigte mich. Durch sie erfuhr ich von Ihren Nachtwachen und stellte, also gewarnt, meine Raubzügs ein, um sie, sobald die Luft rein war, zu wiederholen. Aber schon nach meinem
ersten Gange-diesmal hatte ich eine bedeutende Summe entwendet
-sagte sie mir, daß es das letzte Mal gewesen sei; ich dürfte künftighin diese Quelle nicht mehr benutzen.-
War nun folgte, kam so schnell, daß es mich vollständig verwirrte. Ich erfuhr, natürlich wieder von meiner Tante, denn sonst ahnte niemand darum, daß man Georg beschuldigte, daß man bei ihm den Nachschlüssel und eins Blendlaterne gefunden habe. Da gingen mir mit einemmals die Augen auf. In meiner ersten Empörung und Äufwallung wollte ich zu Ihnen gehen und Ihnen alles gestehen, doch sie hielt mich gewaltsam zurück. Und ich, ein unverfahrener Mensch, ließ mich von ihr überreden
-ich schwieg. Das einzige, was ich für Georg tun konnte, war,
Ihnen seine Unschuld zu versichern. Sie glaubten mir nicht, und damit wurde die Absicht Tante Beates zur Wahrheit. Georg wurde nach Amerika verbannt und sie hatte freies Spiel. Noch einmal, ein letztesmal wurde ich schwankend, als Georg Abschied von mir nahm. Und es bedurfte aller ihrer Ueberredungskünfte und Warnungen, mich nicht ins Verderben zu bringen, um mich auch hier wieder schweigen zu lassen. Ihr Trost. Sie würden Georg bald wieder zurückrufen und alles vergessen sein, verfing bei mir nur zu gut. Ich beruhigte mein Gewissen. Zudem wurde mein Vater weit versetzt, und es gab bald nicht mehr viel, was mich an diese Episode meines Lebens erinnerte. — — Was weiter geschah, wissen Sie so gut wie ich. Es gelang meiner Tante nicht, Ihre Zuneigung zu erwerben
-Sie wählten eine andere zur Gattin. Diese Gattin haßte Tante
Beate, so wenig sie es Ihnen zeigte. Sie ging bald nach ihrer Verlobung von Ihnen fort und kam zehn Jahre später zu mir, — — leider, denn sie wurde auch jetzt wieder der Dämon meines Lebens. Um mein wiedererwachtes Gewissen zu betäuben, wurde ich zum Spieler — — es ging bergab mit mir. Da zeigte sie mir wieder einen Rettungsweg — — die
Heirat mit Inge, die sie, als Ihre einzige Erbin, für reich hielt.-
Herr Kommerzienrat, ich Habs Ihnen Ihren verlorenen Sohn geraubt und darauf auch die Tochter. Doch wie sehr sie mich auch verdammen mögen
— in Bezug auf Inge müssen Sie mich frsisprechen. Er ist richtig, daß ich kam, nur um das „reiche" Mädchen zu freien, aber alle diese Wünsche gingen unter in heißer Liebs zu ihr. Ich habe Inge geliebt, wie man nur ein Weib lieben kann, und daß sie mich jetzt verachten und verabscheuen muß» das ist es, was mich aus dem Leben treibt. Meine reine, stolze Inge soll von dem Manns befreit werden, der ihr so viel Kummer und Schande gemacht hat. Das ist das einzige, was ich noch für sie tun kann. Ich schreibe ihr selbst noch einige Abschiedsworts; das soll meine Henkersmahlzeit sein. Sie, Herr Kommerzienrat, können mir nicht vergeben, ich weiß es und deshalb bitte ich nicht darum. Nur bitte ich: Verurteilen Sie mich nicht zu hart — bedenken Sie, daß man mich zum Verbrechen zwang, als mein Charakter noch besserungsfähig war. Aus allen meinen besseren, edleren Gefühlen rettete ich nur eins: Meine Liebe zu Inge. — —
Mein Haß gegen die Zerstörerin meines Glückes ist grenzenlos. Dennoch habe ich sie nicht dem Gericht überliefert, obgleich sie meine Mitschuldige auch bei diesem letzten Verbrechen war. Auf meiner Flucht über Hamburg übergab ich ihr einen großen Teil meines Geldes, wie sie sich ausbedungen hatte. Seit meiner Verhaftung habe ich nichts wieder von ihr gehört. Aus der Zeitung wird sie jedoch mein Geschick entnommen und ihre Maßregeln danach getroffen habe». — Dar ist alles, was ich Ihnen zu sagen hatte. Ich fühle mich nach diesem Bekenntnis leichter und ich sehe dem Tod gefaßter ins Auge. Und wenn es Ihnen später möglich ist, so verdammen Sie nicht ganz Ihren unglücklichen Hans Grunow."
„Mein Sohn-mein armer Sohn!" Das war das Einzige, was
Helmbrecht in kurzen Zwischenräumen in schauerlichen Tönen heroorbrachte.
Die Stunden verrannen. Da tat sich die Tür auf und Frau Helmbrecht, durch ihres Gatten langes Fernbleiben beunruhigt trat ein.
„Mein Gott, Karl, was ist geschehen-was fehlt dir?"
