I
Samstag
Beilage z« Nr. 18«.
23. November 1907.
Der verlorene Sohn.
Roman von Elsbeth Borchart.
(Fortsetzung.)
Ein Aufschrei kam von seinen Lippen. Das Blatt entsank ihm, sein Gesicht wurde weiß — das Blut stockte in seinen Adern.
„Jngeborg Helmbrecht, Rechtsanwalt Dr. Grunow."
Schwer ächzend sank er in seinen Stuhl und vergrub sein Gesicht in beide Hände.
„Es kann nicht — es darf nicht sein. Die Vereinigung dieser beiden Menschen darf nicht stattfinden!"
Das war das einzige, war er klar denken und empfinden konnte.
„Es. kann nicht — es darf nicht! Hahaha —" Ein harter, hönisches Lachen machte seinem anfänglichen finsteren Brüten ein jähes Ende. Er sprang auf und rannte in seinem Zimmer umher.
Wie leicht es gesagt ist, dieses „es kann nicht, es darf nicht." Wer und was hatte die Macht, es zu verhindern. Er vielleicht? — Wenn er sie warnte, sie beschwörte? — Sie würde ihn für wahnsinnig oder Schlimmeres halten oder — sie würde denken — er — er —
Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, und sein Hirn arbeitete fieberhaft. Diesmal ließ ihn sein erfinderischer Geist im Stich, er fand nichts, was er als Beweis, als Grund hätte angeben können. Und das Glück der Geliebten stand auf dem Spiele. Liebte sie den Mann, dem sie sich verlobt hatte — konnte sie ihn lieben? Hatte er nicht in ihren Augen vor gar nicht langer Zeit eine andere Liebe gelesen? War es denkbar, daß ein Frauenherz so wandelbar sein konnte?
Die Flut der Gedanken, die auf ihn einstürmte, bedrückte ihn. Er mußte hinaus in die frische Luft, vielleicht daß ihm dort ein vernünftiger Gedanke käme.
Hastig griff er nach Hut und Stock und ging hinunter über den Fabrikhof nach jener Richtung zu, wo der Park lag.
In feierlichem Schweigen lag die weite, schattige Buchenallee. Kein fallendes Blatt kündete dis Nähe des Herbster, überall noch dunkles, sattes Grün. Und doch war es schon September.
Er hatte nur wenige Schritte gemacht, als er etwas Weißes durch die Bäume schimmern sah. Sein Herz begann zu schlagen. Die weiße Gestalt war Inge. Sie lehnte an der Sandsteinballustrade, die als Einfassung einiger Stufen, die nach dem Innern des Parkes führten, diente. Ihr Gesicht war ihm abgewandt. Bewegungslos stand sie und schien zu träumen.
Williams überlegte sekundenlang, ob er nicht umkehren sollte, doch mit unwillkürlicher Gewalt trieb es ihn vorwärts.
Bei dem Geräusch seiner Schritte wandte Inge sich um. Die Farbe ging aus ihrem Gesicht und ein Zittern befiel sie. Aber sie hatte sich schnell gefaßt, und als Williams vor ihr stand, zeigte fie ihm bereits ein ruhig kühles Gesicht. Daß sein Gesicht verstört, seine Augen glanzlos und trübe waren, merkte sie nicht, denn sie sah an ihm vorbei.
Eine Begegnung mußte ja noch einmal stattfinden, und es war gut, wenn das gleich am ersten Tage geschah. Sie wappnete sich dazu mit allem, was sie an gleichgültiger Kühle und Stolz besaß.
Williams zog jetzt den Hut und verbeugte sich.
„Sie gestatten, gnädiges Fräulein," das „gnädige Fräulein" wollte ihm kaum über die Lippen, „Daß ich Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrer Verlobung aurspreche."
„Danke, Mister Williams!" sie reichte ihm die Hand, eine kühle, zarte Hand.
