Samstag
Beilage zu Nr. SV.
8. Juni 1907
Var zischmnNchen von der Bretagne.
Von B. W. Howard.
(Fortsetzung.)
„Der verdammte Kerl!" Lo'ic's Stimme bebte vor Haß und Wut.
Die Beiden gingen abseits und flüsterten leise zusammen; als sie sich plötzlich umdrehten, wären sie fast über Nannic gestolpert.
„Willst du wohl deiner Wege gehen," rief Nodcllec barsch. „Muß ich dich denn immer auf den Fersen haben?"
„Ich folge Euch nicht — nicht Euch — nicht Euch —" sang Nannic; dann suchte er seine Schwester auf.
Erst als die Ringkämpfe vorüber waren, kam Hamor wieder in Guenns Nähe. Als er ihrer ansichtig wurde, sagte er wohlwollend: „Ich muß jetzt wirklich gehen, und meinem kleinen Modell gratulieren. Das Mädchen wird wohl ganz stolz geworden sein und nur noch auf neue Taten sinnen. Sie würde es mir niemals vergeben, wenn ich ihr nicht, gleich ihren übrigen Anbetern, meine schuldige Ehrfurcht bezeugte."
„Das ist sehr brav von Ihnen," meinte die junge Dänin. „Bitte sagen Sie ihr auch, wie sehr ich ihr Tanzen bewundert habe. War es doch gerade, als hätte sie die zwei kleinen Tanzschuhe aus Andersens Märchen an."
„Nun, Guenn," sagte Hamor herzlich und hielt ihr lächelnd die Hand entgegen, „heut ist wohl der glücklichste Tag deines Leben? So etwas wie dein Tanzen habe ich noch nie gesehen."
„Haben Sie es denn gesehen?" Guenn blickte zu Boden, und zeichnete mit dem Fuß Figuren in den Staub.
„Gesehen? Aber natürlich, jeden Schritt! Ich war so stolz auf dich und bin entzückt, daß du gesiegt hast."
„Haben Sie sich darüber gefreut?" sie schaute mit einem seltsam sehnsüchtigen Blick zu ihm auf und sprach sehr leise. Das war es ja, was ihre Seele erhofft und ersehnt hatte — aber es kam zu spät.
„Was fällt ihr jetzt ein?" überlegte Hamor. „Ist es irgend eine Grille oder die Nachwirkung der Ueberanstrengung? — Guenn" wandte er sich mit wahrhaft väterlichem Tone zu ihr, „an deiner Stelle würde ich nicht so viel umherstehen. Du mußt etwas zu dir nehmen und dich ausruhen, sonst bist du morgen zu nichts zu gebrauchen."
Sie lächelte tapfer. Er bedurfte ihrer doch wenigstens noch. „Unser Bild" hatte sie nötig, dieser eine Trost war ihr geblieben.
„Ich danke Monsieur, ich bin gar nicht müde und verspreche Ihnen auch morgen sehr hübsch für Sie auszusehen. Fürchten Sie nichts."
Hamor gesellte sich wieder zu seinen Freunden; unterwegs hielt er sich noch einen Augenblick auf, um eine Skizze von Herve Rodellec und Loic zu machen, die in eifrigem Gespräch die Köpfe zusammensteckten. „Natürlich brüten , sie Unheil für irgend jemand, aber glücklicherweise geben sie ein gutes Genrebild ab, so wie sie dort stehen. Ich bin den beiden Strolchen sehr dankbar für das neue Motiv, und für ihre interessanten Profile." Sorglos ging er weiter; auch Nannic zu zeichnen, der lang ausgestreckt nicht weit von ihnen im Grase lag und träumerisch in die Luft starrte, dazu nahm sich Hamor nicht mehr die Zeit. Rodellec sprach den Knaben an, da er aber keine Antwort erhielt, gab er es brummend auf und gebrauchte nur die Vorsicht, sich mit feinem Kumpan etwas weiter von Nannic zu entfernen und mit gedämpfter Stimme zu reden. Aber Nannic hatte sehr scharfe Ohren. „In Trevignan wird gesprengt," hörte er ganz deutlich, „einer von uns kann cs auf einem guten Pferde bequem in zwei Stunden bewerkstelligen." „Tu' du's," versetzte Rodellec, „man wird Dich weniger vermissen." Bei diesen Worten nahm Nannic's Gesicht einen eigentümlich klaren Ausdruck an; die beiden Männer berieten weiter, sie hatten den Knaben vollständig vergessen.
