Calmer MsilimIilLÜ.
Dienstag Beilage z« Nr« 41. 12. März 1SV7.
Der Katechismus der Kamikie Musgrave.
(Abenteuer -es Sherlock Holmes.)
Von Conan Dohle.
(Fortsetzung.)
„Vor allem muß ich Ihnen sagen," begann er, „daß ich zwar um verheiratet bin, aber doch in Hurlstone eine zahlreiche Dienerschaft habe, denn das Schloß ist ein weitläufiger alter Bau und schwer in Ordnung zu halten. Auch ein Wildpark gehört dazu, und um die Zeit der Fasanen- jagd find alljährlich viele Gäste im Hause, so daß für genügende Bedienung gesorgt sein muß. Alles in allem hatte ich acht Dienstmädchen, den Koch, den Hausmeister, zwei Diener und einen Laufburschen. Für den Garten und die Ställe sind natürlich noch besondere Leute da.
Von allen Dienern hatten wir Brunton, den Hausmeister am längsten bei uns. Als er zuerst bei meinem Vater eintrat, war er eigentlich Schullehrer, aber ohne Stelle; durch große Umsicht und Tatkraft machte er sich bald in der Haushaltung vollständig unentbehrlich. Er ist ein schöner, junger Mann von hohem Wuchs, mit prächtiger Stirne, und wird jetzt kaum vierzig Jahre alt sein, obgleich er bereits seit zwanzig Jahren in unserem Dienste steht. Bei seinen äußeren Vorzügen und seiner ungewöhnlichen Begabung — er spricht mehrere Sprachen, ist sehr musikalisch und spielt fast alle Instrumente — ist es schwer begreiflich, wie ihm die Stellung in unserem Hause so lange genügen konnte. Er muß sich wohl zu behaglich gefühlt haben, um den Gedanken an einen Wechsel überhaupt aufkommen zu lasten. Der Hausmeister von Hurlstone machte auf meine Gäste stets einen unvergeßlichen Eindruck.
Allein, dieser Ausbund von Vortrefflichkeit hatte einen Fehler. Er war eine Art Don Juan, und Sie können sich vorstellen, daß ein Mann wie er diese Rolle in einem kleinen, stillen Landbezirk ohne Schwierigkeit durchführte.
Solange er verheiratet war, ging alles gut; aber seit er Witwer ist, kommen wir aus der Not mit ihm gar nicht heraus. Vor einigen Monaten schmeichelten wir uns mit der Hoffnung, er werde nun wieder Frieden halten, denn er verlobte sich mit dem zweiten Hausmädchen, Rahel Howells; seitdem hat er ihr aber den Lauspaß gegegeben und sich Janet Tregellis zugewandt, der Tochter des obersten Wildhüters. Rahel ist Walliserin von Geburt, ein treffliches Mädchen, aber von sehr leidenschaftlicher Gemütsart; sie verfiel in ein Nervenfieber und geht jetzt — oder ging vielmehr bis gestern, nur noch wie der Schatten von ihrem früheren Selbst im Hause umher. Das war unser erstes Trauerspiel in Hurlstone, aber bald darauf folgte ein zweites, dem die schimpfliche Entlastung des Hausmeisters Brunton voranging.
Die Sache hat sich folgendermaßen zugetragen: Ich erwähnte bereits, daß der Mann ungewöhnlich begabt war, aber gerade seine Klugheit hat ihn ins Verderben gestürzt, denn sie scheint in ihm eine unersättliche Neugier nach Dingen erzeugt zu haben, die ihn nicht im geringsten angehen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ihn das führen würde, bis der reinste Zufall mir endlich die Augen öffnete.
Letzte Woche — es war am Donnerstag, wenn Sie es ganz genau wissen wollen — konnte ich einmal nachts durchaus nicht einschlafen, weil ich törichterweise eine Taffe starken schwarzen Kaffees nach Tische getrunken hatte. Bis zwei Uhr versuchte ich es auf alle Art, da aber der Schlaf durchaus nicht kommen wollte, stand ich endlich auf und zündete mir ein Licht an, um einen angefangenen Roman weiter zu lesen. Das Buch war jedoch im Billardzimmer liegen geblieben und so zog ich denn meinen Schlafrock an und ging, es mir zu holen.
