Samstag
Beilage zu Nr. 1S8
14. Dezember 1907.
Der verlorene Sohn.
Roman vonElSbeth Borchart.
(Fortsetzung.)
„Es ist ein Unglück geschehen — wenn ich nur erst Gewißheit hätte, wenn ich wüßte, wo ich ihn suchen sollte."
„Du bist nervös, Inge, das ist jetzt sehr natürlich, aber darum siehst du Gespenster am Hellen Tage!"
„Mein Himmel, Mutter — es klingelt, wenn er jetzt käme, oder wenn jemand mir —"
Die letzten Worte waren schon draußen gesprochen. Wie gehetzt eilte sie nach der Tür, um dem Mädchen beim Oeffnen zuvorzukommen.
Wie versteinert blieb sie stehen, als sie sich drei Herren gegenübersah.
„Wir wünschen Herrn Grunow zu sprechen," sagte der eine, ein stattlicher Mann mit strengen Gesichtszügen.
„Mein — Mann ist nicht — zu Hause," stotterte sie ganz bleich vor Schreck.
„Wo ist er?" fragte dieselbe Stimme kurz und barsch.
„Ich — weiß es nicht —"
„Ich bitte Sie, keine Ausflüchte zu machen — Sie wissen, wo Ihr Gatts ist und werden es uns sagen."
Inge war es, als wenn ihr jemand einen Schlag auf den Kopf versetzte. Sie faßte wie Hilfe suchend hinter sich und fühlte den Arm der Mutter, die ihr in den Korridor gefolgt war, sie umschlingen. Schon wollte Frau Helmbrecht für ihre halb besinnungslose Tochter antworten, als plötzlich Schritte auf der Treppe laut wurden, die Herren wandten sich unwillkürlich um.
„Bin ich doch schon zu spät gekommen?" fragte die Stimme eines Herrn die drei anderen.
„Herr Amtsrichter, wir find gekommen, um —"
„Still, still, um Gotteswillen, meine Herren, wenn seine Frau es unvorbereitet hörte —" machte Amtsrichter Volkmann erschreckt abwehrend.
„Sie steht drin, halb ohnmächtig," sagte der Polizeikommiffar jetzt ebenfalls halblaut, „sie sagte uns, er wäre nicht zu Hause."
„Nicht zu Hause? Weiß sie, was ihr bevorsteht?"
„Nein, noch nicht."
„Gottlob, ich fürchtete schon, zu spät zu kommen. Soeben erst hörte ich es vom Staatsanwalt und bin hierher gerast. Das arme junge Weib, es wäre ihr Tod, wenn sie cs unvorbereitet gerade jetzt in ihrem Zustande erfahren würde. Ich bitte Sie. meine Herren, gedulden Sie sich wenige Minuten, bis ich das schwere Werk vollbracht habe."
Inge hatte unterdes die Stimme Volkmanns erkannt und raffte sich aus ihrer Betäubung auf.
„Herr Amtsrichter, wie gut, daß Sie kommen. Was ist geschehen?"
Die furchtbare Angst, die aus ihrer Stimme klang, bewies den Herren draußen zur Genüge, daß sie es mit einer Ahnungslosen zu tun hatten. Sie ließen darum den Amtsrichter gern eintreten.
Volkmann nahm die schmale feine Hand Inges und drückte sie. „Fassen Sie sich, liebe, teure Frau — vielleicht — vielleicht doch ich bitte Sie herzlich — lassen Sie mich für einige Minuten mit Ihrer Frau Mutter allein."
„Nein, nein," wehrte Inge ab, „ich vergehe vor Angst, sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben. Es ist ein Unglück geschehen, — Hans — um der Barmherzigkeit willen sprechen Sie."
Volkmann hatte die Tür nach Grunows Arbeitszimmer geöffnet und bat die beiden Damen, dort mit ihm einzutreten. Schon waren die Dienstboten gekommen und umstanden die Gruppe mit neugierigen Blicken.
Frau Helmbrecht hielt ihre zitternde Tochter fest umschlungen.
Nachdem Volkmann die Tür sorgfältig hinter sich geschloffen, wandte er sich den Damen zu. Sein Gesicht war noch bleicher als zuvor.
„Wo ist Hans, Herr Amtsrichter?" fragte Inge.
„Das weiß ich nicht, ich glaubte, Sie — würden mir sagen können."
„Ich? — er ging gestern Abend fort und kam nicht wieder — ich denke, Sie sind gekommen, um mir Nachricht von ihm zu bringen."
„Nein — nicht dar — ich, ich — wollte Ihnen etwas anderes Mitteilen," stotterte er.
„Was?" fragte sie mit fliegendem Atem.
„Man wollte ihn heute — die drei Herren kamen, um — ihn zu verhaften."
„Ich — verstehe nicht — Herr Amtsrichter — ich —"
„Fassen Sie sich, teuerste Frau, — es ist vielleicht nur ein Irrtum — es ist möglich, daß er — unschuldig —"
„Unschuldig? — Woran?"
„An dem, was ihm zur Last gelegt wird — ich bitte Sie — fassen Sie Mut."
Frau Helmbrecht griff bestürzt nach der Hand Inges, die sich so eigentümlich schwer auf ihre Schultern legte.
„Inge, mein Gott — Inge."
Aber Inge richtete sich noch einmal mit aller Gewalt auf. Ein fast irrsinniger Ausdruck lag in ihren Augen.