Die arme Guenn sehnte sich unaussprechlich nach dem stillen Atelier. Wenn nur der Tag zu Ende wäre, und die Arbeit morgen wieder begonnen. Dies Vergnügen war, nach ihrer Empfindung, nichts als harter, grausamer Schmerz. Niedergeschlagen mit wehem Herzen, ließ sie sich von Jeanne führen, wohin diese wollte. Vielleicht zum erstenmal war heute die sanfte Freundin der leitende Teil. „Wie sie stolz ist," flüsterten die eifersüchtigen Gefährtinnen untereinander, nichts ist ihr gut genug, nun sie die zwei Preise hat. Seht nur, wie sie vornehm tut! Sollte man nicht glauben, sie sei die Frau Gräfin aus dem alten Schloß, so schmachtend und verdrossen schaut sie drein."
„Guenn," raunte ihr Mutter Quaper zu und trat dicht an das junge Mädchen heran. „Guenn, nimm Dich doch zusammen, mach' Dich steif, tu' Stärke in Deinen Kübel! Das ist das wahre Wort. Sei kein solcher Waschlappen! Was Dir auch geschehen sein mag, laß es die Leute nicht merken. Daheim kann man seine Gefühle nach Belieben einweichen, vor der Welt muß alles immer steif und gestärkt aussehen."
„Wen kümmert es denn?" sagte Guenn trübselig, raffte sich aber trotzdem ein wenig in die Höhe.
„Geh herum, lache, treibe Spaß! Sei nicht so lappig! Mach' doch
die anderen Mädchen eifersüchtig! Und vor allem, laß ihn nicht merken, wie Du den Kopf hängen läßt."
Bei diesen wellklugen Worten, die dem Inhalt nach vielleicht in den höchsten Kreisen nicht anders gelautet hätten, fuhr Guenn erschrocken empor: „Ihn? Wen?"
„Du lieber Himmel, das weiß ich nicht," kicherte Mutter Quaper, „jedenfalls irgend einen nichtsnutzigen Schlingel; Du wirst bald genug einsehen, daß es ein Unsinn war, Dich um ihn zu grämen. Dahinter kommt jede Frau, früher oder später. Heut aber nimm meinen Rat an, man kennt Dich ja gar nicht wieder — mach' Dich steif, sage ich, mach' Dich steif!"
So schwer es auch für ein verliebtes Mädchen sein mag auf guten Rat zu hören, so blieb doch der Mahnruf an Guenns Stolz nicht vergebens. Sie war auf dem besten Wege sich aufzuraffen, als Nannic plötzlich neben ihr stand.
„Komm in die Kirche, sobald er in die Schenke geht; aber ohne daß er's sieht." — Nannic hatte sein geheimnißvolles Wesen abgestreift, in diesem Augenblick war er ein kluger, tatkräftiger Knabe, der einen bestimmten Zweck verfolgte. So plötzlich wie er gekommen, verschwand er auch wieder.
Rodellecs Kinder brauchten nicht lange auf die Gelegenheit zu der wünschenswerten Unterredung zu warten. Zuerst stahl sich Guenn in die leere Kirche. Die Ruhe und Stille taten ihr unglaublich wohl. Kurz darauf erschien Nannic.
„Nun, was giebt's?" fragte Guenn.
