Sonntag
Beilage z« Nr. ISS.
mblritt.
Der verlorene Sohn.
Roman vonElSbeth Borchart.
(Fortsetzung.)
Frau Helmbrecht unterdrückte mit Mühe einen Jubelruf.
„Inge, meine Inge."
„Was ist mir geschehen?" fragte Inge mit leiser, matter Stimme.
„Du warst krank, mein Liebling, sehr krank, doch nun wirst du Gott- lob wieder gesm d werden."
„Ich Habs so schrecklich geträumt, Mutti — ist doch alles nicht wahr, gelt?"
„Nichts ist wahr, mein Liebling, schlaft nur wieder ein."
„Wo — wo ist Hans, Mutti?"
Die Frage traf sie wie ein Schlag, das Blut stockte in ihrem Herzen. Aber sie faßte sich und antwortete so ruhig und gelaffen wie möglich:
„Verreist, Kind."
Inge hatte die Frage wohl schon in halber Schlasbefangenheit getan. Sie hörte kaum noch aus die Antwort, sondern schloß die Augen und schlief ein.
Wenn sie geahnt hätte, wie nahe er ihr in Wahrheit war!
Ein Schauer faßte Frau Helmbrecht» wenn sie diese Möglichkeit in Erwägung zog.
Amtsrichter Volkmann, der jetzt öfter kam und den Damen mit Rat und Tat zur Seite stand, hatte die näheren Einzelheiten erzählt.
Die Polizei und Staatsanwaltschaft hatten sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, des Flüchtigen habhaft zu werden. Gerade als Rechtsanwalt Grunow im Begriff stand, sich im Hamburger Hafen in ein amerikanisches Aurwandererschiff einzuschiffen, trat ihm die rächende Nemesis in Gestalt eines Schutzmannes entgegen und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet."
Kein verzweifeltes Wehren half. Auf einen Wink eilten noch zwei andere Polizisten hinzu, die ihn festhielten. Er war also zu spät und tas Spiel verlo-en. Man batte ihn nach Berlin transportiert, und er saß nun in Moabit im Untersuchungsgefängnis, so nahe seinem Heim, seiner jungen Frau, aber hohe Mauern und vergitterte Fenster trennten ihn von ihr.
Die Anklage lautete auf Unterschlagung und Veruntreuung von Mündelgeldern und anderen ihm anvertrauten Summen und zwar in bedeutendem Umfange, unter erschwerenden Umständen, mit raffiniertem Geschick eingelettet.
Tie Untersuchung war in vollem Gange, sie brachte ein so erschreckend belastendes Material zu Tage, daß es erfolglos gewesen wäre, zu leugnen.
Grunow tat es auch nicht. Finster und in sich gekehrt saß er in seiner Zelle, ein Schatten von dem, was er einst gewesen war.
Em wahnwitziges Lächeln umspielte zuweilen seine Züge, und dann ballte er wieder die Fäuste in wildem Grimm und stieß gegen jemand Flüche und Verwünschungen aus.
Arme, arme Inge! So jung noch, so zum Glück geschaffen und nun dieses herbe Los. Wenn sie die Wahrheit nur erst überstanden hätte! Dann wollte die Mutter mit ihr Berlin verlassen und daheim in Buchenau die Wunden verbinden, die das Schicksal ihr so grausam geschlagen hatte.
14 .
Wieder waren vierzehn Tage verflossen.
Die Binde war von den Augen des Kommerzienrats genommen, und zum erstenmal sah er wieder das TaqeeliLt, das durch Vorhänge im Zimmer herrschte. Es war ein weihevoller Augenblick, als Helmbrecht, auf den Arm der Gattin gestützt, den Jubelruf ausstieß: „Licht!"
Er umarmte sein Weib und küßte es. er faltete die Hände über ihrem Haupte und betete und wehrte den Tränen, die für die noch in Heilung begriffenen Augen schädlich gewesen wären.
Eng an ihn geschmiegt stand Frau Helmbrecht, und ein Freudenschrei verklärte die blaffen, abgemagerten Wangen. Ein Licht in der Trübsal, ein Freudentropfen in dem Becher voll Wermut.
„Wo ist Inge, warum begleitete sie dich nicht, Elisabeth?
„Inge war krank, Lieber —-sie darf noch nicht ausgehen."
„Krank? Und das verschwiegst du mir?"
„Wozu sollte ich dich unnütz ängstigen? Es steht gottlob besser mit ihr."
„Und wo ist Grunow?"
Ein eiskalter Strahl überlief ihren Rücken.
„Er ist verreist."
„Jetzt gerade, wo Inge krank ist?"
„Zur Sorge liegt kein Anlaß mehr vor und-und seine Reise
war auch wichtig und unaufschiebbar."
Frau Helmbrecht wunderte sich selbst, mit welchem Mut und welcher Gelassenheit sie die Lüge aussprechen konnte. An Inges Lager hatte sie sich freilich darin geübt, und es war dort wie hier eine fromme Lüge. Helmbrecht merkte darum auch nicht dar Geringste. Er war noch zu erfüllt von dem Gnadengeschenk, das der Himmel ihm der Wiedergabe seines Augenlichtes beschert hatte.