„Herr Amtsrichter — Sie meinen, daß er heute fort ist — hinge
— damit zusammen?"
Volkmann, der ihre unnatürliche Ruhe für Fassung nahm, antwortete:
„Ja — ich vermute — daß er — sich dem durch eine Flucht entziehen wollte."
Ein furchtbarer Aufschrei kam von Inges Lippen. Sie griff mit den Armen einigemale in die Luft und sank darauf ohnmächtig zu Boden.
Volkmann war noch rechtzeitig hinzugesprungen, um sie vor einem Fall zu bewahren. Er nahm das leblose junge Geschöpf in seine Arme und trug es auf das Sofa.
Dann wandte er sich an die völlig gebrochene Mutter.
„Aengstigen Sie sich nicht, gnädige Frau — ich werde sofort nach einem Arzt schicken."
Damit eilte er auch schon hinaus und gab dort dem Mädchen den Auftrag, sofort nach dem Arzt zu gehen.
Die drei Herren standen noch immer wartend im Korridor.
„Was haben Sie ausgerichtet, Herr Amtsrichter?" fragte der Kom- missar.
„Der Schlag hat sie niedergeschmettert, sie war vollständig ahnungslos," gab Volkmann zur Antwort. „Holen Sie sich von dem Herrn Staatsanwalt neue Instruktionen, hier ist vorläufig nichts für Sie zu tun, meine Herren. Grunow ist seit gestern abend fort, ohne sein Ziel genannt zu haben; er muß also einen bedeutenden Vorsprung haben. Guten Morgen, meine Herren-ich habe hier noch traurige Pflichten zu erfüllen."
Als Volkmann wieder zu den Damen ins Zimmer trat, war Inge noch nicht zum Bewußtsein erwacht. Es war eine schwere Aufgabe für Volkmann, die ganz fassungslose Mutter zu trösten, und er atmete sichtlich auf, als der Arzt kam. Er war dem Mädchen auf dem Fuße gefolgt.
Als er Inge so scheinbar leblos daliegen sah, schüttelte er bedenklich den Kopf und befahl, die junge Frau sofort zu Bett zu bringen. Er selbst trug sie mit Hilfe Volkmanns in ihr Schlafzimmer und während die Mutter und das Mädchen sie aurzogen, hatte er mit Volkmann im Nebenzimmer eine kurze Besprechung.
Mit Schaudern erfuhr er die Ursache, die Volkmann nicht vorent- halten konnte und durfte. Seinen Wiederbelebungsversuchen gelang es, Inges Lebensgeister wieder zurückzurufen, doch ihr Geist blieb verwirrt und getrübt.
„Lassen Sie nur, gnädige Frau, es ist am besten so", beschwichtigte er die in Todesangst gestellten Fragen Frau Helmbrechts. „So empfindet sie das Furchtbare ihres Geschicks vorläufig wenigsten« nicht."
Es folgte nun eine Zeit der Trauer und Angst.
Inge schwebte in Todesgefahr.
Der einzige Trost für die arme gebeugte Mutter war die tatkräftige Hilfe Frau Amtsrichter Volkmanns.
Susi war sogleich an dem Schreckenstage mit ihres Gatten Ein- willigung zu der Freundin geeilt und teilte sich nun mit deren Mutter in die Pflege. Durch diese aufopferungsvolle Tat bewies sie, daß ihre Freundschaft und Liebe für Inge, die sie in der letzten Zeit der flüsternden, raunenden Stimmen wegen verborgen hatte, nicht erloschen sei.
Schon vor einigen Wochen waren Stimmen laut geworden, die einen Zweifel an Grunows Ehrenhaftigkeit aufkommen ließen. Sie waren noch immer unterdrückt worden, bis eine Untersuchung von Seiten des Staatsanwalts das belastende Material zu Tage förderte.
Wie stets bei solchen Anlässen, hatte sich die Presse mit dem Fall Grunow eingehend beschäftigt. Bis in die weitesten Kreise drang die Kunde; das Schicksal der armen, unglücklichen Frau erregte die tiefste Teilnahme und nicht der Schimmer eines Verdachts, daß sie um ihres Gatten Machenschaften gewußt, sie auch nur geahnt hatte, fiel auf sie.
Frau Helmbrecht hielt sich tapfer aufrecht, trotzdem die doppelte Sorge sie manchmal fast erdrücken wollte. In der Klinik lag der Gatte, der nicht» von den Ereignissen ahnen durfte. Was sie zuerst bitter beklagt hatte, daß sie ihn eine ganze Woche lang nicht sehen sollte, erschien ihr jetzt wie ein Segen.
Es war wenig Hoffnung, daß Inge je wieder genas. Der Arzt ver- mochte seine Sorge trotz aller Mühe, die er sich vor der Mutter gab, nicht zu verhehlen. Und als das Schlimmste eintrat, als die Stunde kam, die Inge jede Mutterhoffnung nahm, da glaubte man, daß das nur noch leise flackernde Licht bald erlöschen würde.
Aber es war anders beschlossen, als man gefürchtet hatte. Noch war das Maß der Leiden für die junge Frau nicht voll.
Das schwache Licht brannte wieder Heller, das Fieber ließ nach, die Kräfte mehrten sich. Und eines Morgens — zwei Wochen waren vergangen
— schlug Inge voll und klar die Augen auf.
(Fortsetzung folgt).