„Ich habe keine Minute zu verlieren. Ich muß wieder unten sein, wenn er herauskommt." Dann machte er hastig eine Mitteilung, die Guenn wie von einem elektrischen Schlage erbeben ließ.
„Die Feiglinge!" rief sie zornig.
„Mach' nun was du willst, nur daß kein Aufsehen entsteht!" setzte der Knabe mit philosophischer Miene hinzu.
„Der Polizsichef muß mir helfen," sagte Gurnn eifcig; ihr mattes Wesen war verschwunden, Klugheit und Scharfsinn standen ihr im Gesicht geschrieben.
„Es darf dich aber niemand mit ihm reden sehen!"
„Natürlich nicht, das versteht sich von selbst."
„Und er muß versprechen, nicht nach dem Täter zu forschen."
„Nein, nein, wir können ihn doch nicht anzeigen; die schändlichen Feiglinge!" rief sie mit grimmiger Verachtung. „Aber geh jetzt, Nannic, mach' daß du zurückkommst! Du bist ein Engel!"
„Vergiß nicht: kein Aufsehen!"
* *
*
Als Rodellec, vom Trunk erfrischt, wieder in der Dorfstraße erschien, saß Guenns Engel noch auf derselben Stelle, auf der ihn sein Vater verlassen, mit aufgestützten Armen und halbgeschlossenen Augen, geheimnisvolle Aussprüche murmelnd, und Guenns Stimme erscholl hell und klar mit den andern Mädchen im Chor; zwischen den einzelnen Strophen konnte man auch wieder ihr lustiges Lachen hören. Klang dies vielleicht auch etwas zu lustig, um ganz natürlich zu sein, so war doch niemand kritisch genug, darauf zu achten. Die Matrosen der Merls" drängten sich um sie, für jeden hatte sie ein übermütiges Scherzwort, keiner konnte ihrer Zaubergewalt widerstehen. Hamor, der vorbeiging, blickte sie lächelnd an. „Die kleine Hexe, wie sie's versteht! Aber eins ist gewiß: so reizend sie auch ist, wenn sie ruhig bleibt, sie ist noch unendlich viel reizender in der Bewegung. Noch nie habe ich solchen wechselnden Ausdruck in einem Mädchenantlitz gesehen — welche Lebenswärme, was für prächtige Farben, welche Zartheit der Umrisse! Ob man bei einer Frau unserer Gesellschaftskreise wohl das alles beisammen finden könnte? Ich glaube kaum, mit so viel Ursprünglichkeit läßt sich die Kultur nicht vereinen."
Guenn überstand den endlos langen Tag tapfer und gefaßt. Seitdem sie die Kirche verlassen, hielt ihre heitere Stimmung wieder stand. Freilich mitten unter den tollen Ausbrüchen ihrer Laune, bei der ausgelassensten Lustigkeit seufzte ihr Herz oft schmerzlich: „Will es denn gar nicht Abend werden?" Jahre schienen seit dem Hellen Morgen vergangen, an dem sie voll seliger Hoffnung hieher gekommen war. Für wie urwüchsig Hamor sie auch halten mochte, heute hatte sie ihre Rolle durchgeführt, gleich einer geübten Weltdame. Neue, bisher unbekannte Kräfte erwachten in ihr. Sie war um viele Illusionen ärmer geworden, sie fühlte sich namenlos elend, aber trotzdem gelang es ihr, heiter zu bleiben; selbst auf der Heimfahrt nach Plouvenec ertönte ihr Helles Lachen. Sah sie sich aber unbemerkt, so barg sie stöhnend den Kopf in den Händen. „Ich bin alt," seufzte sie, „ich bin heute so alt geworden, und werde niemals wieder jung sein können. Aber ich habe noch etwas zu tun heute Abend — morgen und noch manchen Tag. Wäre es nur erst morgen und ich könnte den heutigen Jammer vergessen!"
(Fortsetzung folgt.)