Jetzt erst sah er ihr Gesicht voll und ganz sich zugewendet, und er erschrack heftig. War das die alte lustige Inge noch, waren dar dieselben Augen, deren süßer, schelmischer Ausdruck ihn einst so entzückt hatte? — Nein, eine andere stand vor ihm» eine Fremde, die er heute zum erstenmale zu sehen meinte. Dieses kühle verbindliche Lächeln anstatt des einstigen warmen,
frohen Lachens, dieses kalte, stolze, gemessene Wesen! Er hätte aufschreien mögen, so schmerzte ihn die Wahrnehmung. Aber wer hatte aus dem frohen Kinde dieses frühreife Weib gemacht?
Er — er allein. — Sah so eine glückliche Braut aus, mit diesem schmerzlichen Zug um den schönen Mund, dem trüben gleichgültigen Blick? Nein, ihr Lächeln, ihre Gleichgültigkeit täuschten ihn nicht.
„Fräulein Inge." Er nannte sie nun doch wieder so wie einst und hielt ihre Hand in der seinen fest. „Fräulein Inge, es kam mir so überraschend."
Hastig entzog fle ihm die Hand und verbarg damit ein Zusammenzucken ihres Körpers.
„Warum überraschend, Mister Willams?" fragte fie.
„Weil — nun, weil die Zeit so — kurz war."
„Wir waren drei Monate fort, und in dieser Zeit kann sich viel ereignen."
„Allerdings — doch — kennen Sie Ihren — Herrn Bräutigam auch schon lange?"
„Nein — er war im Juli drei Wochen in Mirdroy, dann verlobten wir uns, und er mußte nach Berlin zurückkehren."
„Drei Wochen nur?"
„Ja."
„Wie können zwei Menschen, die sich für das Leben verbinden wollen, in dieser Zeit ergründen, ob sie auch für einander passen? Verzeihen Sie mir diesen Einwurf."
„Sie vergessen, Mister Williams, daß er — eine — eine Liebe auf den ersten Blick und daß man einen Menschen in drei Wochen manchmal besser kennen lernt, als einen andern — in drei Jahren."
Williams biß sich auf die Lippen, daß es ihn schmerzte.
„Das letzte mag stimmen — das erste gibt es doch wohl nur in Romanen."
„Meine Ansicht ist anders," entgegnete fie kühl.
Er holte einige Male tief Atem und eine Pause entstand dadurch.
„Fräulein Inge — es mag wohl sonderbar au« meinem Munde klingen — die Stellung, die Ihr Herr Vater, Ihre Frau Mutter und auch Sie, Fräulein Inge, mir in Ihrem Hause, in Ihrer Familie gaben — mag mein Vorgehen entschuldigen oder rechtfertigen. Beantworten Sie mir eine Frage — ich bitte Sie inständigst darum. — Sind Sie — glücklich?"
Inge zuckte zusammen und faßte mit einer unwillkürlichen Bewegung nach ihrem Herzen, das seinen Schlag auszusetzen drohte. Was bedeutete diese Frage? Ein unnennbares GlttckSgefühl stieg in ihr auf, etwas Jubelndes. Sie zwang es mit Energie nieder; doch ihre Stimme hatte einen zitternden Klang. „Mister Williams — ich verstehe diese Frage nicht."
Seine Aufregung steigerte sich von Minute zu Minute.
„Sie meinen, ich sollte denken, daß eine Braut glücklich sein müßte? Fräulein Inge, Fräulein Inge — Sie sind nicht so glücklich, wie Sie es verdienen — Sie weichen mir aus — ich beschwöre Sie — rennen Sie nicht in Ihr Unglück — noch ist es Zeit, zurückzutreten."
Sie wurde kreidebleich, und zitternd umklammerte sie die Ballustrade.
„Sie sprechen mir in Rätseln — ich weiß nicht, was ich aus Ihrem Wesen, aus Ihren Worten machen soll.
„Sie können mich auch nicht verstehen. Vergeben Sie mir. — Meine — meine Verehrung für Sie — ich bin Ihnen zugetan wie ein Bruder» Inge — das trieb mich so weit. Ich hätte e» sonst nicht gewagt."
Wie ein Bruder! Nur diese drei Worte hatte Inge gehört, und wie ein kalter Eisstrahl überlief es fie. Warum nur wie ein Bruder — warum nur?
Ihr Stolz erwachte von neuem. Die törichte Schwäche war überwunden. Sie faltete die Hände krampfhaft ineinander.
(Fortsetzung folgt).
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