15. Dezember 1907.
Der Prof, ssor wünschte, daß er noch einige Zeit in der Klinik bliebe, und Frau Helmbrecht war sehr einverstanden damit. Der Gatte bedurfte noch in jeder Hinsicht der Schonung, und die Aufregung, der Schreck, der ihm daheim nicht erspart bleiben konnte, mußte nachteilig wirken.
Inge erholte sich langsam, aber stetig. Mit der Zunahme ihrer Kräfte kehrte aber auch die Erinnerung, zuerst aus nebelhafter Ferne, verschwommen und ungewiß zurück, aber sie fing doch an, sich zu ängstigen und aufzuregen.
Eines Tages fragte sie die Mutter, wo Hans eigentlich sei, und warum er gar nicht einmal sch iebe.
Frau Helmbrecht erschrack, obgleich sie diese Frage schon längst mit bangem Herzklopfen erwartet hatte.
„Er schrieb ja, Kind."
„Mutter, Mutter, du verbirgst mir etwas-es ist nicht so,
wie du sagst."
„Nein, täusche mich nicht länger, Mutter. Ich habe die Erinnerung an etwas Schreckenrvolles, das meiner Krankheit voraufgegangen sein muß, oder sie gar hervorgerufen hat. Ich bitte dich, sage mir alles. Fürchte nichts, ich bin stark genug, das Schwerste zu ertragen. Wo ist Hans? — Mir träumte — doch — Mutti du zitterst — du bist so bleich —"
Inge hatte sich in ihrem Bett aufgertchtet, sie nahm der Mutter Hand und sah ihr flehend in die Augen.
Ein Schwindel erfaßte Frau Helmbrecht. Sie wußte, daß jetzt die Entscheidung kam. Das Leben der Tochter hing davon ab, was sie antworten wü:de. Sie legte den Arm um sie und zog sie an sich.
„Mein liebes Kind, — versprich mir — ruhig zu sein — dich nicht aufzuregen."
Ich will ruhig sein, Mutti — nur sage mir endlich: Was ist mit Hans? — Ist es wahr, was ich zu träumen glaubte — er wollte mich verlassen — er hat — er ist —"
Frau Helmbrecht seufzte schwer auf und noch einmal versuchte sie, die Wahrheit, wenn auch nicht zu umgehen, sondern zu bemänteln.
„Er wird sich alles als unrichtig erweisen-ein Verdacht ist so
leicht erweckt."
Inge schüttelte langsam den Kopf. Ihre Augen sahen mit todestraurigem Ausdruck zur Mutter auf, und ihre Stimme klang unheimlich ruhig.
„Was hat er-getan, Mutti?"
»Inge,-ich bitte dich-frage nicht weiter."
„Doch-ich muß alles wissen, verschweige mir nichts-
die Qual tötet mich."
Da ermannte sich die Mutter und stockend, auf Umwegen erfuhr Inge die ganze Schmach und Schande. Aber sie brach diesmal nicht zusammen. In den bargen Stunden, wo sie regungslos im Bett liegen mußte, hatte sie gegrübelt und gegrübelt, und ihre Phantasie, auf der Erinnerung aufgebaut, hatte sie der Wahrheit ziemlich nahe gebracht. Darum hatte sie jetzt aus dem Munde der Mutter nicht die niederschmetternde Wirkung wie damals, als Amtsrichter Volkmann ihr von ihres Gatten Flucht und von der beabsichtigten Verhaftung desselben gesprochen hatte. Frau Helmbrecht bewunderte ih er Tochter Fassung.
„Du warst so traurig, mein Kind, als du erfuhrst, daß du nun jede Hoffnung auf ein Mutterglück aufgeben mußtest; danke Gott, daß er sie dir nahm."
Inge nickte trübe.
„Ich verstehe dich, Mntter. Und — wann ist die Gerichtsverhandlung?"
Volkmann sagte mir, in allernächster Zeit, die Untersuchung ist beendet."
„Und — — wenn er nun-schuldig befunden-wie lange
wird seine Strafe währen?"
„Ich weiß es nicht-einige Jahre gewiß; doch bis dahin bist
du frei, nichts soll dich mehr an ihn ketten, kein inneres, kein äußeres Band."
J"ge wandte sich ihr mit erstauntem Blick zu. „Was meinst du damit Mutter?"
„Eure Ehe wird geschieden werden."
„Ah," sie wurde leichenblaß, aber sie erwiederte fest: „Nein — sie wird nicht geschieden."
„Inge, wie soll ich das verstehen?"
„Meine Pflicht ist es, dann wieder zu ihm zurückzukehren. Ich habe
vor dem Altar gelobt, Freud und Leid mit ihm zu teilen, bis-der
Tod uns scheidet. Denke nur, wenn ich ihn nun noch verließe, müßte er nicht ganz zu Grunde gehen? Ich will ihn aufzurichten versuchen, ihm helfen, ein besserer Mensch zu werden. Im Grunde ist er nicht schlecht, nur leichtsinnig-glaube es mir, Mutter."
»Ja, Inge, ja-aber dein Leben, deine Stellung — denkst du
denn gar nicht an dich?"
„Wir könnten ins Ausland, vielleicht nach Amerika oder Deutsch- Afrika gehen, wo man uns nicht kennt."
„O Gott," stöhnte Frau Helmbrecht auf und: „Laß es nicht zu, daß dieser großmütige Herz ein solches Op er bringt," fügte sie innerlich hinzu.
(Fortsetzung folgt).