Um ins Billardzimmer zu gelangen, mußte ich in dem weitläufigen Gebäude erst eine Treppe hinunter und über den Gang gehen, der nach der Bibliothek und der Gewehrkammer führt. Nun denken Sie sich mein Erstaunen, als ich diesen Gang betrat und am Ende desselben einen Lichtschimmer gewahrte, der aus der offenen Türe der Bibliothek kam. Ehe ich zu Bette ging, hatte ich dort mit eigener Hand die Lampe gelöscht und die Tür geschloffen. Natürlich dachte ich zuerst an Einbrecher. Die Wände in den Korridoren von Hurlstone sind reich mit alten Waffen verziert; ich nahm eine Streitaxt vom Nagel, ließ mein Licht zurück, schlich auf den Zehen den Gang hinunter und blickte verstohlen durch die offene Tür hinein.
Brunton, der Hausmeister, war in der Bibliothek. Er saß ganz angezogen in einem Lehnstuhl, hatte ein Blatt Papier wie eine Karte auf seinem Knie aurgebreitet und den Kopf in die Hand gestützt, als wäre er tief in Gedanken; eine dünne Kerze, die auf dem Tisch brannte, verbreitete nur einen schwachen Schein. Ich stand stumm vor Staunen im Dunkeln da» meinen Diener beobachtend. Plötzlich erhob er sich, ging nach dem Schreibtisch an der Wand, schloß ihn auf, nahm aus einer Schublade ein Blatt Papier, kehrte damit zu seinem Sitz zurück, legte es auf den Tisch neben die Kerze und begann es mit der größten Aufmerksamkeit zu lesen. In meiner Entrüstung über sein freches Durchstöbern unserer Familienurkunden tat ich einen Schritt vorwärts. Brunton blickte auf. Als er
mich in der Türöffnung stehen sah, wurde sein Gesicht aschfahl vor Schrecken, und blitzschnell steckte er das kartenähnliche Papier, das er zuerst besichtigt hatte, in seine Brusttasche.
„Das also," rief ich, „ist Ihr Dank für das Vertrauen, welches wir in Sie gesetzt haben!" — Gleich morgen verlassen Sie meinen Dienst!
Er war wie vernichtet uud schritt mit gesenktem Kopf an mir vorüber, ohne ein Wort zu erwidern. Die Kerze brannte noch auf dem Tisch und ich warf einen Blick auf das Papier, welches Brunton aus dem Schreibtisch genommen hatte. Zu meiner Ueberraschung enthielt es gar nichts Wichtiges, sondern war nur eine Abschrift des sogenannten „Katechismus von Musgraves" mit seinen sonderbaren Fragen und Antworten, an die sich ein alter Brauch in unserer Familie knüpft, den seit Jahrhunderten jeder Musgrave bei seiner Großjährigkeit durchmachen muß. Er hat weder ein allgemeines Interesse noch irgend welchen praktischen Nutzen, außer vielleicht für den Altertumsforscher, ähnlich wie unsere Adelsschilde und Wappenbilder."
„Auf das Papier wollen wir lieber später zurückkommen," sagte ich.
„Wenn Sie für nötig halten," antwortete er zögernd. — „Ich fahre also in meinem Bericht fort: Nachdem ich den Schreibtisch, in welchem noch der Schlüssel steckte wieder zugeschloffen hatte, wollte ich eben dar Zimmer verlassen, als ich zu meiner Ueberraschung den Hausmeister wieder vor mir stehen sah.