Vor dem Schreibtisch Grunowr, den Kopf in beide Hände auf die Platte gestützt, saß Helmbrecht und rührte sich nicht.
„Karl — — um Himmelswillen, Karl," schrie sie auf und rüttelte an seinem Arm.
Langsam hob er den Kopf und sah verstört um sich. Erst nach wiederholten angstvollen Fragen seiner Frau kam er allmählich zur Besinnung. Er zog sie an sich und brach, seinen Kopf an ihre Brust lehnend, in ein erschütterndes Schluchzen aus.
„Karl-Liebster-du darfst nicht weinen — — deine
Augen bedürfen noch der Schonung."
„Was tuts? Die Nacht in mir ist schlimmer als die Nacht um mich."
„So sprich doch nur, was ist es, das deine Kraft gebrochen hat-
so plötzlich — — so unerwartet?"
Helmbrecht faßte sich; er reichte ihr schweigend den Brief Grunows. Sie las ihn, und wurde blaß wie der Tod.
„Karl-du armer-du armer Mann."
„Er war unschuldig, Elisabeth-er war unschuldig!" schrie er
plötzlich grell auf, so daß seine Frau erschreckt zusammenfuhr. „Wenn er nun durch mich zum Verbrecher geworden, wenn er nicht rechtschaffen und
ehrlich geblieben wäre? — — Ich-ich trieb illn ins Verderben.
Der Wahnsinn könnte mich fassen bei dem Gedanken!" d
„Er ist rechtschaffen geblieben — — verlaß dich darauf. Dein
Sohn-wie hätte er anders werden sollen, als du-edel-
gut, brav-"
„Elisabeth."
„Set ruhig, Karl, du quälst dich mit Hirngespinnsten. Nicht dich trifft die Schuld, sondern jene Person, die so lange in deinem Hause war, deren Gesellschaft Inge so lange und, wie sie mir erzählte, widerwillig ertrug. Nun ist es mir klar, warum sie nicht ein Wort der Teilnahme sandte."
„Dar teuflische Weib!" Mit einem Ruck sprang Helmbrecht auf. „Elisabeth, du bringst mich auf den rechten Gedanken, er wird mich ablenken von meinem wahnsinnigen Schmerz. Ich will hin zu ihr und Rechenschaft von ihr fordern."
„Was willst du tun, Karl?"
„Nach Hamburg fahren, sie suchen und sie kraft dieses Briefer von Grunow den Gerichten überliefern. Ihre Mitschuld ist daraus so gut wie erwiesen, und welche Strafe wäre wohl groß genug für das, was sie getan hat."
„Wie willst du sie finden? Du weißt ihre Wohnung nicht," schaltete Frau Helmbrecht ängstlich ein.
„Nein, Grunow nannte sie in seinem letzten Anfall von Großmut nicht. Doch auf Grund seiner Angaben kann ich mich der Polizei'bedienen. Es wird nicht schwer sein, sie ausfindig zu machen und dann gnade ihr Gott."
Und Frau Helmbrecht wagte keinen Widerspruch mehr. Sie;wußte nur zu gut, daß er nicht von dem abging, was er sich einmal vorgsnom- men hatte.
Noch denselben Abend reiste Helmbrecht nachdem er sich mit der Kriminalpolizei in Verbindung gesetzt hatte, mit einem Detektiv ab.
Die Wohnung der Beate Wegner wurde, trotzdem sie sich dort einen anderen Namen beilegt hatte, bald ermittelt. Als man jedoch in der Wohnung ankam, war der Vogel aurgeflogen.
Ihre Angabe, daß sie zu einer kranken Freundin gereist sei, erwies sich als falsch. Die Hausleute sagten aus, daß die Dame allein gewohnt und sehr zurückgezogen gelebt habe.
Der Telegraph spielte nach allen Richtungen; von Beate Wegner rand sich keine Spur. Sie hatte also den richtigen Zeitpunkt benutzt, eben, so wie sie schon zu rechter Zeit Berlin verlassen hatte, gerade als ihr Neffe a fing, auf ihren Rat Veruntreuungen an Mündelgeldern auszuführen. Auf diese Weise hatte sie nicht allein die ihm vor seiner Hochzeit mit Inge geliehene Summe zurückerhalten, sondern auch noch einen hübschen Gewinn herausgeschlagen. Unverrichteter Sache kehrte Helmbrecht nach Berlin zurück.
Er hatte Rache nehmen wollen, aber der Herr der Himmels und der Erde hatte sein „Die Rache ist mein" dazwischen gerufen, und er beugte darunter gramerfüllt das Haupt.
Von alledem ahnte Inge nichts und durfte auch nichts ahnen.
Stumm und teilnahmslos, mit glanzlosen Augen in unbestimmte Fernen starrend, saß sie Stunde um Stunde. Nicht einmal die Abreise des Vaters hatte vermocht, sie aus ihrer Lethargie zu reißen.
Frau Helmbrecht verzehrte sich in Angst und Sorge, und selbst Doktor Pauli fand keinen Trost mehr.
„Wenn es nur etwas gäbe, was die junge Frau herausrisse, etwas Ueberwältigendes, meinetwegen auch schmerzvoll Erregender — wenn nur der apathische Zustand dadurch schwände," sagte er.
(Fortsetzung folgt).