„Herr Musgrave," sagte er und seine Stimme klang heiser vor innerer Bewegung, „ich kann die Schande nicht ertragen. Von jeher bin ich zu stolz für meinen Stand gewesen, und die Schmach überlebe ich nicht. Sie jagen mich in den Tod, Herr, glauben Sie es mir, wenn Sie mich zur Verzweiflung treiben. Können Sie mich, nach dem, war vorgefallen ist, nicht länger im Dienst behalten, so geben Sie mir eine Kündigungsfrist und lassen Sie mich nächsten Monat fortgehen, als ob ich es freiwillig täte. Vor allen Leuten, die ich so gut kenne, fortgejagt zu werden, könnte ich nicht ertragen."
„Sie verdienen durchaus keine Schonung, Brunton," entgegnete ich; „ganz ehrlos haben Sie gehandelt! Doch will ich Sie nicht der öffentlichen Schande preirgeben, weil Sie so lange in unserer Familie waren. Von einem Monat aber kann keine Rede sein. Machen Sie, daß Sie in einer Woche fortkommen, welche Gründe Sie dafür angeben wollen, gilt mir gleich."
„Nicht mehr als eine Woche, Herr?" rief er verzweiflungsvoll. „Wenigstens vierzehn Tage — gewähren Sie mir vierzehn Tage!"
„Eine Woche," wiederholte ich. „Sie sind dann noch viel zu glimpflich fortgekommen."
Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und schlich wie gebrochen hinaus; ich aber löschte dar Licht und kehrte in mein Zimmer zurück.
Während der nächsten zwei Tagen war Brunton sehr eifrig in seinem Dienst. Ich erwähnte das Vorgefallene mit keiner Silbe und wartete nicht ohne Spannung, wie er es anstellen würde, seine Schmach zu verheimlichen. Am dritten Morgen erschien er nicht wie gewöhnlich nach dem Frühstück, um meine Befehle für den Tag entgegenzunehmen. Als ich das Eßzimmer verließ, traf ich zufällig auf das Dienstmädchen Rahel Howells. Sie war, wie gesagt, erst kürzlich von einer schweren Krankheit genesen und sah so entsetzlich bleich aus, daß ich sie schalt, weil sie sich zu früh an die Arbeit begeben hatte.
„Gehen Sie gleich zu Bett," sagte ich, „und nehmen Sie Ihre Pflichten erst wieder auf, wenn Sie stark genug sind."
„Sie sah mich mit so seltsamen Blicken an, daß ich fürchtete, ihr Verstand habe gelitten."
„Ich fühle mich stark genug, Herr Musgrave," versetzte sie.
„Wir wollen sehen, was der Doktor sagt. Jedenfalls arbeiten Sie jetzt nicht weiter, und wenn Sie hinuntergehen, schicken Sie Brunton zu mir, ich will ihn sprechen."
„Der Hausmeister ist fort," sagte sie.
„Fort! Wohin?"
„Er ist fort. Niemand hat ihn gesehen. In seinem Zimmer ist er auch nicht. Jawohl, er ist fort — ganz fort". Sie lehnte sich gegen die Wand, brach in ein gräßliches Gelächter aus und verfiel dann in krampfhaftes Schluchzen. Entsetzt über diesen plötzlichen hysterischen Anfall, stürzte ich nach der Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Das Mädchen wurde noch immer schreiend und schluchzend auf ihr Zimmer gebracht und ich zog nun selbst Erkundigungen über Brunton ein. Kein Zweifel, er war verschwunden. Sein Bett fand man unberührt, und seit dem letzten Abend war er von niemand mehr gesehen worden. Wie er jedoch das Haus hatte verlassen können, blieb ein Rätsel, da sämtliche Fenster und Türen am Morgen noch fest verwahrt waren. Seine Kleider, seine Uhr, sogar sein Geld fand man im Zimmer vor, es fehlte nur der schwarze Anzug, den er gewöhnlich trug. Auch die Pantoffel waren fort und die Stiefel zurückgeblieben. Kein Mensch wußte sich zu erklären, wohin der Hausmeister in jener Nacht gegangen sein könne und was aus ihm geworden sei.
(Fortsetzung folgt.)